Von harten und weichen Kriterien

Warum die Restaurantführer ihre Kriterien genauer durchdenken sollten

die Restaurantführer Es gibt da ein großes Problem mit den Führern, das den Verantwortlichen kaum klar zu sein scheint. Man benutzt Kriterien für die Bewertungen, die Objektivität demonstrieren sollen, tatsächlich aber oft sehr schwammig oder eindeutig von der Präferenz für einen bestimmten Küchenstil geprägt sind. Das gilt sowohl für Führer, die kaum etwas über ihre Kriterien öffentlich machen (wie Michelin), wie auch für Führer, die mit großen Listen von Kriterien eine besonders differenzierte Arbeit signalisieren wollen (wie Gusto). Grundsätzlich kann man zwischen eher harten und eher weichen Kriterien unterscheiden. Die eher Harten sind solche, die quasi unumstritten scheinen (wie z.B. eine gute Produktqualität), die eher Weichen sind solche, bei denen es dezidiert andere Meinungen geben kann (wie etwa bei der Bedeutung der Anzahl von Elementen auf einem Teller). Hier ein analytischer Blick auf eine Reihe von Kriterien aus verschiedenen Führern. Die Liste ließe sich ohne weiteres fortsetzen.

Reinheit und Kraft der Aromen (Michelin, Kriterium bei drei Sternen)
„Reinheit“ von Aromen ist ein vergleichsweise hartes Kriterium, das an den Curnonsky-Satz anschließt, dass es sich dann um gute Küche handelt, wenn die Produkte so schmecken, wie sie schmecken. Obwohl dieser Satz große Schwächen hat (auf das pure Aroma von Fleisch trifft man schließlich quasi nie, sondern fast immer auf eine Veränderung durch die Garung und/oder die Aromatisierung), ist der Inhalt dieses Kriteriums weitgehend Allgemeingut. Dennoch: ein echter Aromenpurismus ist in unseren Küchen kaum anzutreffen, das Kriterium geht also an den Realitäten vorbei.

„Kraft der Aromen“ scheint ähnlich klar zu sein, ist aber ein sehr viel weicheres Kriterium. Hier wird Intensität gefordert, die in der Natur nur bei denjenigen Produkten vorhanden ist, die reich an Umami sind. „Kraft der Aromen“ und Fisch etwa verträgt sich kaum, wie überhaupt bei vielen Produkten wegen des eher wenig ausgeprägten Eigengeschmacks ein sensiblerer Umgang angesagt wäre, als dies heute oft der Fall ist. Dieses Kriterium stammt aus dem Umfeld der klassisch-französischen Küche, in der eine kräftige Würze als gut galt – auch wenn dabei das Aroma des Produktes übertüncht wurde. Es ist eine Art „Salz-und-Pfeffer-Kriterium“, das zur Beurteilung vieler moderner Küchenstile nicht geeignet ist.

Sehr intensive, klar herausgestellte Aromen in allen Komponenten (Gusto, für 9 Pfannen)
Bei diesen Kriterien gibt es eine unlogische Vermischung von Aspekten. „In allen Komponenten“ „sehr intensive“ Aromen zu haben, muss bei weitem kein besonders guter Wert sein. Ganz im Gegenteil wird sich eine sensorisch differenzierte, präzise aufeinander abgestimmte Komposition immer aus sehr unterschiedlich intensiven und entsprechend unterschiedlich wirksamen Elementen zusammensetzen. Wenn „klar herausgestellt“ mit Intensität verbunden wird (wie das hier offensichtlich der Fall ist) wird eine Art verdichteter Stil propagiert: alles laut, nichts leise, ein Wall von Eindrücken ohne Ordnung, ohne Rücksicht auf den unterschiedlich intensiven Eigengeschmack der Produkte. Eine Küche, die in diese Richtung geht, ist auf dem Weg in eine Sackgasse. Gleichwohl sind Küchen mit zu dichten, zu wenig aufeinander abgestimmten Aromen gerade in Deutschland recht weit verbreitet. Sie werden bei „Gusto“ übrigens deutlich besser bewertet, als in anderen Führern.

Balance der Kompositionen (Michelin, für drei Sterne), Sehr harmonische Kreationen (Gusto, für 9 Pfannen)
Die Vorstellung von einer „Balance“ ist ebenso wie die Vorstellung von einer „harmonischen“ Kreation Ausdruck einer eher einseitigen Sehweise, die abermals von geschmacklichen Präferenzen rund um die klassisch-französische Spitzenküche geprägt ist. Dieses Kriterium scheint spannungsreiche Kompositionen auszuschließen – zum Beispiel rund um das „kontrastierende Prinzip“, bei dem gerade Gegensätze für das Freistellen anderer Aromen oder Elemente sorgen. Der Harmonie – Begriff gehört heute in der Kochkunst zu den am wenigsten reflektierten Zuschreibungen und ist ein großes Hindernis bei der Bewertung vieler moderner Küchenstile. Wer Harmonie beurteilen will, kann dies nur vor dem Hintergrund einer klaren Vorstellung von Harmonie tun. Genau diese Vorstellung engt aber das Beurteilungsvermögen ein.

