Kulinarische Simplexität und die Schnittmengenküche

Seit einiger Zeit taucht immer wieder einmal ein scheinbar widersinniger Begriff namens „Simplexität“ auf. Wenn er verwendet wird, meint man damit die Mischung aus Einfachheit/Simplizität und Komplexität. Vor ein paar Tagen traf ich ihn dann in einem kulinarischen Zusammenhang, und zwar in einem großen Text über den französischen Drei-Sterne-Koch Laurent Petit vom „Le Clos des Sens“ in Annecy-le-Vieux im französischen „Yam“-Magazin (Ausgabe 58 vom November 2020). Die Stories werden dort immer mit einem längeren Interview eingeleitet. Als Petit danach gefragt wurde, wie er seinen Stil beschreibe, verwendete er den Begriff „Simplexität“. Angesichts seines Stils und seiner Rezepte fand ich den Begriff für eine kulinarische Verwendung sofort sehr interessant. Laurent Petit ergänzte dann noch u.a., dass es für ihn wichtig sei, dass seine Küche „lisible“ („lesbar“) bleibe, also sofort gut verstanden werden könne, und dass er auf der anderen Seite die oft recht einfachen, meist lokalen/regionalen Produkte seiner Küche so präsentieren möchte, dass ganz klar seine eigene Interpretation zu erkennen ist.

Mir ist sofort das Kartoffelpüree von Joel Robuchon eingefallen. So etwas kann jeder „lesen“ – im Sinne von identifizieren und verstehen. Dann wird er es probieren und über den wunderbaren Geschmack staunen, der – und nun kommt die Komplexität – nicht nur daher rührt, dass Robuchon Unmengen von Butter in seinem Püree untergebracht hat, sondern vor allem deshalb entsteht, weil er sein Püree statt mit wenigen Handgriffen in über zwanzig minutiös abgewickelten Arbeitsschritten in diesen sensationellen Zustand bringt. In meinem Text im „Kursbuch 204“ (das Bild zeigt das Cover der Kindle-Ausgabe des Textes) habe ich zu diesem Phänomen, bei dem sich „ganz normale Esser“ und Spitzenköche über die Qualität eines Produktes quasi einig sind, ausführlich geschrieben. Ich nenne die Küche, auf die diese Zuschreibung zutrifft, eine „Schnittmengenküche“. Sie ist hochinteressant, aber eigenartiger Weise gar nicht so oft zu finden.

Simplexität
Was „einfach“ ist, zeigt sich in der Küche nicht bei dem, was ein meisterlicher Koch für einfach hält, sondern ausschließlich darin, was als verständlich und nachvollziehbar empfunden wird. Dabei spielt es – siehe oben das Robuchon-Beispiel – kaum eine Rolle, ob etwas zum Beispiel tatsächlich in der Zubereitung „einfach“ ist. Wesentlich ist, dass es erst einmal optisch als einfach empfunden wird und dann auch noch so schmeckt, dass keinerlei großen Irritationen eintreten. Das bedeutet ganz praktisch und vor allem, dass der Geschmack einer Zubereitung als sehr gut empfunden wird. Ein stark von den Erwartungen abweichendes, „kreatives“ Geschmacksbild kann diese Funktion nicht erfüllen. So gesehen hat also Simplizität vor allem etwas mit einer identifizierbaren Optik und einem identifizierbaren Geschmack zu tun.

Während die Simplizität in diesem Sinne vor allem die Empfänger-Seite im Prozess der kulinarischen Kommunikation betrifft, ist die Komplexität erst einmal auf der Sender-Seite zu finden. Der Esser findet etwas toll, er weiß aber nicht, dass zu dessen Erzeugung ein enorm aufwändiges Verfahren nötig war. Esser, die viel von der Küche verstehen, werden sowohl schnell die offensichtliche Simplizität der Optik und des oberflächlichen Geschmacks erkennen, als auch die Komplexität der Zubereitung und die geschmacklichen Details.

Insofern ist Simplexität als Konzept einer Küche/von Gerichten ein hochinteressanter Ansatz, weil man auf diese Weise ein sehr breites Publikum erreichen kann.

Schnittmengenküche
Auf der Suche nach Gerichten, die sich in einer solchen Schnittmenge befinden, wird man nur scheinbar sofort fündig. Es könnten populäre Gerichte aller Art sein, aber da droht dann wieder der Effekt, dass sich gute Köche damit erst gar nicht beschäftigen wollen oder über das Ziel hinausschießen. Der Hamburger dürfte nicht generell ein Thema sein, und noch nicht einmal Pasta, weil die Art und Weise, wie Spitzenköche manchmal an Pasta oder Hamburger herangehen, dem Umami-verwöhnten Normalesser nur ein müdes Lächeln entlocken dürfte. Es könnten auch traditionelle Gerichte sein – bis hin zu Gerichten aus den Brauhaustraditionen. Aber da sind die Spitzenköche meist noch nicht einmal bereit, sich damit überhaupt zu beschäftigen. Das „Schweinekinn“ von Wissler etwa wurde zwar zu Recht als Weg in Richtung der Inspiration durch einfache Produkte und Traditionsküche gelobt, ist aber nicht unbedingt ein Beispiel für eine Schnittmengenküche. Auch Laurent Petit bedient mit seinen Gerichten oft vor allem eine international-avantgardistisch-modernistische Optik, die ein „Normalesser“ erst einmal sozusagen überwinden müsste, um beim Essen vielleicht festzustellen, dass das ja alles sehr, sehr gut schmeckt, also aus seiner Sicht eine Schnittmengenküche ist.

