Kulturverschiebung

Dieses Thema geht über Kochkunst und Gastronomie ein gutes Stück hinaus, betrifft sie aber genau so intensiv. Wir haben uns daran gewöhnt, dass die Krise und die damit verbundenen Einschränkungen vor allem bei uns ganz persönlich zu diversen Einschränkungen oder Verlusten führen. Das ist „normal“ und verständlich und hat ganz verschiedene Dimensionen, die dem ein oder anderen aber wohl kaum richtig klar sind.

Die Spannweite ist riesig. Für viele Leute – speziell in der Gastronomie und in der Kunst (im weitesten Sinne) geht es um die Existenz. Andere haben kaum mehr als eine Art Befindlichkeitsstörung, die vor allem darin besteht, dass sie vielleicht ihre beliebten Städtetouren im Moment nicht unternehmen und nicht an jedem Wochenende zu irgendwelchen Vergnügungen aufbrechen können. Mir fehlen im Moment die häufigen Aufenthalte in Belgien und Frankreich sehr. Aber – ich sehe kein Recht, mich darüber großartig zu beklagen. Was aber im Hintergrund abläuft, scheint vielfach noch nicht richtig bewusst zu sein. Es droht eine Verschiebung der kulturellen Gewichte, die noch große Auswirkungen haben wird.

Wir sollten einmal kurz überlegen, was im Moment weitgehend störungsfrei oder sogar besonders gut funktioniert und was nicht. So sind selbst in einem totalen Lockdown, wenn also sogar der Einzelhandel geschlossen wird, die Discounter weiter voll am Ball und sogar Profiteure. Sie können ihre Geschäftstätigkeiten weiter ausbauen und einen noch dominanteren Part in der Versorgung übernehmen. Wenn dann kleinere, spezialisierte Geschäfte schließen müssen, verschwindet auch das spezialisierte Angebot, und so weiter und so fort.

Weitgehend störungsfrei funktionieren auch die Medien, die ebenfalls ihre Rolle ausbauen können und auf ein Publikum treffen, das außer TV kaum eine Unterhaltung hat. Wenn alle Kulturveranstaltungen ausfallen, der ganze mediale Unsinn aber erhalten bleibt, verändern sich die Gewichte. Es gibt außerdem – das wissen wir schon nach dem ersten Lockdown – keinen Ein-Aus-Schalter. Die einmal abgeschnittenen Verbindungen werden also nicht sofort von heute auf morgen wieder aufgenommen. Nur der „harte Kern“ ist sofort wieder zur Stelle. Der Anteil der entwickelten, gewachsenen Kultur sinkt, der Anteil derer, die kommerziell motivierte Verdrängungs-Mechanismen als Erfolg feiern, steigt. Diejenigen, deren Wochenhöhepunkt die neuen Prospekte von Aldi, Lidl, Netto und Co. sind, können weitermachen wie immer und neigen sogar zunehmend – in völliger Unkenntnis der Zusammenhänge – dazu, sich über die „angebliche Hochkulturen“ lustig zu machen: „Stellt auch vor, die dürfen wieder und keiner geht hin!“

Die „Es geht auch ohne“-Gefahr
Man kann sich an alles gewöhnen, auch daran, dass es keine Konzerte, Museen, Theater, Opern, Kinos und gute Restaurants mehr gibt. Und genau das ist das Problem: Zumindest ein Teil der Leute wird sich – je länger die Lockdowns andauern – in einem veränderten Leben einrichten, in dem andere Dinge eine Rolle spielen oder – siehe oben – die Gewichte anders verteilt sind. Ein solches Verhalten ist für viele Teile der Kultur zerstörerisch, vor allem für jene, die direkt von ihren Einnahmen abhängig sind. Das gilt auch für die Gastronomie, wo sich zwar in der letzten Zeit die absoluten Spitzenrestaurants gut erholt hatten, jene Restaurants aber, die oft von spontanen Besuchsentscheidungen abhängig sind, bei weitem noch nicht. Wenn sich potentielle Gäste zunehmend so einrichten, dass sich wieder mehr nach Hause verlagert, kann sich das zu einer Krise aufschaukeln, die in ein bis zwei Jahren ganz „unauffällig“ (weil vielleicht nicht mehr in Zusammenhang mit Corona gebracht) viele Restaurants zum Schließen zwingt.

