Gastronomisches Long-Covid?

Es läuft wieder, und es läuft nicht rund. Wer im Moment durch die Lande fährt und Restaurants besuchen will, muss sich auf eine kaum überschaubare Situation einstellen. Von den Öffnungszeiten bis zum kulinarischen Angebot scheint Vieles nicht mehr so wie früher zu sein. Mir fällt das vor allem deshalb auf, weil ich für mich üblicherweise Touren zusammenstelle und dabei im Moment ständig auf diverse Schwierigkeiten stoße. Das war immer so, aber bei weitem nicht so kompliziert, wie das im Moment der Fall ist. Der Grund liegt natürlich teilweise in der Corona-Problematik, ist aber auch Folge einer Verstärkung struktureller Fehlentwicklungen.

Ein wesentlicher Grund zum Beispiel für Kürzungen in den Öffnungszeiten und beim kulinarischen Angebot ist das Personalproblem. Ich habe in den letzten Wochen kaum einen Gastronomen gefunden, der nicht wegen Personalknappheit Einschränkungen vornehmen musste. Der eine kann nur einen Teil des Restaurants öffnen, weil er nicht genug Personal für die Betreuung aller vorhandenen Tische hat, der andere will demnächst wieder mehrere Tage „Gourmet“ anbieten, wenn denn die eine Köchin oder der andere Koch wieder zur Brigade stoßen sollte. Bei anderen läuft es nicht so recht, weil erstens Ferien sind und zweitens noch so viele potentielle Besucher im Home-Office sind, dass das wichtige Mittags- oder Feierabendgeschäft mitten in den Großstädten fast weggebrochen ist. Außerdem scheint der spontane Zugriff auf das „Sternerestaurant in der Nähe“ gelitten zu haben, zu dem man einfach geht, weil man einmal wieder gut essen will. Die Großen der Zunft klagen deutlich weniger oder haben sogar schon lange Reservierungslisten. Brasserien und Bistros sind ebenfalls eher wenig betroffen. Aber der große Bereich der oberen Mittelklasse (wozu ich auch jenen Teil der Sternerestaurants zählen möchte, in die man nicht unbedingt wegen einer speziellen Stilistik geht), hat Probleme. Und diese Probleme äußern sich in einigen Tendenzen, die nicht gut sind.

Vorab: Man muss Verständnis haben, aber…
Es ist klar, dass nicht nur die Verwerfungen durch Covid ein Grund für bestimmte Maßnahmen sind. Die Arbeitszeitregelung hat das normale gastronomische Programm schon seit einiger Zeit stark eingeschränkt, und der Schritt selbst von Spitzenrestaurants zu einer zweiten Küchenmannschaft für ein breiteres Angebot an Öffnungszeiten ist stark erschwert. – Es ist auch verständlich, wenn man nach Covid irgendwie versucht, die Umsätze durch höhere Preise zu verbessern und dabei die „Eintrittspreise“ für gute Restaurants unter anderem dadurch stark erhöht, dass man quasi nur noch Menüs anbietet und jede Form von à la carte-Essen zu verhindern versucht. Es ist auch verständlich, wenn man den Aufwand für Produkte schärfer kalkuliert und versucht, über eine möglichst kompletten Verbrauch des Einkaufs ein Maximum an Effektivität zu erreichen. All das, was betriebswirtschaftlich notwendig erscheint, ist verständlich, und die Gäste sollten eigentlich bereit sein, immer wieder einmal auch aus Solidarität auf die Gastronomie „zuzugehen“, also Verständnis zu haben. Dass sie das nicht tun werden, sondern schnell zu ihren alten Vorstellungen zurückkehren, ist ein Problem, das sich jetzt schon andeutet: wenn man einmal wieder im Restaurant sitzt, ist Covid schnell vergessen…

Aber – auch wenn man Verständnis haben sollte, muss klar werden, dass sich im Moment ein paar Dinge entwickeln, die äußerst kontraproduktiv sind und die Krise sogar noch verstärken können, weil sie sich zu weit von den Wünschen der Gäste entfernen.

Der Menüzwang ist eine Sackgasse
Man muss sich einmal vor Augen halten, wie noch vor gar nicht so langer Zeit die Funktion der Menüs war. Kern des Angebotes waren Einzelgerichte à la carte. Dazu gab es dann Menüs, in denen einige dieser Gerichte zusammengestellt waren – oft auch noch mit Wahlmöglichkeiten. So etwas gibt es heute natürlich auch noch, allerdings kaum noch in der Sterne-Gastronomie. Dem gegenüber steht heute die Entwicklung zu einem einzigen Menü, das in letzter Zeit mehr und mehr auch noch ohne jede Alternative angeboten wird. Aus Sicht des Gastes entsteht ein Zwang, und das sowohl hinsichtlich des Preises wie des Essens. Wer heute auf der Website eines Gourmetrestaurants das Angebot studiert, wird nicht selten von einem Besuch Abstand nehmen, weil es eben nur Menüs gibt. Viele Gäste haben an dieser Zwangsverpflegung kein Interesse, viele Gäste essen bestimmte Dinge nicht und finden auf den Websites keinerlei Hinweise darauf, dass man das auch ändern könnte. Es gibt auch Gäste, die gerne probieren und keine Lust haben statt Vielfalt die Einfalt eines Einheitsmenüs zu bekommen.

