Bringen uns Vegetarier und Veganer auf den Weg zur künstlichen Ernährung?

Vor einigen Tagen landete ich bei einer Fernsehsendung, in der ausführlich über den Stand der – sagen wir: formal fleischlosen Ernährung berichtet wurde. Es ging um einen Kongress, es gab verschiedene kurze Ausschnitte und Statements. Über Allem lag so etwas wie eine Aufbruchsstimmung, und in manchen Momenten hatte ich den Eindruck, als ob die Teilnehmer geradezu „berauscht“ von den glänzenden Zukunftsaussichten ihrer Branche waren. Da wurden „Gurus“ der Szene vorgestellt, deren Verdienst darin besteht, den Vegetariern und Veganern nach wie vor Essen zu produzieren, das auch ohne Fleisch nach Fleisch schmeckt. Einen Guru des Kunstfleisches sah man bei der Arbeit, was dann immer bedeutet, dass einige MitarbeiterInnen den neuesten Entwicklungen des Meisters begeistert applaudieren.

Angesichts dieser Szene und Szenen begann mich das Grausen zu packen und ich fing an, etwas genauer nachzudenken. Ein wenig dämmerte mir sogar eine Vorstellung, die wir aus der Politik kennen: da gibt es immer mehr Stimmen, die eine Wertgleichheit fordern, bei denen der Westen eben seine Werte hat, Andere aber andere Werte. Punkt. In diesen Systemen gibt es scheinbar keinen Bezugspunkt, auf den sich alle Menschen einigen könnten. Gleiches Recht für Alle? Ja, wenn sie auf der richtigen Seite stehen…

Die Nähe zum Kulinarischen ist bei solchen Gedanken größer als man meint. Kann man sich auch im Kulinarischen auf keine Grundwerte einigen, die eine allgemeine Gültigkeit haben? Die Attacken sind noch nicht richtig erkennbar, im Hintergrund aber längst vorhanden. Die Diskussionen werden viel wirksamer (und aus der Sicht der Kochkunst gefährlicher) sein, als wir es bisher ahnen. Und – sie gehen gegen das, was wir bisher als Kochkunst bezeichnen.

 

 

 

Ist „Natürlichkeit“ ein kulinarischer Grundwert oder nicht?

Im kulinarischen Bereich wird ja üblicherweise von Produktqualitäten und Garzeiten usw. geredet, von den ganz besonders guten Produkten, die unter ganz besonders idealen Umständen entstehen – egal ob gezüchtet oder aus der Natur entnommen. Hinter allen solchen Vorstellungen steht im Grunde ein Begriff von Natürlichkeit. Bester Boden, beste Pflanzenqualitäten, bestes Wetter und bester Erntezeitpunkt sorgen zum Beispiel für eine optimale Gemüse- oder Fruchtqualität. Analog gilt das auch für Fisch und Fleisch, wobei dem Wildfang bei Fisch aus besten Gewässern nicht vollständig Ähnliches bei Fleisch gegenübersteht. Ein Großteil stammt aus Zuchten, deren „Natürlichkeit“ eher eine Tradition ist, die sich wiederum in zwei Aspekten realisiert: der Mensch als Omnivore/Allesfresser (um diesen Begriff aus der Anthropologie zu benutzen) ist ein natürlicher Fleischfresser, der sich in der Vorzeit zu einem ganz großen Teil von Fleisch ernährt hat und diese Angewohnheit durch die Geschichte bis heute transportiert hat. Dass aus dem Jäger der kaufende Konsument wurde, hat man oft nicht im Bewußtsein und überträgt die Natürlichkeit des Fleischverzehrs dann eben auch auf die Zucht. Dass diese Zucht gleich zusammen mit dem Fleischverzehr insgesamt führ die Gegner des Verzehrs von Tieren als „unnatürlich“ diskutiert wird, hat mit eben dieser Entfremdung von einem traditionell-natürlichen Verhältnis zu Tieren und dann natürlich den diversen Auswüchsen der Zucht/Produktion von Fleisch und Co. von heute zu tun.

In der Kochkunst jedenfalls wird ein optimiertes Verfahren der Produktion von Tieren zwecks Verzehr für natürlich gehalten und – gerade in den genannten Spitzenqualitäten – geradezu für ein besonders positives Ergebnis menschlicher Zivilisation. Die in der Kochkunst gemeinte Natürlichkeit ist einer ihrer zentralen Grundwerte.