Corona richtet einen massiven kulturellen Schaden an, der lange Zeit irreversibel bleiben wird
Der Druck auf die „Kleinen“, der Druck auf die Vielfalt des Angebotes, die Veränderungen der Konsumgewohnheiten und die zunächst vielleicht kaum merkliche Veränderung der kulturellen Landschaft sorgen für eine Konzentration auf das, was am wichtigsten erscheint: Gesundheit, Jobs, Familie, Freunde, Haus, Garten, Auto und wenige andere Dinge. Was eine entwickelte Kultur allerdings zu einem wesentlichen Teil ausmacht, weil es das ganz große Vergnügen vieler Leute ist, sind die Dinge, die darüber hinausgehen. Gemeint sind hier ausdrücklich nicht nur die Hochkultur, sondern eine Menge von Dingen zwischen Brauchtum, aktivem Sport und passiver Sportbegeisterung, soziales Leben in Vereinen und anderen Gemeinschaften, jene Termine, die den Tageslauf über die Grundbedürfnisse hinaus bereichern. So gesehen gehört vor allem das, was über die üblichen Grundbedürfnisse hinausgeht, zu den ganz wichtigen Säulen einer funktionierenden Kultur mit einer Bedeutung, die heute gerade einmal wieder mächtig unterschätzt wird. Kultur in dem beschriebenen Sinne ist ein Grundbedürfnis.

Der Schaden, der durch Corona angerichtet wird, kann nicht wirklich durch Anti-Corona-Demonstrationen begrenzt werden, die eher für schärfere Maßnahmen als das Gegenteil sorgen werden. Der Schaden muss uns bewusst werden, und zwar allen von uns, also nicht nur denjenigen, die üblicherweise meinen, das Verständnis von Kultur für sich gepachtet zu haben. Man kann übrigens gerade bei einer solchen Diskussion einmal darauf verweisen, dass es so etwas wie einen primär fiktionalen Teil der Kultur (Literatur, Filme und Co.) und einen primär nicht-fiktionalen Teil der Kultur gibt (alles, was näher an der Alltagswelt ist). Der nicht-fiktionale, zu dem ich unbedingt auch den entwickelten Genuss in der Kochkunst im weitesten Sinne zähle, ist in solchen Krisensituationen extrem wichtig.

Die gerade beendete Zwischenzeit hat sehr deutlich gezeigt, welche Bedeutung eine genussorientierte Gastronomie hat. Sie war zeitweilig einer der ganz wenigen Bereiche der nicht-fiktionalen Kultur, die überhaupt zugänglich waren. Wir kennen die enge Verknüpfung von Gesellschaft und kulinarischer Kultur aus Ländern wie Frankreich, Italien oder Spanien. Sie funktioniert auch bei uns, auch wenn sie vielleicht noch nicht den gleichen Stellenwert wie dort besitzt. Wenn die Gastronomie durch die Krise um Jahre zurückgeworfen wird, wird ein wichtiger Teil unserer Kultur um Jahre zurückgeworfen.

Corona ist nicht nur ein Gesundheitsproblem. Corona zerstört Kultur. Das sollten wir im Auge behalten und uns nicht mit den neuen „Normalitäten“ abfinden.

5 Gedanken zu „Kulturverschiebung“

  1. Der Artikel blendet leider eine wesentliche Tatsache aus: Bis es einen wirksamen Impfschutz bzw. wirksame Medikamente gibt, tötet das Virus Menschen. Beim Blick in andere Staaten lässt sich das potenzielle Ausmaß dieser Zerstörung relativ gut erahnen.

