„La Cabro d’Or“ in Les Baux de Provence: eine vergleichende Restaurantkritik

Vorbemerkung:

Es ist mir nur sehr selten passiert, dass ich in einem Restaurant gegessen und schon sehr schnell vor allem darüber nachgedacht habe, wie sich denn die Bewertung in den Restaurantführfern mit der Realität auf dem Teller verträgt. Sicher, man hält regelmäßig Küchen für über- oder unterbewertet. In der Regel hält sich das dann aber irgendwie im Rahmen. Über mögliche deutsche Drei Sterne-Restaurants sage ich zum Beispiel normalerweise, dass ich mich über einen dritten Stern für diesen oder jenen Kandidaten nicht unbedingt aufregen würde. Beim „Cabro d’Or“ war es anders. Leistung und Bewertung gehen hier so weit auseinander, dass es wirklich auffällig ist. Und diese Diskrepanz provoziert dann auch gleich zwei Themen, die immer wieder einmal hochkommen – in den letzten Jahren allerdings wegen einer gewissen Abnabelung der deutschen Küche von der Orientierung an Frankreich seltener. Es geht um die Frage, ob in Frankreich bei vergleichbarer Bewertung viel besser gekocht wird als bei uns, und darum, ob – im Umkehrschluss – der französische Guide Michelin (wie auch der Gault Millau) sehr viel strenger zu Werk gehen. Aus diesem Grund möchte ich das Essen vergleichend mit entsprechenden Küchenleistungen in Deutschland kommentieren.

 

Das „Cabro d’Or“

Im berühmten Touristenort Les Baux de Provence, der äußerst spektakulär in den Felsen der Alpilles in Südfrankreich in der Nähe von Arles liegt, findet sich eine der ganz großen und ganz berühmten Restaurantadressen Frankreichs, das „Oustau de Baumanière“. Nach unspektakulären Anfängen bekam es unter dem legendären Raymond Thuilier 1949 den ersten Stern, 1952 den zweiten und schon 1954 den dritten. Speziell in den 50er Jahren wurde das Restaurant eine berühmte Anlaufstelle für Künstler und Stars aus aller Welt. Heute ist das nicht mehr ganz so ausgeprägt, dafür hat man unbedingt den Eindruck, als ob immer eine ganze Reihe von Leuten unter den Gästen sind, für die – formulieren wir es so: die Preise eines Restaurants inklusive Nutzung der sagenhaften Weinkarte eher Kleingeld sind. Auch wenn die weitere Geschichte des Oustau wechselhaft wurde und es lange Zeit nur zwei Sterne gab (unter Thuilier-Enkel Jean-André Charial), bevor Glenn Viel den dritten bekam (2020), sieht man der Anlage den langjährigen Erfolg mehr als deutlich an. Am Hauptrestaurant und ein Stück weiter das Tal hinunter am „Cabro d’Or“ gibt es großzügige Anlagen aller Art, darunter ein Komplex mit Geschäften, Kräutergärten usw. usf. Das „Cabro d’Or“ ist nicht das Zweitrestaurant von Glenn Viel, sondern ein weiteres Restaurant mit einem anderen gastronomischen Konzept und einem eigenen Chefkoch (Michel Hulin). Es wird ebenfalls „Gourmetrestaurant“ genannt, setzt aber nicht in erster Linie auf Menüs, sondern vor allem auf das klassische à la carte – Angebot. Dieses Angebot liegt in einem höheren Preissegment (siehe unten). Service und Organisation entsprechen dem eines guten Gourmetrestaurants. Das Ambiente ist aber deutlich entspannter, das Verhalten der Gäste ebenfalls.

 

Comme une bouillabaisse de poulpe de Meditérranée en chaud-froid, fenouil, artichauts et coquillages, au jus d’une rouille (Vorspeise, 38 Euro)

Serviert wird eine Reihe von sehr zarten Pulposcheiben bester Qualität. Daneben ein „Apparat“ mit den Aromen, die auf der Basis eines Artischockenpürees angerichtet sind. Die aufwändige Anrichteform macht sensorisch aber sehr viel Sinn. Die Elemente haben einerseits sehr gute Proportionen zum Pulpo, sind also sinnvoll so platziert und dimensioniert. Andererseits fallen sie durch ein mildes, produktnahes Aroma auf, das in keinem Falle geboostet wirkt. Man würde das am besten m Wechselakkord essen – wenn da nicht die am Tisch angegossene Sauce wäre, die deutlich das kräftigste Element auf dem Teller ist. Es empfiehlt sich, von dieser Sauce mit ihrem Mix aus Rouille und bratösen Aromen immer nur eine begrenzte Menge zu nehmen. Mit einem guten Verständnis der Zusammenhänge bekommt man eine sehr gute Degustation – nicht zuletzt auch wegen der exzellent gegarten Artischockenteile.

