Wenn Minister nicht das Ganze im Auge haben. Julia Klöckner vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft und Gesundheitsminister Jens Spahn wollen kein Schulfach „Ernährung“

Julia Klöckner (Foto © Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft)

Im Zusammenhang mit den Diskussionen um Schulessen in der letzten Woche gab es von den zuständigen Ministern Julia Klöckner und Jens Spahn wieder einmal auch Ausführungen zu einem möglichen, seit langer Zeit von vielen Seiten geforderten Schulfach „Ernährung“. Die Minister halten ein Schulfach Ernährung für „nicht nötig“ und glauben, dass es ausreiche, wenn die Informationen zur Ernährung „allgemein in den Schulalltag integriert“ werden. Diese Position erscheint vordergründig politisch motiviert, nicht sachgerecht und nicht zukunftsfähig. Wie häufig in Fragen der Ernährung muss man den Eindruck gewinnen, dass die zuständigen Ministerien eine Balance zwischen Lobby-Interessen suchen (vor allem aus der Nahrungsmittelindustrie) und durch diese politische Motivation von präziseren Denkweisen und Maßnahmen abgehalten werden. Hier einige Punkte zum Thema:

Die Beschränkung auf „gesünderes“ Essen als einzige Maßnahme ist ein Herumwerkeln an Symptomen und greift zu kurz
Die Cent-Feilscherei um das, was nötig wäre, um gesünderes Schulessen zu realisieren, ist eine Farce. Selbstverständlich lässt sich ein gesünderes und attraktiveres Essen auch zu den aktuellen Preisen realisieren – vorausgesetzt die Schüler essen dann auch das, was ihnen vorgesetzt wird und geraten nicht in Panik (wie etwa bei dem Jamie-Oliver-Versuch in Großbritannien, besseres Schulessen anzubieten. Damals reichten Mütter ihren Kindern das geliebte Fastfood über den Schulzaun). Eine unzusammenhängende Beschäftigung mit dem Schulessen, die nicht berücksichtigt und thematisiert, was außerhalb der Schule passiert, ist Nonsens und wird nie mehr Zustandebringen, als ein paar Bio-Beilagen neben die Hamburger oder Würstchen zu legen. Die Minister Klöckner und Spahn greifen viel zu kurz und scheinen keinen Blick auf größere Zusammenhänge zu haben.

Es geht nicht nur ums Schulessen
Unter all den Dingen, die die Schüler kulinarisch prägen, hat das Schulessen in der heutigen, von jedem Erkenntnisgewinn meist isolierten Zustand und angesichts einer oft kargen Nutzung durch die Schüler nur eine geringe Bedeutung – ganz abgesehen davon, dass das Essen in der täglichen Praxis oft noch schlechter als sein Ruf ist. In der Realität sind Kinder und Jugendliche vor allem dem ausgesetzt, was man unter „industrieller“ Ernährung zusammenfassen kann. Diese Ernährung ist nicht nur bekanntermaßen ungesund, sondern hat auch einen hohen manipulativen Anteil. Die vielfältige Werbung spielt dabei allerdings nur eine begrenzte Rolle. Sehr viel wesentlicher ist das, was im kulinarischen Bereich im engeren Sinne passiert, nämlich eine Gewöhnung an ein denaturiertes, überwürztes Geschmacksbild, das die Kinder und Jugendlichen in eine Abhängigkeit treibt: Was nicht ebenso würzig-kräftig schmeckt, wie ihr gewohntes Pizza-, Pasta- und Hamburger-Essen, hat keine Chance mehr. So „erzogene“ Konsumenten sind die Basis für all das, was man im kulinarischen Bereich an negativen Folgen für die Person, die Gesellschaft und die Umwelt beobachten kann. Dem in der Schule nicht mit einem Fach Ernährung gegenzusteuern, ist ein Versäumnis im Range eines fehlenden Klimaschutzes.

Schüler müssen neue kulinarische Werte entdecken und ihre Genussfähigkeit ausbilden
Um zu ihren weitgehend industriell programmierten Vorlieben wenigstens Distanz gewinnen zu können, brauchen Schüler ein konsequent aufklärerisches Gegenprogramm, das sie wieder zu den Grundlagen der Ernährung und ihren gesellschaftlichen Zusammenhängen zurückführt. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Entwicklung eines Geschmacks, der den Verzehr von deutlich anderem Essen als dem gewohnten überhaupt erst möglich macht. Wer eine natürliche Frucht gegenüber künstlichen Fruchtaromen für fade hält und dem Geschmack von Gemüse oder vegetarischem Essen überhaupt nichts abgewinnen kann, ist im Grunde ein Patient, dem geholfen werden muss. Auf diese Öffnung und Erweiterung des kulinarischen Bewusstseins per Unterricht zu verzichten, ist schlicht verantwortungslos.