 Vegetarier und Veganer werden ihre Philosophie mit allergrößter Selbstverständlichkeit nicht für unnatürlich halten – ganz im Gegenteil. Ihr Feindbild ist zu einem wesentlichen Teil die Unnatürlichkeit und „Unmenschlichkeit“ der Fleischproduktion. Natürlich könnte man hier Einhaken und jede Form von Wild und Wildfang davon ausnehmen. Aber – das ist alles nicht so einfach und vielfach verschachtelt. Paul McCarney hat einmal gesagt, dass er nichts ißt, was ein Gesicht hat. Diese Sicht auf die Mitgeschöpflichkeit der Tiere, die man dann natürlich auch nicht essen kann, ist ein kräftiges Argument – es wirkt sehr natürlich, spricht aber in letzter Instanz allen entsprechenden anthropologischen Aspekten der Ernährung ihre Daseinsberechtigung ab. Was natürlich ist, wird kaum zu klären sein, wenn man den Begriff nicht klären kann. Ich kann nur darauf hinweisen, dass es in dieser Diskussion immer sehr kompliziert zugehen wird.

 

Wie unnatürlich ist Kunstfleisch und Fleischersatz?

Und dann kommen Vegetarier und Veganern und schaffen einen riesigen Markt für Produkte, die den offensichtlich sehr wirksam anerzogenen Fleischgeschmack ohne Fleisch reproduzieren! Methadon für Junkies, die von der Droge Fleisch loskommen wollen – könnte man auch etwas pointierter sagen. Das, soviel ist sicher, muss die Kochkunst-Seite als ein Ausbund an Unnatürlichkeit interpretieren. Man hat – also Kochkunst-Vertreter und Bio-Vegetarier-Veganer usw. – lange Zeit gemeinsam gegen allerlei Künstliches gestritten, also gegen industrielle Produkte, die mit künstlichen Aromen und Geschmacksverstärkern den industriellen Verdrängungswettbewerb gegen das Natürliche betreiben. Damals war man sich einig, dass der Kampf gegen das Unnatürliche, gegen das Erdbeereis, das so mit künstlichen Aromen gedopt ist, dass es Kindern viel besser schmeckt als jede natürliche Erdbeere – ein Kampf gegen eine übermächtige Unnatürlichkeit ist. Wo ist da der Zusammenhang? Sind die gefälschten Schein-Fleisch-Produkte etwas Anderes? Besorgen sie der Industrie jetzt nicht auch noch ein „grünes“ Mäntelchen? Die Ergebnisse sind – kulinarisch gesehen – sehr oft eine schiere Katastrophe. Sie sind keine Lösung, sondern ein neuerliches Mittel auf dem Weg in die totale Abhängigkeit von verkünstelten und künstlichen Produkten.

 

Der Weg in die reine Unnatürlichkeit

Vegetarier und Veganer werden sich anhören müssen, dass sie mit ihrem Verhalten eine ganze Industrie in Gang gesetzt haben, deren Ziel es langfristig sein dürfte – vorsichtig formuliert: immer größere Teile der Ernährung an sich zu ziehen. Dieses Ziel hat durch die überraschende, neue Nachfrage nach veganen und vegetarischen Produkten als Fleisch-Dummies einen enormen Schub bekommen. Während man sich aber bei eher traditionellen Industrie-Produkten mit den üblichen geschmacklichen Manipulationen zufrieden gab, geht es nun wesentlich stärker darum, eine reine kulinarische Kunstwelt zu erschaffen. Dies, kombiniert mit abhängig machender Überwürzung, öffnet den Weg in eine Zukunft, in der natürliche Produkte, die die Menschheit Jahrtausende lang ernährt haben, in letzter Instanz überflüssig werden. Willfährige Kunden für so etwas sind heute Vegetarier und Veganer, morgen aber auch der bequeme Mainstream.

 Zu allem Überfluss darf man auch noch damit rechnen, dass im Hintergrund eines schönen Tages die moralische Großkeule gezückt wird: Was wollt Ihr eigentlich mit Eurem abendländisch-mittelschichtigem Konsumverhalten, das Ihr „Kochkunst“ nennt? Wir haben die ganze Welt zu ernähren. Mit künstlicher Ernährung schaffen wir das! Und – wir holen die Leute auch noch da ab, wo sie sich wohlfühlen, also bei den traditionellen Aromen, die sie früher, als es noch genug und billiges Essen aus der Natur gab, so geliebt haben.

