Casual Fine Dining konkret: Sebastian Prüßmanns Perlhuhnbrust von Jean-Claude Mièral mit wildem Brokkoli, Strauchtomaten-Sugo und Morcheln

Prolog: Wenn ein Restaurant und seine potentiellen Gäste unterschiedliche Bedürfnisse haben
In der Villa Rothschild im Königsstein im Taunus hat sich kulinarisch etwas abgespielt, das so oder ähnlich viele Hotelmanager oder -besitzer beschäftigt. Im Grunde geht es darum, dass auch eine sehr gute Küche im besten Sinne „nützlich“ sein muss, und dass sie Probleme produziert, wenn sie am Bedarf des Publikums vorbeiarbeitet.
Die Villa Rothschild ist ein vergleichsweise kleines, exklusives Hotel mit nur 22 Zimmern. Typisch ist während der Wochentage eine Belegung mit Geschäftsleuten der Geschäftsführungsebene. Solche Gäste haben natürlich genug Geld, um ein Gourmetrestaurant zu besuchen. Die Frage ist, ob sie am Ende eines harten Arbeitstages wirklich ein mehrgängiges Gourmetmenü essen wollen oder nicht doch lieber etwas weniger Aufwändiges. Gleichzeitig bekam aber die Küche der Villa unter Küchenchef Christian Eckhart zwei Michelin-Sterne. Und da konnte es vorkommen, dass die Hausgäste doch lieber ins Zentrum von Königstein auswichen und ein italienisches Restaurant besuchten…. Wohlgemerkt: Das Problem ist nicht das Geld, das Problem ist, etwas zu haben, das flexibel zu den Bedürfnissen passt.

Der Goldene Schnitt: Gut bleiben, aber näher am Gast kochen
Wenn es nicht mehr um Menüs gehen soll, könnte es ja auch um À-la-carte-Gerichte gehen. Oder doch nicht? Könnten die Gäste nicht einfach mit einem ausgeweiteten À-la-carte-Angebot zufriedengestellt werden?

Nein. Es ist der ganze „Apparat“ eines der üblichen Gourmetrestaurants, der oft nicht gewollt wird. Wer nur möglichst unproblematisch gut essen will, braucht Gerichte, die treffen und tragen, die ihm keine größeren Aufgaben stellen, die exzellent schmecken, die groß genug sind, um davon satt zu werden und auch von den Zutaten her nicht so sehr „auf Luxus getrimmt“ sind, wie man das zum Beispiel in vielen Pariser Luxusrestaurants findet – vom möglicherweise aufwändigen Service ganz zu schweigen. Solche Gäste trinken übrigens gerne eine gute Flasche Wein zum Essen und – sie können es auch wieder, weil man zu einem einzelnen Gericht mit vielleicht einer kleinen Vorspeise sehr viel einfacher einen guten Wein aussuchen kann.

Vom Essen her geht es bei den neuen Gerichten unbedingt um eine veränderte Gewichtung. Finesse ist gewünscht, exzellentes Handwerk selbstverständlich, aber es geht auch um den schon fast vergessenen Charakter des Lieblingsgerichtes, um sorgsam zusammengestellte Kompositionen genau auf der Linie zwischen Anspruch und entspanntem, reinen Vergnügen. Man soll nicht am Tisch sitzen und von einem exzellenten Hauptprodukt nur eine teelöffelgroße Portion haben. Man soll – wenn es denn gewünscht wird – mit einem Gericht komplett zufrieden sein, nicht nur von der Menge, sondern auch von der Qualität, der sensorischen Vielfalt und dem assoziativem Kontext her. Das – soviel ist klar – ist auch für routinierte Meister ihres Faches kein Selbstläufer. Es braucht Köche, die so etwas können und wollen, die keinerlei Distanz zu ihrer Arbeit haben, nicht mit Effekten spekulieren, sondern in der Lage sind, auf den Punkt zu kommen. Kulinarisch und gastronomisch gleichzeitig.

Sebastian Prüßmann und sein Perlhuhn
Das Konzept in der Villa Rothschild hat sich deutlich verändert, hin zu casual fine dining, also zu einem entspannteren, nicht so formalisierten Essen auf hohem Niveau. Mit Sebastian Prüßmann ist ein neuer Küchenchef an Bord, der hier macht, was er am liebsten macht und sich mit diesem Konzept vollständig identifizieren kann.

Ein Beispiel ist seine Perlhuhnbrust von Jean-Claude Mièral mit wildem Brokkoli, Strauchtomaten-Sugo und Morcheln.
Prüßmann verknüpft hier unterschiedliche Aspekte zu einem Ganzen, das in seiner Art ebenso überrascht wie überzeugt. Die große Perlhuhnbrust (Quelle: Otto-Gourmet) ist an der Karkasse gegart, was eine ganze Reihe von Vorteilen mit sich bringt. Einmal bleibt die Brust in Form und schrumpft nicht, was – zweitens – bei langsamerer Garung gegenüber einer ausgelösten Brust in der Pfanne für ein saftiges Ergebnis und für eine entsprechend weniger faserige Textur sorgt. Das Stück ist groß und soll als Einzelgericht funktionieren können. In der Begleitung finden sich drei unterschiedliche Aspekte. Die Begleitung durch frische Morcheln ist nicht nur jahreszeitlich bedingt, sondern auch ein Klassiker der Geflügelbegleitung. Ganz anders ist die Wirkung des Strauchtomaten-Sugo, das hier eine prächtige Würze und enorme Präsenz hat. In seiner Unmittelbarkeit zum Perlhuhn-Aroma hat es etwas von frischer, südlicher Landküche. Als drittes Element kommt wilder Brokkoli hinzu, der eine fast rohe, natürliche Anmutung hat und eine wirksame Textur mit sich bringt. Die Texturregie ist also gestaffelt von den Morcheln, die eher im Hintergrund wirken, dem kräftigen Mittelgrund durch die Tomaten und den initial wirkenden Brokkoli-Stücken. Im Verhältnis zum sensorisch längeren Fleisch ergibt sich eine dichte, sich aber nie zu stark vermischende Begleitung von großer Süffigkeit. Gleichzeitig entsteht durch die überzeugenden Garungen und die sensorische Struktur der unbedingte Eindruck von ausgetüftelter Qualität. Dieses Gericht von Sebastian Prüßmann liegt also voll auf Kurs, es hat gleichzeitig die Finesse und die souveräne Handwerklichkeit der Spitzenküche wie die Großzügigkeit und Üppigkeit der bürgerlichen Küche. Solche Gerichte können zu neuen Lieblingsgerichten werden. Sie werden sehr vielen Gästen hervorragend schmecken, egal, ob sie eher dem bürgerlichen Lager oder dem der Spitzenküche zuzurechnen sind.

Im Moment werden an vielen – auch prominenten – Stellen in der deutschen Gastronomie die kulinarischen Konzepte geändert. Diese Bewegung muss nicht zwangsläufig gegen die traditionelle oder kreative Spitzenküche gehen, sie ist eher eine sehr wichtige Ergänzung, die verhindern kann, dass sich zwischen den besten Köchen und dem Publikum eine allzu große Lücke auftut. Gleichzeitig haben die oben genannten Veränderungen aber auch das Potential, einige unnötige, von Niemandem geliebte Automatismen aus der Spitzengastronomie zu beseitigen.

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