Ist es heute einfacher ein Sternekoch als ein guter Koch zu werden? Gedanken vor der Veröffentlichung des neuen Michelin Deutschland 2024

Die neuen Daten des Michelin-Deutschland erscheinen am Dienstag, den 26. März. Die Veranstaltung in Hamburg beginnt um 19 Uhr, und ich würde auch ganz bestimmt der Einladung gerne einmal folgen (das ist jetzt an die Presseabteilung von Michelin gerichtet – ich bin noch nie bei einer der Michelin-Veranstaltungen gewesen…), bin aber zu diesem Zeitpunkt in Südtirol. Aber – man macht sich natürlich so seine Gedanken über die Entwicklungen der Kochkunst und der Bewertungen des Guide Michelin, deren Wirkung nach wie vor unumstritten ist. Es gibt heute allerdings eine Reihe von Tendenzen, die Wachsamkeit erfordern, weil man mit bestimmten Entscheidungen pro oder contra – sagen wir: Akzente setzen kann, die gute oder weniger gute Folgen haben können.

 

(Der klassische Führer schlechthin. Optisch variiert, aber kaum verändert. Hier das von allen Händlern benutzte Bild)

 

Führer-Populismus 1: Der grüne Stern ist verständlich, sollte aber nur als Ergänzung eine Rolle spielen

Die Einführung des grünen Sterns ist ja nun schon ein paar Jahre her (2020) und man hat ein wenig Übersicht, wie er als Bewertung dasteht. Weil nun einmal feststeht, dass man dem Endprodukt auf dem Teller die „grüne“ Herkunft selbst als Spezialist kaum ansieht (was auch daran liegt, dass man für entsprechende Produkte keine irgendwie schmeckbar eigenständige Küche entwickelt hat), nähert man sich mit einer solchen Auszeichnung in Teilen gefährlich dem Weltanschaulichen. Verkürzt könnte man sagen: da wäre es möglich, dass etwas kochtechnisch banal und mittelmäßig ist, wegen der richtigen „Gesinnung“ (und zum Beispiel den entsprechend aufgeladenen Produkten) aber trotzdem einen grünen Stern erhält. Ich habe das erlebt, und es hat mich nicht gefreut. Wenn man nun dazu nimmt, dass auch der „normale“ Stern qualitativ nicht mehr ganz auf Kurs ist, hat man schon zwei „wackelige“ Aspekte, die die angenommene Qualität „Michelin-Stern“ aufweichen. Hier scheint mir für die Zukunft äußerste Vorsicht geboten, weil sich ansonsten eine verstärkte Diskussion darüber entwickeln könnte, dass der Michelin-Stern – letztlich wegen einer geringeren Gewichtung der fachlich-handwerklichen Aspekete – irgendwie keine solide Bank mehr ist. Ich habe früher vielen Leuten gesagt, dass man in einem Restaurant mit Michelin-Stern blind alles bestellen könne, es sei immer gut. Diesen Satz habe ich lange nicht mehr benutzt.

 

Konzeptküchen

Der grüne Stern ist aber nur eine Sache. Seit einiger Zeit kann man zusätzlich den Eindruck haben, als ob man sich bei Michelin von Küchen mit einem – sagen wir es neutral: theoretischen, aber in der Eigenwerbung deutlich nach vorne gefahrenen Konzept – beeindrucken lässt. Man kennt das schon seit ewigen Zeiten aus der Kunstszene, in der sehr häufig die Diskrepanz zwischen Evidenz (also einer gewissen Allgemeinverständlichkeit und allgemeinen Gültigkeit) und Anspruch/Theorie extrem hoch ist. Das führte – ich plaudere da etwas aus dem Nähkästchen – schon zu meiner Zeit an der Kunstakademie in Düsseldorf dazu, dass man quasi vom ersten Tag an dazu angehalten wurde, irgendwie viel nachzudenken und irgendwie einen „persönlichen Stil“ zu entwickeln. Wohlgemerkt: da standen dann Gestalten in den Kursen Aktzeichnen, die ihr Handwerk noch nicht einmal ansatzweise beherrschten, und sollten schon irgendwelche Hintergedanken und Theorien absondern.

