Sollten die Klassiker eines Restaurants auf der Karte bleiben?

Im neuen Gault Millau für 2022 ist es in der Spitze zu einer ganzen Reihe von Abwertungen gekommen – ich habe darüber berichtet und die Auswirkungen analysiert. Was natürlich interessiert, sind die möglichen Gründe, vor allem dann, wenn sie auf generelle Fragen verweisen, die man ganz allgemein diskutieren könnte oder sollte. Sven Elverfeld, der seinen Abschied aus der absoluten Spitzengruppe (und damit vom geteilten Platz 1 in Deutschland) angesichts seiner Arbeit in den letzten Jahren nicht nachvollziehen kann, liefert indirekt ein interessantes Thema.

Wenn man den Text im Gault Millau liest, kann man – ohne dass das explizit erwähnt wird – den Eindruck haben, dass Elverfeld abgestuft wurde, weil er in den Augen des GM zu wenig innovativen Input bringt. Er zitiere Dinge aus der Kochkunst/der Gastronomie und er zitiere sich auch gerne selber. Das mache er natürlich alles auf hohem Niveau und immer mit kleinen Varianten. Aber – es klingt eben so, als ob im „Aqua“ ein Altmeister am Werk wäre, der es alles etwas entspannter angehen lässt und eben nicht mehr so tagesinnovativ arbeitet, wie das andere Köche tun. – Ich erspare mir hier das wörtliche Zitieren der entsprechenden Passagen und fasse hier nur kurz meine Eindrücke zusammen.

 

Fotot: Aqua

Vor einiger Zeit im „Aqua“…

Als ich zuletzt im „Aqua“ gegessen habe, präsentierte Elverfeld eines der wenigen Menüs der letzten Jahre, bei denen ich den Eindruck hatte, es sei alles von vorne bis hinten perfekt und ausgereift. Wir sprachen darüber und Elverfeld vertrat ganz klar die Meinung, dass man hervorragende Gerichte nicht vorschnell von der Karte nehmen sollte, nur weil gerade einmal wieder viel von „Marktküche“ oder ähnlichen Dingen geredet wird. – Es geht also darum, das Niveau eines Menüs maximal hoch zu halten, Klassiker des Hauses natürlich immer wieder ein wenig neu zu justieren, nicht aber irgendwelchem Druck von irgendwelchen Moden zu folgen. Ich habe das sofort verstanden. Gerade Sven Elverfeld hat eine ganze Reihe von sehr markanten Gerichten kreiert, und das eben nicht nur optisch, sondern auch aromatisch. Sie zu erleben und dann nie mehr wiederzufinden, ist gerade aus journalistischer Sicht extrem kontraproduktiv. Ich habe schon oft sehr positiv über Gerichte geschrieben, um dann wenig später festzustellen, dass die Leser sie nicht probieren können, weil sie inzwischen von der Karte verschwunden sind. Dass Elverfeld außerdem gerne bestimmte Aromenbilder zitiert (also schon früh Mayonnaisen oder ähnliche Dinge), verweist wieder einmal nur auf die Intelligenz seiner Kompositionen. Hier wird eben auch subtil mit dem assoziativen Kontext gespielt, dessen sozusagen identitätsstiftende Wirkung gerade in der Spitzenküche von eminenter Bedeutung sein kann. Wird der assoziative Kontext (früher redete man gerne von „Emotionen“) klar berücksichtigt, schafft das eine viel bessere Bindung des Essers an eine Küche.

 

Foto: Thomas Ruhl

Immer und jederzeit in der „Auberge de l’Ill“…

In diesem großen französischen Restaurant wäre es undenkbar, dass bestimmte Gerichte nicht auf der Karte sind. Sie sind meist klar gekennzeichnet und waren auch schon einmal in einem Block zusammengefasst. Man kann nach Illhäusern fahren und sich ein Essen gönnen, das ausschließlich aus diesen Klassikern besteht, der Mousseline von Fröschen, dem soufflierten Lachs, der Taube Romanoff usw. usf. Man wird sie begeistert essen können, weil sie im Prinzip der Historie des Hauses folgen, aber eben auch schon einmal überarbeitet werden. Ich habe im Laufe der Jahre verschiedene Fassungen gegessen, die sowohl Paul als auch Marc als Autoren hatten. Eine frühe Fassung des „Saumon soufflé“ etwa hatte ganz andere Proportionen als die aktuelle von Marc Haeberlin, die Sauce war schwerer, und die Würze der Tomatenzubereitung hatte nicht die aktuelle Eleganz. Auf der anderen Seite wurde an der Taube (oder Rebhuhn) Romanoff immer insoweit gearbeitet, dass man den Akkord „Brust, Wirsingmantel, Foie Gras, Trüffel“ beibehielt, ihn aber in unterschiedlichen Formen eingesetzt hat. Die Klassiker blieben identisch, wurden aber optimiert und/oder variiert. Für Spezialisten hat so etwas einen ganz eigenen Reiz, für alle Gäste ist es eine faszinierende Reise in Geschmackswelten, die man heute definitiv eher selten findet.