Einschätzung/Vergleich: das Niveau dieser in gewisser Weise dekonstruierten Bouillabaisse ist hoch, der Geschmack klar und sehr viel produktnäher, als man das bei uns meist bekommt. Auch der Pulpo ist in Material und Garung auffällig sauber und präsent. Man würde bei uns solche Gerichte vor allem wegen dieser „internen“ Qualität deutlich im Sternebereich ansiedeln – GM ca. 16 – 17. Diese produktnahe Küche, die gleichzeitig ein hohes Gourmetniveau hat, wird in ihrer Qualität häufig falsch eingeordnet und damit mißverstanden. Sie entspricht exakt einem klassischen Verständnis von hoher Kochkunst. Das Cabro d’Or hat aber nur 14,5 GM und im Michelin nur eine Erwähnung.

Les langoustines en fin carpaccio et ceviche, riz de Camargue vinaigré, algues et Citron caviar, jus d’une Granny Smith au Sudachi (Vorspeise, 42 Euro)

 

Was die Qualität angeht, kommt man bei dieser Vorspeise glatt in Bereiche von 2 Stern/18 GM. Das Gericht wird in einem Spezialgefäß von der Töpferin serviert, mit der man im „Oustau“ zusammenarbeitet und die ein Atelier nicht nur in Arles, sondern auch nahe dem Haupthaus des Baumanière hat. Im unteren Teil befindet sich das eigentliche Carpaccio, seitlich auf dem Deckel eine Art Langustinen-Algen-Salat in einer Kroepoek-Hippe. Das Carpaccio auf dem Hauptteller liegt auf einem Sockel von Camargue-Reis, der hier klar als Produkt wahrgenommen werden kann. Bei wieder auffällig guter Produktqualität gibt es hier ein großes Spiel mit diversen Zitrusfrüchten, das an den aromatischen Rändern zudem noch ausgeweitet wird (etwa durch den Granny Smith-Saft). Durch den Mix aus „verpackten“ Zitrusfrüchten (also als Würze von Reis oder Langustinen) und direkten Elementen entsteht eine enorme Breite, die insgesamt ein luxuriöses Ceviche-Bild erzeugt.

Einschätzung/Vergleich: Nachdem ich in den letzten Jahren so viele Ceviche-Varianten bekommen habe, dass ich nicht mehr besonders elektrisiert von einer neuerlichen bin, habe ich hier eine deutlich variiertere und wirksamere Fassung erlebt, die zeigt, dass der Koch eine individuelle Linie fährt, also im Grunde das, was man in Richtung von zwei Sternen und/oder 18 GM erwartet. Das Gericht wirkt mit allen Details hochprofessionell und souverän gemacht – auch mit der Tatsache, dass man hier wirklich in die Säure geht und nicht versucht, das Bild übermäßig zu glätten. Hier wird ein klarer Reiz gesetzt, was dann – so funktioniert Sensorik eben – zum kontrastierendem Prinzip führt: man nimmt das Hauptprodukt und die breite Säure getrennt wahr. Sie kann sich komplett entwickeln und das Hauptprodukt wird nicht dominiert. Wenn man scheinbar vorsichtiger würzen würde, könnte es deutlich eher zu einer Überlagerung der Langustinen kommen. Wie gesagt: das Cabro d’Or hat 14,5 im GM und im Michelin nur eine Erwähnung.

Le dos de loup rôti à l’huile d’olive, asperges croustillantes, coquillages au jus acidulé (Hauptgericht, 55 Euro)

Bei den Hauptgerichten wird die individuelle Linie von Koch Michel Hulin noch klarer. Bei diesem Wolfsbarsch geht es deutlich anders zu als man das etwa bei uns findet, wobei gleich auffällt, dass die Grundeinschätzung dieses Fisches bei uns ausgesprochen klischeehaft wirkt: fast alle machen den Fisch ähnlich, als ob man ihn nicht anders inszenieren könnte. Hier hat der Fisch eine deutlich Bratkruste, die durch die panierten und ausgebackenen Spargelstangen dann aufgenommen und deutlich verstärkt wird. Weil die Röstnoten aber präzise (und dezent) eingestellt sind, überwiegt das krosse Element, das dann im Zusammenhang nicht nur ein deutlich anderes Geschmacksbild abgibt, sondern auch eine extreme Süffigkeit (wie immer, wenn es gelingt, krosse Elemente sinnvoll einzubauen – Robuchon lässt grüßen). Um diesen Aspekt der Süffigkeit weiter zu verstärken und gleichzeitig sowohl Spargel wie Wolfsbarsch weit genug „vorne“ zu halten, bestehen die diversen kleinen Beilagen aus konsequenten Umspielungen von Spargel und Wolfsbarsch. Auch wenn der Wolfsbarsch hier nicht puristisch eingesetzt wird, überzeugt das Gesamtbild sofort – ein wenig wie eine neue Küche, die die Süffigkeit bei aller handwerklichen Perfektion zurückholt.

