Ankeraromen. Wie man Traditionsküche und/oder populäre Küche zur Basis für Interpretationen in der Spitzenküche machen kann

Eines der größten Defizite der deutschen Spitzenküche (wenn man das einmal so pauschal nennen darf) ist, dass ihre Anbindung an die eigenen kulinarischen Traditionen zu schwach ist. Wir blicken nach Frankreich, Spanien, Japan, Italien usw. und sehen landestypische Ausprägungen, die nicht nur einen Besuch dort für uns hochinteressant machen, sondern auch eine ganz andere Binnenwirkung entfalten. Wenn es irgendwo in Frankreich etwas groß zu feiern gibt, weiß man wohin man gehen muss, um die Küche der Region in bester Qualität zu bekommen. Bei uns würde ein solcher Versuch meist scheitern. Bei uns beklagt man sich immer wieder über eine mangelnde gesellschaftliche Akzeptanz der guten und/oder der kreativen Küche, kommt aber kaum jemals auf die Idee, dass das Profil dessen, was hier gemacht wird, eben viel zu schief ist: bei aller individuellen Qualität unserer Köche – die ja zweifellos vorhanden ist – fehlt oft der große Zusammenhang. Neulich sagte mir einer unserer Drei Sterne-Köche, dass der Blick aus dem Ausland auf das, was die deutschen Spitzenköche kochen, immer sehr diffus ist. Man kann einfach nicht erkennen, was da die landestypische Spezifität ist, sucht sie vergebens, zuckt mit den Schultern und winkt dann leider auch oft einfach ab und wendet sich anderen Ländern zu, die interessanter erscheinen.

Ich habe diesen Zustand seit vielen Jahren beklagt und setze mich immer dafür ein, langsam einen anderen Weg einzuschlagen. Aber: dann kommen viele Köche, denken an Bratwurst mit Sauerkraut und Kartoffelpüree, an Schweinsbraten und all die Dinge, die man in unseren Regionen ja eigentlich in jeder Menge finden kann, und winken ihrerseits ab: damit könne man nicht arbeiten, das habe keine Perspektive. Und trotzdem gibt es andererseits einen beträchtlichen Teil unserer besten Köche, die sehr wohl sagen, dass man im Prinzip alle Gerichte der regionalen Traditionen zu absoluter Spitzenküche machen könne. Es gibt zum Beispiel Jan Hartwig und auf seine Weise auch Marco Müller mit hervorragenden Lösungen. In der nötigen Breite – die man braucht, um auch etwas Konkurrenzdruck zu bekommen – scheint es nach wie vor erhebliche Schwierigkeiten zu geben, wie man Mittel und Wege finden kann.

Das lässt mir seit langer Zeit keine Ruhe und ich habe mir die Sache einmal etwas systematischer angesehen. Es ist möglich, sich systematisch Lösungen anzunähern, also nicht nur „aus dem Bauch“ heraus zu arbeiten. Ich weiß, dass viele Köche dazu neigen, die Sache genau so anzugehen und das für besonders praxisnah zu halten. Das geht mir im normalen Alltagsbetrieb auch so. Systematisierungen haben aber viele Vorteile, zum Beispiel darin, dass sie eine sehr viel größere Menge an kreativ nutzbarem Material erzeugen. Meine vor vielen Jahren vorgestellte „Nova Regio – Analyse“ von Produkten war dafür ein sehr gutes Beispiel. Wenn man zu einem Produkt absolut alles notiert, was man damit kochtechnisch machen kann (also nicht nur braten, pochieren und marinieren o.ä., sondern auch trocknen, zu Asche verwandeln, fermentieren usw.) bekommt man schnell eine Unmenge von Möglichkeiten, mit denen man dann sehr viel schneller zu guten Ideen kommt. So ist es auch mit der Systematisierung, die ich hier vorschlage, die keineswegs besonders komplex, aber dafür sehr wirksam ist.

(Eine Anmerkung: dieser Text ist etwas für Kreative oder Leute, die kreativ arbeiten wollen, Leute, die kaum kochen können, können damit möglicherweise auch kaum etwas anfangen)

Die Annäherung an die Gerichte/Geschmacksbilder mit denen man sich beschäftigen will, vollzieht sich in vier Schritten:

  1. Theorie: Zusammenstellung der Ankeraromen
  2. Theorie: Fraktionierung der Ankeraromen
  3. Praxis: Spezifizierung
  4. Praxis: Individualisierung

Pfälzer Saumagen, Version Schwarzer Hahn, Deidesheim, Stefan Neugebauer

 