Es geht bei der Kochkunst nicht primär darum, noch irgendwie die Verständlichkeit von Küche zu behalten, sondern ganz einfach darum, dass sie – übrigens ganz ähnlich wie die Musik als Handwerk – klare handwerkliche Grundlagen definiert, deren Beherrschung erst den guten Koch ausmacht. Wir haben in der Kochkunst diese Diskrepanz schon länger (wobei Ferran Adrià eigentlich mehr der handwerklichen Seite zuzuordnen wäre…), erleben aber in der letzten Zeit immer wieder geradezu schwulstige Ansammlungen von Texten über – vor allem – Natürlichkeit und Naturnähe und Regionalität, die oft in einem bedenklich großen Gegensatz zur Qualität der Küchen stehen. Die Diskussion, ob Kochen Kunst ist, kann man jederzeit führen. Ich bin schon lange der Meinung, dass sie Kunst sein kann. Tatsächlich würde die Diskussion und der Vergleich vermutlich zu der Aussage führen, dass sie die bessere Kunst im Vergleich zu anderen Künsten ist, die eben nicht auf eine so große Relevanz im Leben der Leute verweisen können. Auch insofern wäre es wichtig, dass bei den Einschätzungen der Führer (das gilt nicht nur für Michelin) heute mehr denn je darauf geachtet wird, dass kulinarisch schlichte Dinge als das gesehen werden, was sie sind. Man könnte ja – auch das wäre keine schlechte Idee – spezielle Kreativität durch eine dem grünen Stern ähnliche Auszeichnung ehren (vielleicht wäre das die langfristig die gegenüber dem grünen Stern bessere Entscheidung gewesen).

Führer-Populismus 2: Ein klarer Blick auf Qualitäten ist etwas anderes als Führer-Populismus

Die Führer wollen Einfluß haben, wollen ein klein wenig gefürchtet werden (deshalb die diversen bizarren Abwertungen), eigentlich aber geliebt werden. Außerdem brauchen sie als Geschäftsmodell massenhafte Verbreitung, deshalb ein möglichst massenhaftes Publikum, das man mit einer Art kulinarischem Populismus besser erreicht. Die schönen Bilder von immer aufsteigenden Qualitäten mit jubelnden, komplett angetretener Köche-Mengen bei der Verleihung verkaufen sich einfach besser. So etwas kann schnell zu Entscheidungen führen, die dem Wunsch nach Verbreitung des Führers geschuldet sind und nicht unbedingt dem Wunsch nach rigoroser Anwendung von Qualitätskriterien. Wir sind in Deutschland nicht etwa besser denn je (auf solche Aussagen stürzt sich dann nach der jährlichen Verleihung auch immer gerne die Presse, darauf kann man sich verlassen), sondern man ist populistischen Tendenzen auf den Leim gegangen. Ein rigoroser Blick auf kulinarische Qualitäten, der noch vor etwa 20 Jahren ganz normal war und eine Szene von großer Zuverlässigkeit erzeugt hatte, ist heute von einer Szenerie abgelöst worden, von der man – ich fasse hier ein paar Aussagen guter Köche zusammen – salopp sagen könnte: es ist einfacher ein Sternekoch zu werden als ein guter Koch.

