Kulinarik 2055

Von Frederick Ranitzsch

Heute benutze ich die aktuell wohl ungewöhnlichste Fortbewegungsart: Laufen. Mein Weg zu dem vereinbarten Treffpunkt ist nur einige Straßenblöcke weit. Am Eingang begrüße ich den Boten, der den Nachbarn ihre Rationen für die nächste Woche bringt: Tiefgekühlte Essen, die in dem speziellen Backofen erwärmt werden, und dazu die passenden Getränkekapseln.
Auf dem Weg gehe ich an einem alten Kirchengebäude vorbei, an dem wie so häufig „Nutraceutica“ steht. Auf der Suche nach Orientierung haben sich viele Menschen immer stärker auf Nahrung fokussiert: Von der Idee der Selbstoptimierung besessen, wählen viele ihre Lebensmittel mittlerweile strikt nach dem vorhandenen Gesundheitsnutzen aus. Es wird alles rausgeholt: Von der optimierten Darmflora über das rundlaufende Herz-Kreislaufsystem bis zum wilden Sexualtrieb sind alle Körperfunktionen so perfektioniert, dass selbst der tägliche Stuhlgang verlässlich geplant werden kann. Was man essen will, kann man selbst entscheiden, muss es aber nicht mehr: Die weitverbreiteten Implantate liefern die Informationen, um die Mahlzeiten aus unterschiedlichen frischen Zutaten gramgenau von Robotern zusammenzustellen und wahlweise direkt zubereiten oder einfach zum Smoothie pürieren zu lassen. Jeden Sonntag kann man sich dort von einem Experten eine neue Möglichkeit der Optimierung erklären lassen, anschließend die passenden Produkte kaufen und das Heilsversprechen einlösen.
In Vorfreude auf das Bevorstehende versunken, stolpere ich in eine junge Frau. Sie verschüttete etwas Soylent, dass sie gerade am Trinken war. Die mit dem Pulver gefüllten Flaschen gibt es mittlerweile an jeder Straßenecke aus dem Automaten zu kaufen. Sie hat sich in ihrer Ernährung damit in eine andere Richtung orientiert: Um alle wachen Minuten des Tages produktiv sein zu können, hat sie den Aufwand für die Ernährung auf ein Minimum reduziert. Und das Pulver hält was es verspricht: Eine günstige, gesunde, vollwertige Ernährung ohne jeden Aufwand und Genuss. Wir entschuldigen uns gegenseitig und gehen weiter.
Ich biege in die angegebene Straße ab und gehe an dem vorbei, was heute als Restaurant bezeichnet wird. Hohe Lohnkosten, Hygiene- und Arbeitsschutzvorschriften haben den Beruf des Kochs vollständig aussterben lassen. In den meisten Lokalen verrichten Roboter die Zubereitung der Speisen und bieten die immer gleiche enorme Auswahl in der immer gleichen und langweiligen Qualität an. Der Service wird aber immer noch größtenteils von Menschen gemacht, der Gastlichkeit wegen…
Angekommen. Haus Nummer 36. Ich klingele, nenne meinen Namen und werde eingelassen. Nach einigen Stockwerken mit dem Fahrstuhl öffnet sich die Tür und mir kommt eine Geruchswelle von gebratenem Fleisch und frischen Kräutern entgegen. Ich bin angekommen am Ort meiner Sehnsucht. Es erwartet mich an diesem Abend eine absolute Rarität: Echtes Essen. Von Menschen erdacht, zubereitet und gemeinsam genossen.

Schreibe einen Kommentar