    Vor diesem Hintergrund stellt sich eigentlich nur die ethische Frage: Was ist ein Menschenleben wert? Die Antwort auf diese Frage lässt sich ja ggf. noch differenzieren nach Familie, Feundeskreis oder anderen (weit entfernten) Personengruppen. Damit umgeht man zumindets die Problematik „not invented here“.

    Und fast automatisch schließt sich natürlich die Frage an: Was werden wir nach dem Ende der Pandemie nicht wieder herstellen können, wenn wir es denn wollen? Kultur sollte man dabei m.E. umfassend definieren. Denn Kultur ist insbesondere die Basis unseres Zusammenlebens (Jacques Delors).

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  2. Das mag ja so stimmen. Man kann aber auch die Gegenrechnung aufmachen. Anstatt zu shoppen bis zum Umfallen, muss man sich jetzt neue Betätigungen suchen, und ich beobachte da einen nicht unbeträchtlichen Teil der Bevölkerung, die in der herbstlichen Natur lustwandelt und sich dabei nicht nur bewegt, sondern auch kostenlose sinnliche Erfahrungen macht. Man stellt fest, dass man nicht ständig neue Klamotten braucht, weil man sich hier weniger „zeigen“ muss. Frische Luft inklusive.
    Wir haben im eigenen Garten mehr Gemüse angebaut und experimentieren damit in Töpfen und Pfannen. Endlich ist der Garten mal sehr viel fertiger als sonst immer um die Jahreszeit. Ein Garten ist Genuss pur zu diesen Zeiten, und endlich kann man ihn besser, weil umfänglicher genießen.
    Lesen soll ja auch sowohl bilden als auch Genuss vermitteln. Alles das ist Kultur. Gelesen wird offensichtlich deutlich mehr als üblich.
    Persönlich wird mir immer deutlicher, wie angenehm es ist, nicht ständig ferngesteuert zu werden durch die Reihung der üblichen jahreszeitlichen Events. Halloween habe ich noch nie gebraucht, diese Weihnachtsessen dauernd gehen mir auf die Nerven, und ich finde es reizvoll, ein alternatives Weihnachtsfest zu planen. Das Jahr mal anders zu denken, diese Freiheit gäbe es nun, wenn man sie denn wahrnehmen kann.
    Und dann dieser Gedanke: eine Pandemie ist eine ernste Krise. So ähnlich ernst wie eine Naturkatastrophe oder ein Krieg. Angesichts dieser Lage zu stöhnen, dass es bestimmte Aspekte der Kultur schwer haben zu überleben, finde ich merkwürdig. Das ist in solchen Krisen so. Bedauerlich aber unvermeidlich. Manche Berufe sind eben krisenfester (Bäcker, Ärzte) als andere (Barkeeper, Zauberer). Das weiß man doch schon immer, oder?

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    • Wer sich durch die Reihung jahreszeitlicher Events fernsteuern lässt, ist selbst schuld.
      Aber auch, wenn Sie Halloween nicht brauchen, finden andere Leute es vielleicht gut. Sollten Sie aber eine Krise wie die durch Sars-Cov-2 benötigen um Weihnachten nach Ihrem eigenen Geschmack zu planen, haben Sie bisher etwas falsch gemacht.

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    • Warum brauchten Sie Corona, um im Garten mit Töpfen und Pfannen zu experimentieren? Fehlte Ihnen vorher die Phantasie? Warum brauchen Sie die Restriktionen durch Regierungsvorschriften, um in Ihrem Leben etwas anders / besser zu machen?
      An Herrn Dollase: Die Menschen, die den Mut haben, sich auf Demonstrationen gegen die Regierung zu stellen, machen ihren Unmut öffentlich. Ohne solche Demonstrationen würde der Eindruck entstehen, dass man ausnahmslos das Regierungshandeln gutheißen würde. Ich wünsche mir mehr solcher Demonstrationen, gerade auch aus dem Gastronomie-/Hotelleriebereich, die ja momentan besonders betroffen sind

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