Der G-Faktor*

*(G für Gastronomie, für Genuss, hier verstanden als das Zusammenspiel aus Küche, Ambiente, Gastlichkeit und Erlebniswert für den Gast)

Die Bewertung und/oder Einstufung von Restaurants lässt mir irgendwie noch keine Ruhe. Ich lese die Restaurantführer seit Jahrzehnten und finde immer noch nur Teildaten zu einer groben Orientierung, denen man meist die Substanz eines Restaurants nicht wirklich entnehmen kann. Man kommt dann irgendwo hin, weil es eine hohe Bewertung gibt, trifft vielleicht auf eine langweilige Mainstream-Küche, sitzt in einer steifen Atmosphäre und hat nicht wirklich Vergnügen an dem Ganzen. Andererseits gibt es dann das Gegenteil: Perfektes, das die Führer aus unerfindlichen Gründen nicht zur Spitzenküche zählen, und vielleicht auch noch in einer wunderbaren Atmosphäre voller inspirierender Details.

Für den rein kulinarischen Bereich habe ich mittlerweile eine Lösung gefunden und hier ausführlich präsentiert. Mein „Malus-Bonus-System“ macht es möglich, dass ganz unterschiedliche Küchen zu ähnlichen Bewertungen kommen. Wenn die handwerkliche Basis stimmt (wozu auch die Produkte gehören), können Restaurants mit Regionalküche, verschiedene Länderküchen und vor allem kreative Restaurants genau so hohe Bewertungen bekommen wie die besten Gourmetrestaurants. Nach Bewertung der handwerklichen Qualität sind in diesem System Zuschläge für klassische Küche, regionale Küche, kreative Küche oder Länderküchen möglich. Am Ende kann zum Beispiel ein Restaurant mit perfekter Regionalküche, ein junger, sehr origineller Kreativer oder ein japanisches Restaurant genauso hoch bewertet werden wie Restaurants, die einen oder mehrere Michelin-Sterne haben.

Aber – in diesem primär kulinarisch orientierten System werden immer noch bestimmte Dinge nicht erfasst, die eine Menge mit dem Gesamterlebnis eines Restaurantbesuches zu tun haben, und die für viele Leute eine oft mindestens so große Bedeutung haben wie die kulinarische Substanz. Das kann natürlich sehr individuell ausfallen und sich insofern einer vermittelbaren Einordnung entziehen. Es gibt aber im gastronomischen Bereich offensichtlich eine ganze Reihe von Dingen, die allgemein als sehr gut, angenehm, beachtlich oder in ihrem Zusammenwirken als so besonders angesehen werden, dass sie das Profil eines Restaurants nachhaltig und allgemeinverständlich vermittelbar prägen.

Es gibt sie also, diese besonderen Restaurants, die neben ihren individuellen und als solche schon hochbeachtlichen kulinarischen Leistungen noch eine ganze Reihe weiterer Merkmale haben, die sie von anderen deutlich unterscheiden. Bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung habe ich im Jahr 2012 eine Serie begonnen, in der ich immer wieder „Das besondere Restaurant“ vorgestellt habe – mit einer Begründung, warum es sich um ein besonderes Restaurant handelt, mit dem Profil, mit der Vorstellung der Leute, die es machen, mit einer detaillierten Analyse eines Gerichtes („Telleranalyse“) und schließlich mit einer Bewertung in 9 Kategorien. Die so entstehende, vielfältige Seite ist ein sehr schönes, oft erwähntes Format geworden.

Besondere Restaurants sind seltener als man meint
Voraussetzung ist erst einmal eine sehr gute Küche – in welche Richtung auch immer. Die weiteren „Benefits“ erschließen sich vor diesem alles entscheidenden Hintergrund. Es geht also nicht um irgendwelche aufwändig zusammengekaufte Hüllen, bei denen der Inhalt nicht stimmt. Machen Sie einmal den Versuch und überlegen Sie, was Ihnen da so spontan alles einfällt. Und wenn es ein paar Namen sind, dann fragen Sie sich einmal, ob Sie auch zehn Namen zusammenbekommen. Nein, Restaurant mit einem hohen G-Faktor sind ausgesprochen selten und finden sich weder im Inland noch im Ausland wirklich häufig. Das macht sie so besonders, und das sorgt dann auch dafür, dass sie in der regel sehr viel Erfolg haben.

