Bild und sensorische Struktur, Folge 2: Zwei Gerichte von Clare Smyth, Drei Sterne-Köchin vom „Core“ in London

Zuerst noch einmal kurz die Erinnerung an die Zusammenhänge dieser Analysen. Die sensorische Struktur, also Alles über Proportionen, Zusammenhänge und Zusammenspiel der Elemente, der Temperaturen und Texturen, hat vor allem etwas mit dem Esser zu tun. Köche suchen oft gutes Handwerk im Detail (also Produktqualitäten, Garungen etc.) und dann das gute Bild, das heute wegen der großen Bedeutung der sozialen Medien eine enorme Rolle spielt. Nur in seltenen Fällen setzen sie sich hin und essen das Gericht genau so, wie das der Gast tut – wenn sie so etwas denn überhaupt können. In diesem System schleichen sich oft Mängel oder suboptimale Verhältnisse in der sensorischen Struktur ein, und das selbst bei hochdekorierten Köchen.

In dieser Serie geht es zuerst einmal um die Grundlagen. Die Hohe Schule – also zum Beispiel die Arbeit mit geschmacklichen Räumlichkeiten oder zeitlichen Verläufen – ist deutlich komplexer.

 

Clare Smyth: Hühnerleberparfait mit geräucherter Ente und Madeira

 

Die opulente Optik täuscht gewaltig: das eigentlich Gericht ist ein sogenannter „one-biter“, also ein Snack, den man sich komplett in den Mund steckt. Solche Snacks (ich habe in meiner „Geschmacksschule“ seinerzeit Löffelgerichte benutzt) haben den großen Vorteil, dass man einen definierten Akkord bekommt, bei dem im Prinzip alles so abläuft, wie das von der Küche geplant ist. Die Proportionen liegen fest, sie können vom Esser nicht verändert werden. Bei Clare Smyth gibt es ein Leberparfait unter Beteiligung von viel Foie gras, angereichert von einer Schalotteninfusion, ein Madeira-Gelee, etwas Parmesan-Kruste, geräucherten Entenschinken, Schnittlauch, rote Oxalis-Blätter und Sauerampfer-Blüten. Es handelt sich also um eine der – vor allem vom Arbeitsaufwand her – typisch luxuriösen Kleinigkeiten, die man quasi nur in hervorragenden Restaurants bekommt.

Bei dieser Analyse geht es aber um die Optik und die sensorische Struktur. Obwohl alle Elemente festgelegt scheinen, wird es vor allem auf ein scheinbar peripheres Detail ankommen, nämlich die Wirkung des Törtchens, das als Behälter eingesetzt wird. Man wird diese Textur als erstes wahrnehmen und sie wird beim Zerkauen eine gewisse Zeit wirksam bleiben. Die weiteren Aromen und Texturen blenden auf/blenden durch, es ergibt sich eine zeitlang ein Mischgeschmack vor allem aus Teig und Parfait und Ente, bis sich dann das Aroma für den Nachhall etabliert hat. Die Proportionen scheinen hier gut zu sein, wobei es aber zum Beispiel auch noch darauf ankommt, in welchem Grad der Trocknung sich der Teig befindet. Das Optimum für den Akkord ist schwierig einzustellen. Ich habe schon häufig ähnliche Kompositionen bekommen, und sie hatten häufig schlechte Proportionen zwischen Teig und Füllung. Ähnliche Vorsicht ist hier auch bei der Ente geboten. Dicke der Scheiben und vor allem die Räuchernote können das ganze Gefüge schnell erheblich verändern. Insofern sind solche scheinbaren Kleinigkeiten nicht so einfach zu handhaben. Wenn sie perfekt gelingen, sind sie aber „Große Schule“.

Dass das kleine Törtchen nur einen kleinen Teil des Servierten ausmacht, halte ich natürlich nicht für ein Problem. Das Auge isst mit, und wenn es in dieser Form mitisst, also die Dekoration nicht im engeren Sinne kulinarisch wirksam wird, gibt es keinerlei Probleme. Im weiteren Sinne ist die Dekoration natürlich trotzdem kulinarisch. Der assoziative. Kontext wird auch durch die Deko angesprochen. Sie signalisiert Naturnähe und eine leicht herbstliche Note, passt also zum Inhalt der Tarte. Das Foto ist allerdings insofern nicht ganz gelungen, als es beim flüchtigen Hinsehen so wirkt, als ob der Zweig links in der Tarte oder unter der Tarte steckt.

Clare Smyth: Käse und Zwiebel

 

Bei diesem zweiten, ebenfalls sehr dekorativ angelegten Gericht, ist die Lage komplett anders. Die Dekoration wird hier zum integralen Bestandteil des Gerichtes, weil es sofort klar ist, dass man – ob von der Basis oder von der Oberfläche der Zwiebel her – beim Essen geradewegs in die Komposition hineinkommt. Das liegt nicht zuletzt daran, dass der Sockel des Ganzen (auf dem Bild nur knapp sichtbar) ein Zwiebelpüree ist, von dessen prägendem Geschmack man immer etwas mit aufnimmt.

Die Liste der Elemente/Zubereitungen ist lang. Es gibt ein Öl von Frühlingszwiebeln, eine Zwiebel-Consommé, ein Käse-Püree (das übrigens mit mehreren Adrià-Bindemitteln montiert wird), eine Rotweinreduktion, die großen Zwiebelhälften, gepickelte Zwiebelblätter, Zwiebelpüree, gepuffte Parmesan-Rinde, gepickelte rote Zwiebeln, frittierte Zwiebelringe und für das Finish diverse Blüten aus der Zwiebel-Knoblauch-Familie. Das Gericht ist also eines aus der Abteilung „Variation von zwei Elementen“, wobei hier klar darauf geachtet wurde, dass die Elemente auch texturell variiert werden, um einen zeitlich-räumlichen Verlauf in die Degustation zu bekommen. Eine ähnliche Struktur gibt es auch im aromatischen Bereich, wo zum Beispiel milde Cremigkeit und – wie hier – gepickelte Säure ebenfalls eine zeitlich-räumlich Geschmackswahrnehmung produzieren können. Für den Geschmack insgesamt bedeutet das vor allem ein breites Geschmacksbild, bei dem Zwiebelaromen in diversen Formen ein intensives Spiel am Gaumen entfalten können.

Um die Qualität der sensorischen Struktur einordnen zu können, muss man versuchen, die Intention eines Gerichtes zu finden (was hier nicht schwer ist) oder die optimale „Entschlüsselung“ zu ermitteln. In diesem Falle wird der Gast das Bild des Gerichtes schnell zerstören – spätestens dann, wenn er die Zwiebel anschneidet. Er wird dabei aber immer eine Variation rund um Zwiebel und Käse bekommen – mehr Zwiebel, eher weniger Käse. Ein eigenlicher Schwerpunkt ist nicht wirklich zu erkennen, weil auch die Zwiebelhälften durch diverse Elemente angereichert werden. Die kleinen Schwerpunkte/Aromenblitze werden mal mehr, mal weniger aufblenden, den variierten Eindruck aber nicht wirklich stören. Insofern sieht es hier zwar nach allerlei Dekoration und unnötig vielen Elementen aus, was aber tatsächlich nicht zutrifft.

Bei „Cheese and Onion“ überwiegt also die kulinarische Gestaltung und nicht die optische. Das Konzept dieses Gerichtes bringt es mit sich, dass es eine ganze Reihe von optisch relevanten Elementen „verträgt“, ohne irgendwie den Faden zu verlieren.

Fotos: Nathan Snoddon

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