Das „L’Anecdote“ in Montreuil-sur-mer

Auch mit seinem dritten Restaurant (nach „Froggy’s Tavern“) verfolgt der französische Kreativ-Star Alexandre Gauthier von La Grenouillère in La Madeleine-sous-Montreuil ein ungewöhnliches Konzept. Thema im L’Anecdote im Great Western Hotel in Montreuil-sur-mer ist eine „Küche der Erinnerungen“, genauer: die Küche seines Vaters Roland, der vor Alexandre lange Jahre Küchenchef im La Grenouillère war und von Michelin mit einem Stern ausgezeichnet wurde. Bei meinem Besuch in dem sehr erfolgreichen Restaurant reflektierten die Kreationen Gerichte von einer Karte des La Grenouillère aus dem Jahre 1979.

Gastronomisch hat Gauthier im L’Anecdote eine bestechende Mischung aus modernisierter historischer Bausubstanz und Bistro-Atmosphäre geschaffen – mit einer Service-Insel in der Mitte und den eng gestellten Tischen im Rechteck. Die Service-Insel ist ein zentraler Punkt, weil ein Teil der Gerichte (und nicht nur die Crêpes Suzette) vor dem Servieren flambiert wird. Preislich liegt das Restaurant in etwa im Bereich guter Brasserien.

Anekdotische Küche
Die Wiederaufnahme von Rezepten aus vergangenen Jahrzehnten macht im Grunde sehr viel Sinn, und man fragt sich, wieso es nicht längst Restaurants gibt, die zum Beispiel ausschließlich Klassiker der Kochkunst anbieten. Die nicht mehr sehr zahlreichen Stellen in Europa, an denen man klassische Gerichte in exzellenter Qualität essen kann, zeigen ganz klar, dass nicht nur beim Publikum ein Bedarf nach solchen Küchen besteht, sondern ihre Existenz eine echte kulinarische Bereicherung ist. Ein Steinbutt mit einer exzellent verstandenen Beurre blanc und sonst quasi gar nichts, wie ich sie einmal von Thomas Martin im Hamburger Jacobs Restaurant bekommen habe, ist jedenfalls unter allen möglichen Aspekten gesehen ein enorm gutes Gericht. Gute Ausführung vorausgesetzt, besteht von den Rezepturen her kein Grund, warum sie nicht Programm auch bestens bewerteter Restaurants sein sollten.

Voraussetzung auf Koch-Seite ist allerdings ein Verständnis, das man sich erarbeiten muss. Das Rezept etwa des berühmten „Saumon à l’oseille“ aus dem Hause Troisgros ist auch für routinierte Privatköche ohne weiteres nachkochbar. Dass sie den Geschmack des Originals treffen, ist dennoch unwahrscheinlich, weil sie das Geschmacksbild und seine Finessen nicht wirklich kennen. Insofern wäre heute ein solches Restaurant entweder ein Fall für Köche, die schon länger im Geschäft sind, oder für große kulinarische Talente, die in der Lage sind, solche traditionellen Geschmacksbilder zu verstehen und adäquat zu reproduzieren. Alexandre Gauthier drückt sich vorsichtig aus und redet davon, dass er von den Gerichten aus dem Jahre 1979 „inspirierte“ Kreationen präsentiert.

Beispiele aus dem L’Anecdote
Die „Ecrevisses à la nage“ sind auffallend große und angenehm fest gegarte Exemplare in einem leicht zitronigen, mit verschiedenen Kräutern angereicherten Sud. Man soll die ausgelösten Schwänze erst in den Sud tauchen und dann in einen Napf mit einer Art Mayonnaise. Es ergibt sich eine transparente, vielschichtige Aromatisierung, die durchaus nicht banal nach Fett schmeckt, also nichts mit irgendwelchen populären Produkten plus Mayonnaise zu tun hat. Dennoch bekommt man einen klaren regionalen Touch, weil hier in Nordfrankreich durchaus auch eine gewisse Ähnlichkeit zur belgisch-flämischen Küche besteht.

Eine weitere Vorspeise, „Coeur de laitue, tourteaux“ genannt (Salatherzen mit Taschenkrebs) für 11 Euro hat da schon mehr Ähnlichkeit mit einer älteren Spitzenküche. Serviert wird eine Schüssel, bei der man zuerst nur grünen Salat sieht. Unter dem Salat befindet sich eine in einem Ring angerichtete Schicht ausgelöstes Taschenkrebsfleisch. Das ist alles.

Was heute wie Brasserie-Küche pur aussieht, war tatsächlich zu damaligen Zeiten eine häufiger zu findende, purifizierte, auf den Punkt gebrachte Gourmetküche, bei der es ausreichte, beste Produkte in einer Art mini-invasiven Technik zu behandeln und zu kombinieren. Hier also sind die Salatblätter auffallend knackig frisch wie gerade eben aus dem Garten entnommen. Sie sind mit einer dezenten Vinaigrette mit begrenztem Schnittlauchanteil überzogen. Auf dem Boden findet man von dieser Vinaigrette kaum eine Spur. Auch das Taschenkrebsfleisch ist mit einer – dezent abweichenden – Vinaigrette behandelt und ebenfalls nur begrenzt gesäuert. Es ergibt sich ein produktnahes, frisch schmeckendes, unkompliziertes, aber durchaus feines Geschmacksbild.

 

Einer der Höhepunkte ist der „Merlan en croute de pain“, bei dem Gauthier ein ganz exzellentes Geschmacksbild entwickelt, das buchstäblich aller Ehren wert ist und die Berechtigung eines solchen Konzeptes mehr als bestätigt. Die Brotkruste ist nur ein Hauch von Kruste und ähnelt eher einer Souffléschicht, der Fisch natürlich von bester Qualität und mit einer festen Garung, die ihn in den Akkorden gut im Spiel hält. Er liegt auf einer Basis von Kartoffelpüree und jungem Spinat und wird von einer Sauce mit Kapern und Olivenölpunkten begleitet, die dem Ganzen eine kräftige, aber hervorragend ausgeglichene Würze gibt. Wieder wird mit frittierter, krauser Petersilie ein wenig an den flämischen Hintergrund erinnert.

Nicht ganz so prägnant fallen die „Noix de veau à la braise, mirabelles“ aus, weil hier eher eine zeitgenössische Mode als eine die Zeiten überdauernde Substanz eine Rolle spielt. Das Fleisch überzeugt weder in Garung noch Aromatisierung und insgesamt ist das Bild so süßlich, dass sich eher Erinnerungen an Geschmacksbilder zum Ende der 1990er Jahre einstellen, als ebenfalls viele Gerichte ohne Sinn für Zusammenhänge süßlich gehalten wurden.

Ein weiterer Höhepunkt sind aber die „Crêpes Suzette“, die hier im Saal vollendet werden. Sie profitieren von einem gestaffelten sensorischen Verlauf mit frischem Orangensaft und nach dem Flambieren noch einer Gabe von Orangenzesten. Der Geschmack ist sensationell gut und ganz von der oben genannten Art: Wenn klassische Rezepturen in solcher Perfektion erscheinen, gehören sie auch heute noch unbedingt zum Kanon einer hervorragenden Küche.

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