 

Foto: JD

 Gehören Klassiker des Hauses auf die Karte?

Wenn es nach den Gästen ginge, ganz selbstverständlich. Die Motivation, ein bestimmtes Restaurant zu besuchen, ist oft nicht zuletzt von bestimmten Gerichten, einer bestimmten Küche abhängig. Es war lange Jahre überhaupt keine Frage, dass man die besten Gerichte immer wieder anbietet – schon aus kommerziellen Gründen. Der Wechsel der gastronomischen Struktur hin zu einer „Autorenküche“ oder „Marktküche“ hat da Vieles durcheinander gebracht – anscheinend auch im Bewußtsein der Köche und der Führer. Das Einheitsmenü hat nicht nur die ganz selbstverständliche Speisekarte beseitigt, sondern auch die Wirkung und Bedeutung von Klassikern, die es natürlich auch in der modernen oder sogar avantgardistischen Küche gibt. Es ist ein wenig wie eine berühmte Band, die bei Konzerten ihre Hits nicht spielt. Es ist – pardon für dieses Beispiel – wie eine Liebesakt ohne Orgasmus. Ist das gewollt?

 

Foto: JD

 Und – glauben die Köche eigentlich, dass das, was sie glauben, ständig neu anzubieten zu müssen, automatisch so gut ist wie ihre besten Gerichte?

Man sollte einmal kurz das Gehirn belüften. Auch bei den Führern. Natürlich brauchen wir die kulinarischen Hits. Und – ein Koch, der es schafft, sie lebendig zu erhalten und seine Gäste mit ihnen zu erfreuen, sollte ein Extralob und keine Abwertung bekommen. Wer sich andererseits aus verschiedenen denkbaren Gründen außerstande sieht, auf der Karte auch noch Klassiker anzubieten, ist in gewisser Weise auch nie ein „großes Restaurant“, ein „Grande Maison“.

 

 

 

 

 

11 Gedanken zu „Sollten die Klassiker eines Restaurants auf der Karte bleiben?“

  1. IMir würde von einen jungen Koch aus Franken , der auch eine Nova Regio Küche betreibt, nun auch in der Selbstständigkeit,Nähe gebracht das Sie das „Ernst“ überhaupt nicht ernst nehmen.
    Seine Meinung war , dass das wohl damit zu tun hat , da Herr Watson Ihnen den von Ihnen gewünschten Respekt nicht entgegen bringt.
    Hunde sind ja wohl dort auch nicht erwünscht.
    Ich würde einfach Mal behaupten Herr Dollase , das Sie auch gerne bevorzugt bewerten , und natürlich immer.in eine Richtung , die für Sie passt.
    Was passiert eigentlich mit einem Küchenchef der nicht in das Poesiealbum Ihres Hundes schreiben will?
    Das Ernst ist nicht mein Lieblingslokal, aber immerhin eines der spannendsten Restaurants der Welt , wen man einigen Ihrer Kollegen glauben schenken darf.

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  2. Interessanter Artikel. Ich schaue auch mit etwas gemischten Gefühlen zu und bin in der Diskussion eher ambivalent. Ich schreibe sie aus Frankreich.

    Einerseits kann ich mich der Meinung anschließen, dass Klassiker auf der Karte stehen sollten. Ohne Ausnahme. Wie in einem der Kommentare angedeutet, ist ein klassisches Gericht Teil der DNA.
    Obwohl wir hier fragen können, was in der DNA steckt: die Handwerkskunst oder der spezifische Geschmack, den der Kunde oder Gastroliebhaber erwartet oder erhofft beim essen und deswegen die muhe nehmt eine ‚umfahrt‘ vorzunehmen wie Michelin und Co. es in seine imperatives Gebot empfehlt — quasi wie hunderte Touristen manchmal nach Spitzbergen reisen, um die Nordlichter zu sehen, der beste Ort laut Reiseführer, witzig ist das sogar die Einheimischen sagen, dass es nicht so spektakulär ist, weil man es nur selten sieht. Deswegen: wie öfters hier im Blog erwähnt: wie seriöse und präzise müssen wir Gastroliebhaber die DNA die beschreiben wird nehmen. Wenn wir leibhaber sind, ist es dann nicht besser selbst auf die reisen zu gehen und zu entdecken? Wissen Sie wie vielfältig DNA sein kann?