Komplexes, harmonisches Geschmacksbild (Gusto, für 9 Pfannen)
Auch der Zusatz „komplex“ ist ein sehr weiches Kriterium – in diesem Falle deshalb, weil es Komplexität als Wert an sich sieht und damit genial einfache Gerichte, die sich vielleicht auf eine ganz besondere Akkorderfindung stützen, unterbewertet. Komplexität ist also bestenfalls ein spezieller Wert, nicht aber ein allgemein gültiger und damit quasi notwendiger. Das Kriterium „komplex“ gleichzeitig mit „harmonisch“ zu verbinden, ist – siehe oben – äußerst unklar. Eine komplexe Komposition, die gleichzeitig harmonisch ist, begrenzt die Vorstellung von Komplexität ganz erheblich.

Höchste Kreativität (Gault Millau, für 17 Punkte aufwärts)
Der Begriff „Kreativität“ wird allgemein viel zu schnell und großzügig benutzt. Einer Küche „höchste Kreativität“ zuzuschreiben ist angesichts der vielen unterschiedlichen Küchenstile von vornherein schon ein Problem. Im Falle des Gault Millau könnte man anmerken, dass unter all den Restaurants, die 17 und mehr Punkte haben, nur eine winzige Anzahl überhaupt mit nennenswerter Kreativität in Verbindung gebracht werden kann. Von „höchster Kreativität“ kann man dagegen bestenfalls dann reden, wenn sie auch international von Bedeutung und Einfluss ist. Gerade die Kreativität der bei Gault Millau (gemeint ist die deutsche Ausgabe) favorisierten Köche hält sich mittlerweile eher in Grenzen.

Bestmögliche Zubereitung (Gault Millau, für 17 Punkte aufwärts)
Analog zur „höchsten Kreativität“ ist auch die Zuschreibung von „bestmöglicher Zubereitung“ eine vollkommen irrealer Versuch, handwerklichem Mittelmaß Glanz zu geben. Eine „bestmögliche“ Zubereitung kann sich nur an internationalen Qualitäten orientieren und müsste im internationalen Vergleich herausragend sein. In der Realität der von Gault Millau bewerteten Restaurants finden sich dagegen weitgehend handwerklich solide, aber nur in sehr seltenen Fällen wirklich bemerkenswert gute Zubereitungen. Es wird hier wie bei anderen Kriterien auffallend deutlich, dass man bei Gault Millau den Köchen sozusagen Honig um den Bart schmiert, um offensichtlich eine größere Akzeptanz zu erreichen. Typisch ist in diesem Zusammenhang übrigens, dass Zuordnungen wie „bestmögliche Zubereitung“ in den jeweiligen lokalen Medien gerne zitiert werden. In einem seriösen, tatsächlich kritischen Zusammenhang sollte ein solches Kriterium extrem selten Verwendung finden.

Gut, sauber, fair, regional, saisonal, frisch, authentisch und preiswert (Slow Food Genussführer, allgemeine Kriterien für die empfohlenen Restaurants)
Die Kriterien im Slow Food-Genussführer zeichnen sich durch eine ungute Verquickung von Bio-Populismus, Unklarheit und scheinbarer Selbstverständlichkeit aus. „Gut“ ist ein sehr weiches Kriterium, vor allem dann, wenn man bedenkt, dass man bei Slow Food die besten Restaurants allein wegen des Preisniveaus regelmäßig außen vor lässt. „Sauber“ ist ebenfalls völlig unklar, aber eben ein Begriff von der Art, die sofortige Zustimmung von allen Seiten erwarten lässt. Wer wollte schon „Unsauberes“ haben? Und – wenn es „sauber“ als stilistischen Begriff gibt: was ist dann das Gegenteil? Das Kriterium „fair“ ist halbwegs gefüllt, und zwar durch Begriffe wie „Fair Trade“, lässt aber wieder die Frage aufkommen, ob denn zum Beispiel die ausgeschlossenen Spitzenrestaurants etwas machen, was nicht „fair“ ist. Die Kriterien „saisonal“ und „frisch“ scheinen selbstverständlich, halten aber einer Überprüfung ebenfalls kaum Stand. Viele der von Slow Food geförderten Restaurants haben ein Angebot, das bei weitem nicht saisonal ausgerichtet ist, sondern sich den typischen Einschränkungen der bürgerlichen Küche bedient, also vor allem populäre Produkte benutzt. Auch „Frische“ ist bei weitem kein klarer Begriff. Kulinarisch gesehen gibt es zum Beispiel zwischen Frische und Vollreife ein großes Spektrum an wünschenswerten Zuständen. Alternde Gemüse oder zu jung geerntete Früchte in vielen Bio-Läden sprechen da eine ganz andere Sprache. Hier, wie vor allem beim Begriff „authentisch“ stößt man wieder sehr stark auf den Bio-Populismus, der sich einiger letztlich hohler oder noch nicht ausreichend gefüllter, populärer Begriffe des Bio-Bereiches bedient, ohne wirklich einen adäquaten Inhalt präsentieren zu können. Eine große Anzahl der von Slow Food empfohlenen Restaurants kann keinesfalls als besonders authentisch gesehen werden. Meist handelt es sich um bürgerliche Küche mit Slow Food-Aufkleber. Was zum Beispiel authentische Regionalküche ist, ist bei weitem noch nicht geklärt.