Eine wichtige begriffliche Trennung für eine sachgerechte Bewertung: Avantgarde und State-of-the-Art-Küche

Die Kochkunst hat gegenüber anderen Künsten eine Besonderheit, die besondere Wertschätzung verdient: sie hat Könner, deren Küche man die Qualität „State-of-the-Art“zurechnen kann und muß. In der Kochkunst bedeutet das, dass man alles das, was bis heute zu den wichtigen Säulen der Kunst gehört, beherrscht, nicht vergisst und für die eigene Arbeit nutzt. Wer auf eine so zustande gekommene Küche blickt, findet alles wieder: die überragenden Produkte, die Garzeiten, Kochtechniken – aber auch speziellen Reize, die erst in den letzten Jahren „entdeckt“ wurden. Es versteht sich von selber, dass eine solche Küche nur von ganz exzellenten Köchen realisiert werden kann, die unbedingt zu den Besten des Faches gehören. Bei uns gehören zweifellos – nur zum Beispiel – Jan Hartwig, Joachim Wissler, Christian Bau (auch mit seiner stärkeren Konzentration auf die japanische Küche) oder Marco Müller in diese Kategorie, mit kleinen Einschränkungen der klassischer orientierte Torsten Michel und eigentlich weniger der sehr klassisch orientierte Clemens Rambichler. Diesen Vorbildern in der ersten Reihe folgen natürlich weitere mit gewissen qualitativen und/oder konzeptionellen Einschränkungen.

Klar unterscheiden sollte man die State-of-the-Art-Küche von der Avantgarde. Die Avantgarde treibt Entwicklungen vorwärts, schafft neue Details und kann durchaus eine enorme Wirkung und Bedeutung entfalten, die für die Kochkunst von großer Bedeutung ist. Wenn man sie bewertet, sollte man allerdings immer im Auge behalten, dass auch eher schwache Köche einzelne gute Ideen haben können und dass Gerichte innovativ sein können, gleichzeitig aber auch nach allen Regeln der Kunst nicht besonders gut. An dieser Stelle sollte man bei Bewertungen sehr vorsichtig sein und nicht auf die allfälligen, meist medial verstärkten Meinungsströme „hereinfallen“, sondern bewerten, inwieweit die Gewichtung zwischen neuer Idee und „State-of-the-Art“ sich positiv oder auch negativ auswirkt. Es gibt viele Fälle der Überbewertung von Ideen, aber auch Fälle gravierender Unterbewertung von Ideen, weil man ihre Qualität vor dem Hintergrund des „State-of-.the-Art“ – Gedankens nicht richtig erfasst hat. Schlimme Beispiele/Opfer waren da zum Beispiel Michael Hoffmann vom Margaux und – noch schlimmer – Andreas Rieger vom „Einsunternull“ – beides Köche voller Ideen bei einem gleichermaßen hochrangigen Handwerk.

 

 

4 Gedanken zu „Ist es heute einfacher ein Sternekoch als ein guter Koch zu werden? Gedanken vor der Veröffentlichung des neuen Michelin Deutschland 2024“

  1. Lieber Herr Dollase, danke für Ihren klug ausgewogenen Artikel. Kunst jedweder Gattung – die Kochkunst gehört dazu – unterscheiden sich m.E. nicht. Grundlage ist stets die Beherrschung des Handwerks. Darauf baut Innovation auf. Doch nicht Innovation um jeden Preis. Geist, Körper, Seele – sie sind gleichermaßen in Harmonie zu bringen im Dreiklang. Der intellektuelle Überbau reicht weder in Musik, bildender Kunst und auch in der Kochkunst nicht aus. Die Kochkunst hat neben der „Schönheit des Tellers“ auch dem gesundheitlichen Aspekt zu dienen. Nicht im Sinne von gehobenen Zeigefingern, darf nicht, Fleischlos etc., sondern durch die Wertigkeit jedes Produktes. Ich meine das jede Komponente in Wert zu setzen ist, damit der Dreiklang wieder entsteht. Es gibt keine Beilagen. Das Wort „Sättigungsbeilage“ ist pervers. Der Dreiklang spielt in Menüs, im Zusammenspiel der Komponenten mehr als eine rituelle Rolle. Diese kann in traditionellen Küchen ebenso erreicht werden, wie in sehr innovativen Küchen. Nach dem Essen soll es uns körperlich sinnlich und intellektuell wohl ergehen. Die Rolle der Führers, welche auch immer, wollen wir kritisch sehen. Bilden wir uns eine eigene Meinung. Das gilt für jede der Künste. Was ist Kunst, was gekünstelt? Was ist Verführung?
    Was überrascht und was überzeugt?
    Dankbar für Ihre Kunst der Verkostung und des Schreibens! Mana