Der Schulalltag zeigt: Themen ohne eigenes Lehr- und Lernprogramm und ohne überprüfbare Leistungen werden nicht ernst genommen
Es gibt bereits eine Menge von Erfahrungen mit dem Herumwerkeln an Schulessen. Die Realitäten sehen leider oft vollkommen anders aus, als dies in seitenlangen Plänen der Verantwortlichen der Fall ist. Vor allem aber sagen diese Pläne nie etwas über die tatsächliche Akzeptanz von Schulessen und dem tatsächlichen Stand der Informiertheit von Schülern. Es zeigt sich bei allen Bemühungen immer wieder, dass der Bereich „Ernährung“ erst dann eine ernst zu nehmende Bedeutung bekommt, wenn er zu regelmäßigem Unterricht wird. Es ist für die Schüler ein Leichtes, bei immer wieder vorkommenden Sonderveranstaltungen Interesse zu zeigen oder auch vorzugeben. Aber gerade im kulinarischen Bereich, mit seiner erheblichen Bedeutung im Tagesablauf und für das weitere Leben der Schüler müssen besonders strikte, perfekt geplante und innovative Verfahren angewandt werden, um überhaupt zu positiven Ergebnissen zu kommen.

Kulinarisches Wissen beeinträchtigt nicht den Genuss, sondern macht ihn erst möglich
Gerade Politiker, die im kulinarischen Bereich selten durch ein besonders entwickeltes Reflexionsvermögen glänzen, verwechseln häufig die weit verbreitete Befriedigung kulinarischer Vorlieben und Abhängigkeiten mit „Genuss“. Dass diese Form des einseitig-genussreduzierten Essens Verursacher quasi aller Probleme rund ums Essen ist, scheint ihnen nicht bewusst zu sein. Gleichzeitig gehen die Bemühungen der Politik – eine paradoxe Situation – meist in eine eher technisch-naturwissenschaftliche Richtung, also ausschließlich in Richtung Gesundheit und etwaiger gesundheitlicher Gefährdungspotentiale und nicht in Richtung Genuss. Dass erst eine differenzierte Beschäftigung mit der Ernährung über eine substantielle Ausweitung der Kenntnisse und ein erheblich verändertes Verhalten rund um die Ernährung Fortschritte bringt, ist den meisten zukunftsorientiert denkenden Angehörigen des kulinarischen Bereichs bekannt, der Politik aber anscheinend nicht. In anderen Bereichen sind wir weiter – etwa beim Naturschutz. Der Denk-Rückstand der Politik in Sachen Ernährung muss dringend verbessert werde.

4 Gedanken zu „Wenn Minister nicht das Ganze im Auge haben. Julia Klöckner vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft und Gesundheitsminister Jens Spahn wollen kein Schulfach „Ernährung““

  1. Wenn ich die Rezepte meiner Tochter (7.Klasse) lese was die Schüler in dem Fach Hauswirtschaft kochen, wird das Dilemma sichtbar. Selbst bei einer klaren einfachen Salatdressing wird ein Fertiggewürzpäckchen mit angegeben, so sieht sich das durch. Wie sollen die Kinder da denn Geschmack lerne, wenn die Hauswirtschaftslehrer(-innen) dies so vorleben.

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  2. Ich kann dem ganzen nur zustimmen und bin nicht überrascht, das Politiker den Sinn nicht verstehen. Ich gebe seit Jahren Kochkurse für Kinder und Kids ab dem 6 Lebensjahr. Und was ich da bei so einigen raushöre und mitbekomme, ist erschreckend. Da muss dringend gehandelt werden, sonst gibt es irgendwann nur noch einige Geschmackslinien.
    Festgestellt habe ich, wenn die Kinder mit ihrem neu gelernten nach Hause kommen, sind einige Familien zum Umdenken gekommen und haben sich Gedanken und auch Hilfe geholt und die Ernährung umgestellt.
    Das einzige was ich als Problem sehe, das leider viel zu wenige Eltern das Problem ernst nehmen oder durch zu viel Arbeit, Freizeitstress und die schnell, schnell Mentalität vergessen, das es um die Gesundheit geht und das für die ganze Familie.

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  3. Woher sollen denn in dieser geizgeilen Republik die Pädagogen kommen, die diese Inhalte vermitteln könnten? Die heutige Lehrerschaft ist ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. Wie dem Gros unserer Politiker fehlt hier das Verständnis für Ursache, Zusammenhänge und Wirkung. In der Schule könnte das geleistet werden, was in den meisten Familien zu kurz kommt. Die Chance wird wohl vertan. Schade!

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