  1. Die Auswahl und Zusammenstellung der Ankeraromen

Zunächst etwas zum Begriff der Ankeraromen. Ich habe den Begriff gewählt, weil er die Verankerung eines jeden Gerichtes im assoziativen Kontext verdeutlicht. Es macht – vergröbert gesprochen – keinen Sinn, die Idee eines Schweinsbratens mit Kraut und Knödel so zu verarbeiten, dass kein Mensch auf die Idee kommt, dass es sich um eine Interpretation dieses Gericht handeln könnte. Eine sinnvolle Bearbeitung traditioneller und/oder populärer Gerichte in einer Küche der absoluten Spitzenklasse muss im assoziativen Kontext verankert sein, der Esser muss ganz klar die Idee haben, woher das kommt, was er da isst und dass es etwas ist, mit dem er täglich zu tun hat. Erst vor diesem Hintergrund werden sich die entsprechenden Zusammenhänge ergeben, wird klar werden, dass es nicht um Hummer und Kaviar geht, sondern um ein wundervoll kunstvolles Spiel mit dem Essen, wie es alle kennen. Die Spitzenküche wird durch diese Praxis wirklich und evident (also allgemein verständlich) zu einer Institution, die so etwas leisten kann, die zeigen kann, welche Kapazität die Ideen haben, die sich oft seit Jahrhunderten in einer Region entwickelt haben.

In der Praxis geht es bei der Zusammenstellung der Ankeraromen um ganz klare und einfache Feststellungen, um die Sammlung von Geschmacksbildern, die ganz klar, allgemein bekannt und unmissverständlich sind. Neben dem schon erwähnten Schweinebraten wären dies selbstverständlich auch die Currywurst, Pommes mit Mayonnaise, Königsberge Klopse, Maultaschen, Chili con Carne, Brathähnchen, Döner, Spaghetti Bolognese, Kutteln süß-sauer usw. usf.

Man sollte sich in jedem Falle einmal eine Liste von Dingen erstellen, die da in Frage kommen – erst einmal ruhig auch mit Beispielen aus der populären Küche jenseits der Regionalküche, um einen Blick für die wesentlichen, markanten Geschmacksbilder zu bekommen.

 

  1. Die Fraktionierung der Ankeraromen

Um eine kreative Bearbeitung zu ermöglichen und nicht etwa einfach Elemente zu zitieren (also etwa eine Kapernsauce irgendwo einzubauen), muss man sich klar machen, was man an Substanz vor sich hat. Es geht also nicht darum, ein paar originale Pommes Frites mit Mayonnaise auf den Teller zu legen und sie mit Miso, einem gelierten Dashi-Sud und Tatar vom Lamm zu begleiten, sondern Elemente zu fraktionieren, die essentiell für die Pommes mit Mayonnaise sind, also Kartoffel, Frittierung/Ausbacken in Fett mit den entsprechenden Röstnoten und bei der Mayonnaise vor allem das Prinzip der Ei – Öl Bindung plus variabler Zutaten. Theoretisch könnte man die Fraktionierung auch noch weiter betreiben, würde dann aber möglicherweise in der Bearbeitung den geschmacklichen Zusammenhang mit dem Ursprungsprodukt verlieren. – Bei Königsberger Klopsen (die ja häufiger bearbeitet werden) ist es also etwa das in einer Brühe o.ä. gekochte Hackbällchen, das mit Mehlschwitze und Kapern kombiniert wird (ev. auch noch Rote Bete dazu) hat man in einer möglichen Interpretation erkennbar einen Bezug dazu, werden die Ankeraromen ihre Wirkung tun, man wird sie identifizieren und den Zusammenhang zum Ausgangsgericht herstellen können. Die Fraktionierung liefert das Material für die weitere Arbeit und öffnet gleichzeitig das Feld für Variationen, die sich immer wieder auch im weiten Bereich der sensorischen Struktur abspielen sollten, weil sich dort, im Spiel mit Texturen und Temperaturen, Aromen verarbeiten lassen, ohne dass sie ihre Identität als Ankeraromen verlieren. Man muss sich das bewusst machen – dann wird die Zahl der Variablen schnell groß und interessant.

 

 

Aalsuppe, Jan Hartwig

 