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  2. Hallo Herr Dollase,
    bevor ich auf den Michelin eingehe, möchte ich zuerst mal Danke sagen für Ihre Gastrokritiken die ich immer mit großem Interesse lese. Dabei finde ich, ist Ihre Sachkenntnis hervorragend und ich beneide Sie manchmal um Ihren großen Erfahrungsschatz und möchte bei einigen Restaurants gerne mit Ihnen tauschen.

    Ich selbst war Gastwirt und habe in meinem Heimatort fast 40 Jahre ein Restaurant (Familienbetrieb) betrieben, bin jetzt aber seit 10 Jahren Rentner und habe unsern Betrieb nach hundert Jahren geschlossen. Ende der siebziger Jahre frugen mich immer wieder Gäste, warum ich nicht im Michelin stehe, meine Antwort war meist „Sie sind doch hier, warum soll ich dann noch im Michelin stehen“ merkte aber, dass es wohl auch etwas mit dem persönlichen Ego zu tun hatte sagen zu können ich habe in einem “ Michelin Lokal“ gegessen.
    Irgendwann bekam ich dann Fragebogen vom Michelin die ich aber nicht beantwortet habe.

    Nach dem dritten Fragebogen rief eine freundliche Dame vom Michelin an und wollte wissen, warum ich keinen Fragebogen ausfülle, sie würden mich gerne in Ihren Reiseführer aufführen. Meine Antwort vereinfacht “ ich lege keinen Wert darauf “ . Die Dame erkläre mir, dass der Michelin in erster Linie ein Reiseführer sei, der Ortsfremden die Suche nach einem guten Restaurant erleichtern wolle. Das leuchtete mir ein und habe den Fragebogen ausgefüllt. Seit dieser Zeit stand ich ca. 30 Jahre sowohl im Michelin und im Varta Führer. Ich habe mir viel Stress und Diskussionen erspart Küchen einzuordnen und zu bewerten, Reiseführer hat mir immer genügt!

    Für mich gilt heute noch: „Ein frisches gutes Produkt sorgfältig verarbeitet ist ein Garant für ein Überleben in der Gastronomie grade auch in der heutigen Zeit.“ Inspirationen als Koch waren für mich immer – das Vorwort aus Bocuse erstem Buch, Ekhard Witzigmann und Dieter Müller von Schloss Lerbach. Dann schaltete man um von runden auf 4eckigen Tellern, dann bin ich in Rente gegangen.

    Das wollte ich nur mal loswerden, Danke nochmal für Ihre Berichte!

    Mit freundlichen Grüßen
    Heinz Martin von dem Broch
    22.02.2024

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  3. Sehr geehrter Herr Dollase,
    absolut, es ist entscheidend, zwischen dem State-of-the-Art und der Avantgarde in der Küche zu unterscheiden. Die Avantgarde treibt Innovationen voran und kann bedeutende Auswirkungen auf die Kochkunst haben. Dennoch ist es wichtig, jede Bewertung mit Vorsicht vorzunehmen und nicht den Medienrummel zu folgen. Innovation allein garantiert nicht automatisch Qualität. Wir müssen die Balance zwischen neuen Ideen und bewährten Techniken sorgfältig abwägen, um die wahre Bedeutung und Qualität eines Gerichts zu erkennen. Es ist bedauerlich, wenn herausragende Köche wie Michael Hoffmann und Andreas Rieger Opfer von Missverständnissen über ihre innovativen Ansätze werden, insbesondere wenn sie ein so hohes handwerkliches Niveau halten.

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