 

Ein hoher G-Faktor entsteht, man kann ihn nicht konstruieren

Es gibt immer wieder Versuche, Restaurants neu zu gründen, die von vornherein einen hohen G – Faktor haben. Szenerestaurants, die als Szenerestaurants konzipiert werden, obwohl sie überhaupt noch keine Szene angezogen haben, Restaurants an ganz besonderen, spektakulären Orten mit einer ganz besonders spektakulären Architektur und Innenarchitektur, oder auch Restaurants als kulinarisch besonders spektakuläre Orte, in denen man sich dann wundert, dass trotz des scheinbar so spektakulären Programms die Gäste einfach nicht kommen wollen. Im grunde entwickelt sich der G-Faktor, wenn die Voraussetzungen ideal sind. Man kann versuchen, sie zu schaffen, dabei aber nichts garantieren. Wenn ein Restaurant eröffnet, entscheidet sich oft erst danach, welches Publikum dieses Restaurant „übernimmt“: Es kann sein, das die völlig „falschen“ Gäste kommen, die alles im Sinn haben, aber nicht die Antennen für die geplante Besonderheit.

Wer hat einen hohen G-Faktor?

Es ist durchaus möglich, dass sich der hohe G-Faktor eines Restaurants nur dann ergibt, wenn man ein bestimmtes Angebot nutzt, also zum Beispiel im Zusammenhang mit bestimmten Gerichten oder Menüs, wenn man das Angebot also „richtig“ nutzt. Wer in einem Restaurant mit hervorragender Küche mal eben eine Vorspeise und ein Hauptgericht isst und dann so schnell wie möglich wieder geht, wird unter Umständen nicht erleben, was hier möglich ist. Wer also etwa im „Nagaya“ in Düsseldorf mittags nur ein paar Sushi und die Miso-Suppe isst, wird bei weitem den Eindruck verfehlen, den das große Degustationsmenü in exakt dieser Umgebung entfalten kann. Wer in der „Auberge de l’Ill“ die großen Klassiker des Hauses zu einem Menü zusammenstellt, wird die gastronomische Symbiose in diesem Haus ganz anders erleben, als ein Gast, der sich die aktuellsten und kalorienärmsten Gerichte herausgesucht hat. Hoch ist der G-Faktor zum Beispiel im Kölner „Le Moissonnier“, wo man in einem traditionellen Bistro-Ambiente mit aller Wuseligkeit exzellent kreative Küche bekommt, die zudem noch ganz spezifisch und unnachahmlich ist. Hoch ist er auch im Hamburger „Fischereihafen Restaurant“, wo sich eine ganz spezifische Mischung aller genannten G-Punkte einstellt und etwa klassische Gerichte wie die Seezunge in einem unübertroffen guten. Zustand auf den Tisch kommen. Im „Frantzén“ in Stockholm, wo man um die Küche herum sitzt und Unmengen von Details mitbekommt, gibt es auch ansonsten eine Reihe von G-Punkten. Im „Au bon pichet“ in Selestat im Elsaß kann man Klassiker in so traditioneller Form und in einem so traditionellen Umfeld bekommen, dass auch dort der Erlebnischarakter hoch ist. In der „Librije“ in Zwolle hat man alle möglichen Aspekte gleichzeitig. Andererseits haben viele Gourmetrestaurants außer ihrer kulinarischen Leistung und einem Service, der oft bis ins Details dem in vielen anderen Häusern ähnelt, in Sachen G-Faktor nicht wirklich viel zu bieten – auch wenn man das bei den Betreibern oft deutlich anders sieht.

Wenn man also das Malus-Bonus-System um den G-Faktor ergänzt, hat man einen sehr umfassenden Blick auf das, was den Gast in diesem Etablissement erwartet. Der G-Faktor hat insofern auch viel mit dem Gast zu tun, er steht für die Sicht des Nutzers, die oft eine deutlich andere als die der Betreiber ist.

2 Gedanken zu „Der G-Faktor*“

  1. hallo Herr Dollase, zwei kurze Anmerkungen dazu: Ihr Bonus-Malus-System ist leider immer noch nicht geeignet, Restaurants präziser zu werten, da es immer noch zu viele weiche Faktoren enthält und nach wie vor die individuelle Vorliebe des Kritikers Stellschraube bleibt. Wichtiger aber der *G-Faktor: lässt sich der objektivieren, sind die möglichen Kriterien, die ihn bestimmen können, überhaupt sinnvoll? Als Weinfreundin trägt bei mir eine gute Weinkarte und ein engagierter Somm sehr zum positiven Erleben eines Restaurantbesuchs bei; wäre ich abstinent, fiele dieser Faktor natürlich für mich weg. Und bekämen da nicht manche Lokale ziemlich schräge G-Faktoren? Da denke ich zb an das Borchardt in Berlin oder die ehemalige Cordobar dort, wo die meisten Besucher einfach da waren “ wegen der Promis“, der Rest des Lokals, va die Speisen und Getränke aber nix besonderes waren.

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