  1. Die Spezifizierung (die individualisierte Optimierung)

Während die Punkte 1 und 2 theoretischer Natur sind und die Ermittlung von Material auch am Schreibtisch stattfinden kann, geht es bei den Punkten 3 und 4 an die Praxis, an die Bearbeitung und Erfindung. Punkt 3 ist der wohl schwierigste, weil es darum geht, den klassischen Ausgangsaromen einen Twist zu geben, der ihren Charakter nicht grundlegend verändert, aber eine optimierte und spezielle Qualität bekommt. Bei den Königsberger Klopsen wäre das dann zum Beispiel eine Beschäftigung mit dem Hackfleisch bzw. der Zusammensetzung der Masse. Viele Fassungen, die es dazu schon gibt (also etwa die exzellente Fassung von Tim Raue aus „La soupe populaire“, die er hoffentlich in seinem neuen Restaurant auf dem Berliner Fernsehturm wieder aufnimmt) oder früher Dieter Müller/Nils Henkel) haben gezeigt, dass man hier eine Menge erreichen kann, indem man den meist sehr banalen Produkten der üblichen und/oder industriellen Fassungen bestes Material, beste Anreicherungen und Würze entgegenstellt. Das schmeckt man dann sehr gut und der Charakter der Sache geht in keiner Weise verloren. Ähnliches gilt auch für die Sauce, die ja nicht unbedingt eine Mehlschwitze sein muss, um so zu schmecken, wie man es als typisch empfindet. Alle Elemente einer solchen, geplanten, hochwertigen Interpretation auf dem Niveau von absoluter Spitzenküche müssen von überragender Qualität sein. Und da müssen an dieser Stelle auch (oder gerade) hervorragende Köche aufpassen, dass sie der Sache wirklich gewachsen sind und nicht vielleicht noch etwas nacharbeiten müssen. Der Grund für diese Befürchtung ist einfach die bei vielen Spitzenköchen nicht so ausgeprägte Erfahrung mit der traditionellen/regionalen Küche. Die Erfahrung hat mich leider gelehrt, dass auch ein hervorragender Koch nicht Maximales aus dem Ärmel schütteln kann, wenn er sich mit einem Thema bisher so gut wie nie befasst hat. Da ist Bescheidenheit und Offenheit angesagt.

 

  1. Die Individualisierung

Hier scheint es dann wieder einfacher zu werden, weil gerade kreative Köche es gewohnt sind, mit aktuellen Inspirationen aller Art zu hantieren und meinen, sie könnten das dann auch auf ihre Interpretationen von Klassikern der Traditionsküche oder Regionalküche problemlos aufpfropfen. Genau das passiert auch immer wieder und das Ergebnis ist dann eher das, was man „kulinarische Gentrifizierung“ nennen könnte, Schicki-Micki-Varianten traditioneller/regionaler Gerichte, die meist alles verloren haben, was das Original auszeichnet. Während bei der Spezifizierung die Optimierung im Sinne der Tradition wie des Kreativen im Mittelpunkt steht, geht es nun um die Zusätze, Weiterführungen oder auch Interpretationen kreativer Art bis hin zu völlig neuen Elementen. Vor allem aber geht es um die sinnvolle und überzeugende Zusammenführung all dessen, was vorher eine Rolle spielte. Diese wichtigste Schlussfolgerung benötigt für überragende Ergebnisse eine ständige Rückkoppelung der Arbeit mit ihren Voraussetzungen, um – siehe oben – das Wahllos-Willkürliche zu vermeiden. Man sollte sich immer wieder fragen, ob die Ankeraromen, also die Verbindung zu den traditionellen und/oder regionalen Gerichten, die die Esser vor allem „mitnimmt“, noch vorhanden ist und ob sie deutlich genug ist.

Eine Aalsuppe wie die von Jan Hartwig (der ohnehin mit seiner hartnäckigen Arbeit in diesem Bereich in Deutschland am weitesten gekommen ist) hat gleichzeitig den Aspekt „noch nie eine so gute Aalsuppe gegessen zu haben“ wie den Aspekt großer Modernität und einer individuellen Interpretation. Das mögliche Spektrum der Gerichte bleibt trotzdem sehr groß. Man kann sich zum Beispiel eher mit der sensorischen Struktur befassen (oder auch: Dekonstruktionen, zum Beispiel wie seinerzeit Adrià mit seinem Gemüse in Geleeform), man kann sich aber auch dem aromatischen Bereich zuwenden (was schwieriger ist). Noch einmal zurück zu den Königsberger Klopsen. Da könnte man zum Beispiel eine in einer runden Form angerichtete, kalte „Terrine“ produzieren, mit Hackschichten verschiedener Provenienz und Aromatisierungen (das wird kein Problem machen…), einer gelierten Saucenschicht, getrocknete Sauce, Kapern plus getrocknete Kapern usw. usf., das Ganze dann umgeben von einem Sud aus Garum mit Sardellenstückchen und eiskalten Rote Bete-Würfeln (dieses Beispiel ist jetzt nur ganz grob und spontan entstanden). Mit den Tools, die man hier entwickeln kann (zum Beispiel über die Nova Regio – Analyse von Produkten) gewinnt man schnell viel Material, wobei das Spiel mit der sensorischen Struktur den Vorteil hat, dass die Ankeraromen im Vordergrund bleiben können und insofern die „Identitätsbildung“ sicher eintritt. Verfremdungen im Bereich von Textur und Temperatur werden nie so deutlich empfunden wie die im aromatischen Bereich – auf diese Zusammenhänge muss man auch hier, wo es um die Erstellung von neuen Interpretationen geht – noch einmal dringen hinweisen.

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