Dies alles geht komplett gegen die Kochkunst, eine uralte Kulturtechnik, die in vielen Teilen unsere Zivilisation geprägt hat und noch prägt. Will man das, in der veganen und vegetarischen Szene?

 

Wie gesagt: die Diskussion wird schwierig, aber sie muss geführt werden.

5 Gedanken zu „Bringen uns Vegetarier und Veganer auf den Weg zur künstlichen Ernährung?“

  1. Auf den Punkt getroffen. Ich bleibe aber Optimist und denke, man wird uns neben diesen ekelerregenden, unauthentischen Chemie-Produkten auch weiterhin den Genuß von Fleisch gestatten. In Form von Insekten.

    Vielleicht muß die europäische Kultur eines Tages in Asien überwintern.

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  2. Uralte Kulturtechnik vs. Fortschritt?
    Wochenmarkt vs. Marktwirtschaft?
    Beeren und Pilze vs. Dosenravioli?
    Keule vs. Argument?

    Hmmm…. Ja. Vermutlich müssen Diskussionen geführt werden. Vermutlich müssen sie das immer. Vermutlich auch hier.

    Die Frage wird aber nicht sein, was irgendeine Szene will. Auch nicht, welche Art Speisen, nach welcher Art auch immer zuzubereiten die „Richtige“ ist. Es geht sicher nicht um ein entweder oder. Es geht um Wandel. Auch Kulinarischen.

    Industrielle Nahrungs- und Genussmittelerzeugung treibt den Wandel an. Es gab schon viele solche Wandel-Wellen. Industrieweindiscounter ala Jaques mit Rotweinen ganz ohne Depot, Massentierkühltheken beim Discounter, Gewürzderivate, die regalweise saharastaubgleiche geschmacksarme Pulverbeschichtungen auf Lebensmittel ermöglichen…. Den Thermomix und die Mikrowelle erspare ich uns. Ja. Da war auch viel Mist dabei. Schlimmes ist zu befürchten. Aber eben nicht nur.

    Wem Veränderungen Angst machen ehe sie da sind, der verschließt sich auch potentiell positiven Entwicklungen und bleibt im schlimmsten Fall zurück. Eingeklemmt zwischen dem jungen Koch und einer angegilbten Escoffier-Ausgabe. Schlimmstenfalls Bewegungsunfähig, entwicklungsgehemmt und seiner ggf. früher vorhandenen gourmeteigenen Neugier beraubt…

    Schauen wir doch lieber mal. Riechen wir doch. Schmecken wir doch mal neu ab.

    Dann reden wir drüber! Nicht alles was geht, kommt. Nicht alles was kommt, wird gut sein – aber auch nicht zwingend schlecht.

    Wenn meiner Großmutter jemand erzählt hätte, was wir 2022 „abendländisch-mittelschichtig-kochkünstlerisch“ veranstalten, wär‘ Ihr vielleicht der Krauthobel auf die Kaffeemühlenkurbel gefallen…

    Ich schau‘ da ehrlich gesagt neugierig – auf Neues gierig – in die Zukunft. (Aber ich hab ja Omis Leiterwagen auch schon vor ein paar Jahren gegen ein E-Auto getauscht… Trotz aller Skepsis. Ich hab’s nicht bereut. Vielleicht hat‘s damit was zu tun.)

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    • Das empfinde ich als Ansatz erstrebenswert. Ehrlich gesagt halte ich dieses Veganerbashing für unsäglich. Der Transformationsprozess muss und er wird kommen. Das hat unterschiedliche Gründe. Der Klimawandel ist der wohl stärkste Hebel.

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      • Ich habe diesen Artikel nicht als Veganerbashing gelesen, sondern vielmehr als Mahnung, nicht der Industrie dieses Feld zu überlassen. Leider habe ich die Erfahrung gemacht, dass so mancher, kulinarisch unerfahrener Konsument, dem Trend des veganen folgend, plastikverpacktes Kunstbreifleisch verzehrte und mangels Vergleich auch noch für „sooo autentisch “ erklärte. Lieber Herr Sinziger in der Freiwilligkeit und Erkenntnis ( kommt von Kennen ) liegt die einzig nachhaltige Lösung. Ich bin bei Ihnen, wenn Sie eine Umstellung unseres Konsumverhaltens in Hinblick auf den Klimawande fordern. Nur hierbei den Nestlés und Konsorten das Feld zu überlassen, halte ich für mehr als gefährlich.

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