Viele Beispiele für eine Schnittmengenküche finden sich in der klassischen Gourmetküche – bei uns also der französisch inspirierten Gourmetküche. Ein Kalbskotelett oder ein Huhn, das zum Beispiel nach Art von Fredy Girardet langsam, mit vielen Arbeitsschritten und viel Butter in einen unfassbaren Wohlgeschmack überführt wird, sieht nicht nur immer noch aus wie ein Kalbskotelett oder Huhn, sondern schmeckt auch noch definitiv so, dass jeder „Normalesser in ungläubiges Staunen verfallen wird, weil er nicht wusste, dass man die Dinge so gut kochen kann. Solche Gerichte sind klassische Schnittmengengerichte – allerdings mittlerweile an eine Generation und eine Sozialisation gekoppelt, die sich in weiten Teilen der Bevölkerung nicht mehr findet. Wer mit Weltküche aufgewachsen ist, sitzt möglicherweise ratlos vor einem klassischen Gericht, einem „Cotelette de Pigeon“ etwa, dessen Finesse vor allem auf einem hochfeinen Einsatz von Foie gras und Trüffel beruht, also zwei Produkten, mit denen jüngere Generationen möglicherweise gar nichts anfangen können. Will sagen: eine Schnittmengenküche ist oft eine variable Angelegenheit, weil sich die Schnittmengen je nach Publikum (also auch je nach Konzept einer Küche) verändern können. Da kann es dann eben auch einmal um den Hamburger, japanisch, südamerikanisch oder vorderasiatisch inspirierte Gerichte gehen.

Warum es eine solche Küche viel häufiger geben sollte
Wohlgemerkt: ich rede hier von wirklichen Schnittmengengerichten, die also ein Maximum an Spitzenküchen-Denken mit einer maximalen Popularität verbinden. Ich rede nicht von irgendwelchen Bistro- oder Brasseriegerichten, die oft nur so tun, als ob Maßstäbe der Spitzenküche bei ihnen eine Rolle spielen.

Wenn es gelingt, populäre Geschmacksbilder und ein Maximum an kulinarischer Qualität unter einen Hut zu bringen, macht die entsprechende Küche sehr viele Leute glücklich und wird zu einem Anlaufpunkt für sehr viel mehr Gäste, als das bisher der Fall ist. Im Moment tendieren einfach viele Spitzenrestaurants noch weitgehend dazu, die eigene Peer-Group (also die Gourmet-Szene) zu bedienen und sich damit zufrieden zu geben. In Deutschland gibt es da noch ein spezielles Problem mit der Adaption traditioneller Gerichte. Es fehlt nach wie vor weitestgehend eine Schnittmengenküche, die sich rund um die deutschen Traditionsgerichte entwickelt, und das in einer Form, die sowohl für den „Normalesser“ wie für Gourmets voller Glanz ist. Und – natürlich geht es nicht darum, dass die gesamte deutsche Spitzenküche das Gleiche macht. Aber – die Schnittmengenküche mit ihrer Simplexität wäre erstens eine hervorragende, wirksame Ergänzung und würde – zweitens – den Köchen, die sie wirklich perfekt in den Griff bekommen, eine Menge an Publizität bringen.

Fotos © Yam-Cuisine, Philippe Faurés Santamaria

4 Gedanken zu „Kulinarische Simplexität und die Schnittmengenküche“

  1. Hallo Herr Dollase, Simplexität und Schnittmengenküche sind schöne Begriffe für etwas, dass man als Kritiker ja schon lange beschrieben hat, nur eben etwas umständlicher, z.B. mit Sätzen wie „(das Gericht ist…) komplex/durchdacht/anspruchsvoll und dennoch gut zugänglich/verständlich/mehrheitsfähig“. Soll heißen: diese Art der kulinarischen Kreationen gab es natürlich schon lange, gerade auch bei den ganz großen Köchen, wie Sie ja auch schreiben, und sie wurden auch wahrgenommen, nur fehlte es bislang an einer griffigen Bezeichnung. Ich könnte mir vorstellen, dass „Simplexität“ sich mittelfristig etabliert, weil es kürzer und „schnittiger“ klingt. Viele Grüße!

    Antworten
  2. Ich hatte eigentlich gedacht das ich mittlerweile so ziemlich jeden kulinarischen Quatsch erlebt habe,aber schnittmengenküche topt dann doch nochmal jeden bisher gekannten Blödsinn.

    Antworten
    • Lesen Sie den Text im Kursbuch, dann werden Sie das verstehen, auch wie konkret und komplett „down-to-earth“ diese Gedanken sind.
      Gruß JD

      Antworten

Schreibe einen Kommentar