Gibt es kulinarische Legastheniker? – Anmerkungen zur Rezeption der drei Michelin-Sterne für Marco Müller

Die Reaktionen auf den dritten Stern für Marco Müller vom Berliner „Rutz“ waren häufig sehr merkwürdig. Dass in regionalen Zeitungen oft nur die regionalen Auszeichnungen zitiert werden, ist ja noch normal. Dass aber auch überregionale Medien über ein so bemerkenswertes Ereignis wie den ersten dritten Stern für einen Berliner Koch nicht viel zu sagen haben, ist ungewöhnlich.

Sagen wir es so: in der Summe läuft es darauf hinaus, dass die zuständigen Redakteure etc. Marco Müller einfach nicht auf dem Schirm hatten. In spekulativen Vorschauen jedenfalls fiel sein Name so gut wie nie. Was aber macht man, wenn man den Koch nicht kennt oder über keine ausreichend frischen Informationen verfügt, um Müller und seine Arbeit einordnen zu können? Man schreibt anscheinend Irgendetwas – manchmal sogar Bizarres.

Einen neuen Drei Sterne-Koch „nicht auf dem Schirm zu haben“ ist natürlich für Fachjournalisten ein eklatanter Makel. Dann aber von einer großen Überraschung zu reden, ist blanker Unsinn. Die Auszeichnung für Müller war nur für jene Leute eine große Überraschung, die die Lage nicht überblicken, und sich statt dessen mit den üblichen Namen der üblichen Verdächtigen begnügen, also Rüffer, Raue und Co. Und – dieser Effekt findet sich nicht nur bei Fachjournalisten, sondern auch bei den Hobby-Kritikern aus den Blogs, deren größte Freude es zu sein scheint, ständig und für jedes Detail Noten zu vergeben. Da gibt es vielbesuchte Blogs, in denen der letzte Besuch bei Marco Müller für 2017 angegeben wird. Wer damals im „Rutz“ gegessen hat, hat exakt jene Phase der Entwicklung der Küche nicht mitbekommen, die jetzt offensichtlich zu der Aufwertung führte.

Besonders verquere Reaktionen sind von zwei großen, überregionalen Zeitungen zu berichten.

Neben der Zeit: Jakob Pontius versucht auf bizarre Art, seine Unkenntnis zu verstecken
In der Online-Ausgabe des „Zeit-Magazins“ versucht ein Autor namens Jakob Pontius seine scheinbar völlige Unkenntnis der Lage in einem als „Glosse“ gekennzeichneten Text zu verstecken. Darin vergleicht er Müller mit Joe Biden (Überschrift: „Der Joe Biden der Küche“) dem Anwärter der US-Demokarten auf die Präsidentschaftskandidatur. Ähnlich sei beiden, dass sie schon viele Jahre im Geschäft sind usw. Dann heißt es: 
„Beide werden gerade von Rebellen gepiesackt, die mit perfekt geölter Inszenierung in den sozialen Medien die Massen begeistern und die Revolution ausrufen. … Die Revoluzzer heißen Dylan Watson-Brawn und Billy Wagner…“

Und etwas später:
„Die professionelle Vita von Marco Müller dagegen könnte biederer kaum sein… Klar, auch Müller hat den Schuss aus Kopenhagen gehört, er kocht naturnah und zutatenfokussiert. Aber den Puritiy-Test der New-Nordic-Gläubigen würde er wohl kaum bestehen.“

Sagen wir es so, ein wenig überspitzt: Da wird ein hervorragender Kreativer, der in seiner Küche mehr Originalität hat als quasi alle deutschen Kreativen, mit Leuten verglichen, bei denen man die große Nähe zu skandinavischen Vorbildern wahrlich in vielen Details erkennen kann. So etwas kann man nur aus der Zeitung haben, von Kollegen, die ebenfalls die eigene Recherche nach Möglichkeit unterlassen, wenn es denn Informationen auch aus anderen Quellen gibt.

Da ist die „Zeit“ neben der Zeit, aber nicht als Beobachter, sondern – um im Glossen-Bild zu bleiben – wie ein alter Zug, der aus den Schienen gesprungen ist.

Die Oberlehrer sind nicht einverstanden: Bei der Süddeutschen Zeitung geht es auch immer um den Gault Millau
Durch den Text zum Thema in der „Süddeutschen Zeitung“ zieht sich ein nickeliger, immer etwas gegen Michelin gerichteter Unterton. Da heißt es zum Beispiel über die Verkündung der Sterne:
„Per Livestream vormittags binnen 20 Minuten auf Facebook zu Entspannungsmusik die Sterne zu verkünden, war in etwa so glamourös wie Erbseneintopf im Close-Up.“