Ausschließlich herausragende, handverlesene Produkte, deren Charakter voll zur Geltung kommt (Gusto, für 10 Pfannen)
Mit diesem Kriterium verleiht der Gusto-Führer den Restaurants seiner Spitze exakt die Qualität, die sie nur in äußerst seltenen Fällen haben. Nach wie vor bedienen sich viele Küchenchefs im Großhandel und bestreiten ihre Küche mit dem, was sie bekommen können, um nicht mangels ausgesuchter Spitzenqualitäten täglich eine neue Speisekarte drucken zu müssen. Ein Musterbeispiel ist die Qualität von Krustentieren, die in Deutschland auch in Spitzenrestaurants häufig als TK-Ware eingesetzt werden oder – wie der Hummer – in einem Zustand (in Holzwolle und Styroporkisten), der in anderen Ländern überhaupt nicht erlaubt ist (in der Bretagne etwa ist ein Becken für lebende Hummer Pflicht). Gerade beim Hummer hat das dazu geführt, dass es in deutschen Spitzenrestaurants kaum jemals Zubereitungen gibt, die seinen „Charakter voll zur Geltung kommen lassen“. Durch langjährige Arbeit mit sehr guten, aber nicht herausragenden Produkten kann man im Gegenteil den Eindruck gewinnen, als ob deutsche Spitzenköche ein wenig das Maß für die wirklich großen Produktqualitäten verloren haben. Die großen Erlebnis in Sachen Produktqualität finden nach wie vor eher in anderen Ländern statt, also zum Beispiel in Frankreich oder Spanien. Aber auch skandinavischen Köche beklagen sich darüber, dass die mitteleuropäischen Tester der Führer oft nicht in der Lage sind, die Produktqualitäten typisch nordischer Produkte einzuschätzen – von der Beurteilung dessen, was japanische Spitzenköche teilweise an Qualitätsvorstellungen haben, einmal ganz abgesehen.

Wie könnte man objektiver werden?
Ein Weg zu Objektivität führt sicherlich über mehr Transparenz bei dem, was ein Führer für gut hält. Wenn er denn die Vorstellungen zum Beispiel der klassisch-französischen Spitzenküche für seinen ausschlaggebenden Maßstab hält, soll er dies sagen. Wenn er puristischere Küche bevorzugt, sollte er das nennen, ebenso, wenn er eine maximal bearbeitete Küche, die quasi keinerlei pure Produkte kennt, für das Nonplusultra der Kochkunst hält. Die verdeckte kulinarische Politik, die bei quasi allen Führern dominiert und die man auch mit vielen Worten und Kriterien oft nicht verstecken kann, ist für das qualitative Erfassen von Kochkunst nicht hilfreich.

Allgemein sollte man sich wesentlich mehr Arbeit mit einer fundierten Grundlegung der Urteile machen, mit der offensichtlich sehr viele Macher von Restaurantführern weit überfordert sind. Eine hilfreiche Zwischenlösung wäre es sicherlich, die Restaurants und Küchenstile bestimmten Sparten zuzuordnen und für diese Sparten spezifizierte Kriterien zu entwickeln – also etwa klassische Küche, mediterrane Küche, Regionalküche, Nova-Regio-Küche etc. Vielleicht würde eine solche stärkere Anbindung an die Realitäten das im Grunde oft heillos arrogante und oft genug ignorante Auftreten der Führer/Tester ein wenig im Zaun halten und verbessern.

Schreibe einen Kommentar