Einschätzung/Vergleich: So etwas bekommt man bei uns so gut wie nie – siehe oben. Mit Blick auf das noch weitgehend ungelöste und undiskutierte Verhältnis von Finesse zu Süffigkeit (ein großes Thema…) ist dies eine klare Stellungnahme und dazu eine sehr überzeugende. Man wird heute – noch – solche Gerichte nicht so hoch einschätzen (können) wie solche mit mehr Finesse, also einem kleinteiligeren Spiel ohne die Dominanz bestimmter sensorischer Aspekte. Trotzdem sehe ich hier immer noch einen Stern und etwa 16 GM. Wenn man eine solche Einschätzung zu hoch findet, müsste ich entgegenhalten, dass ich bei uns in Restaurants mit diesen Bewertungen oft schon froh bin, wenn ich nicht auf größere kochtechnische oder konzeptionelle Fehler treffe.

Le carrée d’agneau fume au foin de Crau, betterave rôtie, salade craquante au Balsamique et noix de cajou (Hauptgericht, 56 Euro)

Beim Lamm wird das klare individuelle Bild dieser Küche noch deutlicher. Während man beim Wolfsbarsch sicher noch Vergleiche findet (wenn auch vielleicht mit anderen Produkten) wird man hier kaum irgendwo Vergleichbares entdecken. – Zuerst wird am Tisch das Rack in einer Casserole vorgeführt – auf einem kleinen Sockel liegend mit ein wenig Heu darunter, das für eine leichte Schlußaromatisierung sorgt. Soweit, so normal. Tatsächlich ist das Bild auf dem Teller deutlich anders. Erst einmal erfreut natürlich der klassische Cut mit den Premier Côtes à la decouverte, also der kompletten Decke über dem Medaillon. Dann ist die Sauce weit entfernt von einem „vrais jus“ (wie Ducasse das gerne sagt), also aus den Bestandteilen des Gerichtes gemacht und nicht nur vom Lamm gezogen. Ihr durchaus an dunkleres Fleisch (aber auch an div. Gemüse) erinnernder Geschmack verschafft schon dem Fleisch allein ein deutlich anderes, aber sofort überzeugendes Register, das vielleicht ein wenig in Richtung von längeren Lamm-Schmorprozessen geht. Mit der ungewöhnlichen Begleitung zeigt sich, dass es genau diese Sauce sein muss, um die erdigen Noten von Rote Bete und Chioggia zu integrieren, oder um die weit gefassten Texturen des „Salates“ zu integrieren. Man braucht diese „dunkle“ Basis, um diese Interpretation zu verstehen/zu integrieren. Und dann wird daraus am Ende eines der interessantesten Lammgerichte, das ich seit Jahren gegessen habe, ein Gericht, dessen Geschmack – ein seltenes Vergnügen – wieder einmal anregt und nicht nur registrieren lässt.

Einschätzung/Vergleich: Bei uns undenkbar, weil bei uns meist zu klischeehaft gedacht wird und Anderes als Standard-Aromen für unmöglich gehalten werden. Die Qualität ist durchweg hoch, vielleicht hier sogar am höchsten von allen Gerichten. Wieder könnte man sich nicht beschweren, wenn es hier 2 Sterne oder 17/18 GM gäbe, hätte aber auch Verständnis dafür, dass das – noch – nicht so gesehen wird. Das allerdings hätte dann hier wohl mehr seine Gründe darin, dass diese Küche eine klare individuelle Linie fährt, also eine neue Einordnung nötig macht.