Zur Beschreibung der Qualität der Arbeit von Marco Müller hat Autor Marten Rolff nichts beizutragen, sondern zitiert die Aussagen von Michelin. Dann aber kommt der Einwand gegen die Entscheidung – verpackt in Zitate aus dem Gault Millau. Dazu muss man erwähnen, dass man wohl von einer gewissen Nähe zwischen Süddeutscher Zeitung und dem Gault Millau reden muss, weil dessen Chefredakteurin Patricia Bröhm schon häufig im Blatt ihre Meinung zu diversen kulinarischen Themen ausbreiten durfte. Rolff schreibt:
„Interessanterweise war Marco Müller im selben Zeitraum von den Testern des zweiten großen Gastroführers, des Gault & Millau, abgewertet worden, auf nur noch 17 von 20 möglichen Punkten. Im Kern ging es dabei um die Frage, inwieweit ein – handwerklich und kreativ tadelloser – Koch den Stil seiner Autorenküche über die Erwartungen der Gäste und die Saisonalität stellen dürfe. Ob er zum Beispiel wie Müller im gemüsereichen Frühsommer unbedingt eingeweckte Wurzeln und gedörrte Rote Bete servieren müsse. Anders formuliert: Was ist naturnäher? Fermentierungskünste oder die Ausrichtung des Menüs an Ernteterminen?“

Der Passus mit den „Erwartungen der Gäste“ und der Frage, ob ein Koch seinen Stil über dieselben stellen dürfe, bezieht sich auf die Aussage von Marco Müller beim „Chefsache“-Kongress in Düsseldorf im letzten Herbst, wo er angemerkt hatte, die Gäste seien nicht länger König. Diese Aussage wird hier abermals gründlich missverstanden. Ich hatte bereits darauf hingewiesen, dass z.B. Robuchon gesagt hat, dass es in letzter Instanz für ihn am wichtigsten sei, dass er selber mit der Qualität eines Gerichtes zufrieden sei. Der Satz von Müller passt zudem auch gut zu Picassos Unterscheidung von Künstler und Handwerker, wonach der Handwerker macht, was er verkaufen kann, und der Künstler verkauft, was er gemacht hat. Aber das nur am Rande.

Wesentlich ist, dass Rolff hier wieder eine Oberlehrer-Aktion des GM ins Spiel bringt, also das Abstrafen von Fehlverhalten durch Punktabzug. Das gab es schon häufiger, das gibt es eigentlich immer und es ist ein ganz schlechter Weg. Es wäre überhaupt kein Problem, in einem Text auf vermeintliches Fehlverhalten ausführlich hinzuweisen, oder entsprechende Dinge zu diskutieren. Bewerten aber sollte man die Küche und sonst nichts, und schon gar nicht den Charakter des Kochs. Außerdem ist abermals zu beobachten, dass der GM einen Kritikpunkt gegen einen anscheinend „missliebigen“ Koch richtet und nicht gegen die eigenen Lieblinge. Mangelnde Saisonalität wird sich in sehr vielen Restaurants finden – auch in denen, die vom GM besonders hoch eingeschätzt werden. Der Text in der Süddeutschen Zeitung ist wohl auch deshalb so verquer, weil die Beförderung von Marco Müller dem Autor anscheinend gegen den Strich geht. Es ist eben nicht „sein“ Koch und nichts, was er fördern will. So muss man es wohl sehen.

Als Antwort für die Verwendung von gedörrter Rote Bete im Frühsommer hätte ich noch einen Vorschlag: „Das müssen wir so machen. Die brauchen so lange.“

4 Gedanken zu „Gibt es kulinarische Legastheniker? – Anmerkungen zur Rezeption der drei Michelin-Sterne für Marco Müller“

  1. Nachdem Gwendal Poullennec die gute Nachricht via Facebook verkündet hatte, war mein erster Gedanke: Wow, zum Glück musste ich dafür nicht nach Hamburg fahren. Auf meine erste zwiespältige Empfindung auf den dritten Stern für das Rutz, musste zwangsläufig eine Reaktion folgen. Die konnte nur darin bestehen, einen Tisch im Restaurant zu reservieren und mich den Inspirationen der Küche hinzugeben. Meine Buße sozusagen.

    Müllers Kreationen fordern heraus. Trotz deutlicher Reduzierung bleiben sie kompliziert. Der Gast, dem diese Gerichte einfach nur schmecken, wird zufrieden das Restaurant verlassen. Wer darüber hinaus die Gerichte versteht, geht glücklich.

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  2. Dass Spiegel online & co in diesen Zeiten ihre Prioritäten nicht ganz so auf den neuen 3 Sterner in Berlin gesetzt haben, kann man sicherlich so oder so sehen. Dass allerdings in Zeiten, in denen dem noma erneut der dritte Stern vom Guide Michelin verweigert wurde, dieser hier als progressiv abgefeiert wird, könnte man schon eher als ungewöhnlich bezeichnen. Und um sich das einmal auf der Zunge zergehen zu lassen: während das Restaurant, welches die Spitzengastronomie weltweit mit seinem radikal regionalen und saisonalen Ansatz revolutioniert hat, bei 2 Sternen rumdümpelt, haben wir nun in Berlin einen Dreisterner, der keinerlei Problem damit hat, im Winter (2020) grünen Spargel aus Chile zu servieren. Ich denke, ein wenig Stirnrunzeln ist hier erlaubt auch wenn ich dem Rutz den verdienten 3. Stern natürlich von Herzen gönne.

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    • Ihre Argumentation würde ja Sinn machen, wenn die Anzahl der vergebenen Sterne mit der Verwendung regionaler und saisonaler Produkte zu tun hätte. Hat sie aber leider nicht!

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