Mit dem Wort „Einfalt“ habe ich natürlich ein provozierendes Wort benutzt. Ich tue das mit Absicht, weil viele Menüs keine Geniestreiche sind, sondern reine Assemblagen von einigen Gerichten. Sie haben als Menü oft keine eigene Qualität, es gibt also kaum Abläufe, von denen man sagen würde, dass sie wirklich so sein müssen. Das Menü sollte ein Kunstwerk sein, bei dem Alles und Jedes durchdacht ist, und das dem Gast ein besonderes Erlebnis ermöglicht. Dies ist kaum jemals der Fall, was das Gefühl des Menüzwangs noch weiter erhöht. Hier sollte man dringend dazu übergehen, Änderungen und Öffnungen vorzunehmen. Der Gast braucht Wahlmöglichkeiten.

Mittagsangebot
Ein besonderes und sehr stark zunehmendes Ärgernis ist das Mittagsangebot vieler Restaurants. Es ist oft nicht mehr möglich, auch mittags „normale“ Gerichte zu bekommen. Was statt dessen angeboten wird, sollte bestenfalls das normale Angebot ergänzen, rückt aber zunehmend alternativlos in den Mittelpunkt. Ganz davon abgesehen riskieren die Restaurants bei einer weiteren Verbreitung des Trends zu verkürzten und verbilligten Mittagsgerichten, dass die Tester oder Kritiker entnervt von dem schwachen Mittagsangebot auch nur über diese reduzierten Gerichte schreiben (was ich nach wie vor – wenn auch mit vielen Problemen bei der Planung – zu vermeiden versuche. Bei Michelin ist man da längst nicht so pingelig…).

Öffnungszeiten
Die reduzierten Öffnungszeiten speziell bei Restaurants, die zwei- oder mehrgleisig fahren, sind mittlerweile ebenfalls ein Problem. Die Öffnungszeiten der Zweitrestaurants etc. sind ja vielleicht noch einigermaßen normal. Für „Gourmet“ bleibt oft nur ein Eckchen, zwei Tage manchmal, manchmal sogar nur ein Tag. Es entsteht auf diese Weise ein äußerst unübersichtliches Angebot, auf das sich kein Gast mehr verlassen kann. Die Ruhetage liegen willkürlich, mittags ist hier geöffnet und da nicht. Wer in Urlaub fährt tut heute gut daran, sich alle Zeiten ausführlich aufzuschreiben. Er wird kaum zwei Restaurants finden, die die gleichen Öffnungszeiten haben. Ein spontaner Entschluss zu gutem Essen wird zu einem Glücksspiel.

Wie gesagt: man muss Verständnis haben. Aber – wir waren mit der Freiheit des Angebotes und dem, was dem Gast geboten wird, schon einmal viel weiter. Dieter Müller, der alte Fuchs, hatte seinerzeit für mittags sein Amuse Bouche-Menü. Es war ein riesiger Erfolg. Man muss leider zu dem Eindruck kommen, dass viele Gastronomen, die Auszeiten nicht für Kreatives genutzt haben, sondern viel zu stark in die Defensive geraten sind.

4 Gedanken zu „Gastronomisches Long-Covid?“

  1. Keine „a la carte“ Service.
    Aber wir bieten die Auswahlmöglichkeit für die Kunden. Wir haben eine gesunde Mischung für uns und für die Kunden geschafft.

    Grundbaustein des Menüs sind immer ein Hauptgang und ein Dessert,
    dazu so viele
    kleine Gerichte wie der Appetits- und Gemütslage es gerade erfordert.
    Also, ob 3 oder 7 Gänge – bei unserem Menü-Tetris gewinnen die Gäste immer!

    Diese Umstellung nach 10 Jahre „A la Carte“ Geschäft kam erstaunlich gut bei der alten Stammkunden und bei der neuen Kunden an.

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  2. Man muss nicht unbedingt schlau sein um zu wissen dass es nie mehr so sein wird wie wir es kennen,,, Tester oder Kritiker werden eh bald in der versenkung verschwunden sein eigentlich jetzt schon weil es keinen mehr interessiert was da geschrieben wird über die Kochkunst.

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    • wichtiger, richtiger artikel von einem szeneinsider. leider wiederholt sich in der gastro das, was auch in anderen gesellschaftlich relevante bereichen passiert ist: lockdown wurde nicht im geringsten genutzt, „bewährte“ ( festgefahrene) konzepte neu zu überdenken und gegebenenfalls anders aufzugleisen , man macht lieber weiter wie bisher, das bedeutet vor allem : man wurschelt sich so irgendwie durch und wenn im herbst/winter die nächste welle kommt, steht man wieder völlig ratlos da. ist leider im schulsystem genau so.

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