 

Ist man nun hier bei den Führern zu konventionell, um das zu würdigen? Oder ist das Handwerk in Frankreich so genial hoch, dass selbst diese Qualität noch vergleichsweise niedrig eingeschätzt wird? Wie dem auch sei: aus deutscher Sicht, mit den bei uns zu findenden und bewerteten Qualitäten ist das „Cabro d’Or“ hoffnungslos unterbewertet. Man isst hier bei den Führern anscheinend nicht sehr genau und macht – wie häufig bei zweiten Restaurants von großen Restaurants – die Sache etwas mit der linken Hand. Das Publikum übrigens hat längst abgestimmt. Das Restaurant ist glänzend besucht und meist ausgebucht. Da bleibt dann nur noch die Frage: Sind die deutschen Sterne weniger wert? Muss man bei Michelin und anderen das machen, was ich schon häufiger angeregt habe, nämlich eine Art „Währungsreform“, sprich: härter bewerten um das Niveau allgemein zu heben und wieder besser vergleichbar zu machen?

7 Gedanken zu „„La Cabro d’Or“ in Les Baux de Provence: eine vergleichende Restaurantkritik“

  1. Hallo Herr Dollase, Sie haben natürlich recht/in der BRD kommt mE noch erschwerend hinzu, dass sich der GM gefühlt ziemlich zurückgezogen hat aus der aktuellen Restaurantkritik und somit einfach kein Korrektiv für den Michelin da ist.

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  2. Nachdem ich nun 3 Jahre in Frankreich lebe, komme ich da zu einer etwas differenzierterer Einschätzung.
    Die Bewertungen sowohl vom Gault Millau, wie auch vom Michelin sind doch regional sehr stark variierend.
    Das heisst in kulinarisch starken Regionen wie Südfrankreich oder eben Paris, kann das Niveau von vom Michelin „nur“ empfohlenen Restaurants durchaus beträchtlich sein.
    Anders sieht es in kulinarisch eher schwachen Regionen wie den Vogesen, grosse Teile der Bretagen oder der Normandie aus. Da gibt es massenhaft Bewertungen, die viel zu hoch ausfallen. Zu nennen wäre da z.B. der völlig zu recht zurückgestufte Coutanceau oder das völlig überbewertete le duc lorraine in Epinal und jede Menge „Empfehlungen“ in dieser Region die teilweise schlicht haarsträubend sind, wo dann auch handwerklich nicht zu knapp fehlerhaft gearbeitet wird.
    Ähnliches ist aber mittlerweile auch in Deutschland feststellbar. In Berlin ist das Niveau von vom Guide „empfohlenen“ Restaurants mittlerweile ganz beträchtlich, auch von den Produktqualitäten her. Z.B. könnte man das Hallmann&Klee ganz mühelos mit einem Stern auszeichnen. Das Ernst ist mit einem Stern dafür wiederum brutal unterbewertet.

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  3. Sehr interessant, vielen Dank! Mein Eindruck ist schon lange, dass insbesondere der Gault&Millau in Frankreich deutlich „strenger“ wirkt, zumindest aus deutscher Sicht, und man gerade im Bereich 14-15 Punkte ganz hervorragend essen kann (und das zu oftmals unglaublich günstigen Preis, sogar in den Metropolen, wo man sich fragt, wieso das dort funktioniert).
    Jedenfalls: Man erinnere sich, dass das Kei in Paris nur 15 Punkte hatte, als es 3 Sterne bekam, das formidable La Bouitte damals auch nur 16 Punkte – bei beiden sah man sich dann offenbar im Zugzwang zu deutlichen Aufwertungen. Andererseits wirken die Bewertungen mit 14-15 Punkten ja nur dann „niedrig“, wenn man die deutschen Maßstäbe anlegt. In Frankreich ist die Skala eben eine andere. Da geht es ja bis auf 11 Punkte runter, was man in der deutschen Millau-Ausgabe ja kaum oder nie findet bzw. fand (zumindest früher). Insofern haben die 14 Punkte beim Cabro d’Or schon eine innere Logik. (Jetzt bereue ich, demnächst nicht auch dort reserviert zu haben). Beste Grüße!

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    • Ja, wenn man den Schnitt beim französischen GM vor einigen Jahren sieht, trifft das zu. Damals gab es ja nur eine Mini-Spitze – nicht größer als bei uns, und 17 Punkte waren schon ein absolutes Spitzenrestaurant. Für externe Betrachter hat sich aber auch so etwas wie eine Spaßbremse ergeben: auch ich musste mich langsam daran gewöhnen, dass es hier viel härter zugeht. Mittlerweile finde ich das aber eigentlich ziemlich o.k. – und damit das, was wir im Moment in D haben, nicht o.k.
      Gruß JD

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      • Hallo Herr Dollase,
        Danke für den Bericht.
        Seit das brothers in München nach 3 monatiger Öffnung für Teller die optisch ein Azubi nach 3 Monaten anrichten kann einen Stern bekommen hat, kann ich das nicht mehr ernst nehmen. Die roten Bücher kommen in den Molteni.

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