    Andererseits erfordern eine sich verändernde Gesellschaft, neue Entdeckungen im Bereich der Gastronomie, soziales und ökologisches Bewusstseinsumbruchen auch Änderungen der Speisekarte, die mit traditionellen Menüs möglicherweise nicht vertretbar sind. Ich denke, die Gastro-Geschichte ist nicht weniger dynamisch und es gibt unzählige Beispiele für Veränderungen und Reaktionen auf gesellschaftliche Tendenzen. Sowie jetzt.

    Regionale Produkte finde ich immer häufiger in einer Menukarte mit starkem Saisonbezug. Ich kann mir gut vorstellen, dass ein – ich nenne mal ein völlig willkürliches Beispiel – ein Spreewalder Tomatensalat außerhalb der Spreewalder Tomatensaison vom Speiseplan gestrichen wird – klassisch oder nicht. Ganz einfach: es gibt kein Spreewalder Tomanten!

    Ich erwähne einen weiteren Klassiker – die sizilianische Granita. Am besten sind einfach die grünen sizilianischen Zitronen, wenn sie Saison haben – sonst schmeckt die Granita einfach ganz klar anders. Klassisch oder nicht, ich würde dieses nicht anbieten, wenn Sie nicht das Beste aus dem Geschmack machen können. Wenn doch – weil es ein Klassiker ist – dann respektiert man die Frucht nicht und betrügt den Kunden mit hoffnungsvollen Erwartungen. Granita ist zweifellos in der DNA, aber das kann nicht immer zur vollen Reife kommen. Das Umschalten auf eine Variation im Menü – für meinetwegen sizilianische Erdbeeren aus Oktober (fiktives Beispiel), ändert nichts an handwerkliche Zauberei.

    Aber wie gesagt… ambivalent… im Pariser Bistro erwarte ich tatsachlich einfach eine Canard statt irgendwie aus den Seine frisch gefangen…

    Wie machen die Deutsche dass mit Spargel… irgendwie den Stoltz der Deutscher? Klassiker, aber Saisons gebunden…

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  3. Nachtrag!
    Fast hätte ich vergessen zu erwähnen, auch bei Joachim Wissler hat man meiner Meinung nach mit mehr Intensität, Aromatik und geschmacklicher Tiefe gegessen, als er noch genussvolle à la carte Gerichte anbot und sich noch nicht diesem Menü-Kreativitätszwang unterwarf, mit läuft heute noch das Wasser im Munde zusammen, wenn ich an das „Perlhuhn aus dem Holzkohlegrill“ für 2 Personen denke welches ich dort vor vielen Jahren mal genießen durfte, …..lang, lang, lang ist es her, aber herrlich war’s!!!

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  4. Sehr geehrter Herr Dollase,
    ich kann nun wirklich nicht als genereller Fan Ihrer teils „eigenwilligen“ Theorien gesehen werden, aber dieser Arzikel ist tatsächlich eine Klasse für sich, denn er spricht Dinge an die mich schon lange aufregen! Jene Restaurants die keine Klassiker mehr anbieten oder natürlich nie hatten, haben für mich keine DNA, keine Basis und keinen Wiedererkennungseffekt, gehen in der Masse der Talente unter, Talente sind frisch, frei, kreativ und interessant, suchen aber auch nach Identität und einige finden sie, ewige Talente gehen irgendwann unter!
    Der 2. Punkt den Sie hier anreißen, ist dieser Menü-Zwang-Irrsinn! Als hätte man Restaurants zu Orten unfreier Entscheidungen degradiert! Ich verstehe die personellen und wirtschaftlichen Zwänge, aber weshalb bietet man nicht 10 Gerichte zur freien Wahl à la carte an, sondern einen 10-Gänger? Und dann diese Überheblichkeit, wenn jemand reduzieren möchte, dieser persönlich gekränkte Service, so wie in einem belgischen **-Restaurant letzte Woche erlebt! Unglaublich!
    Ich hatte schon mehrfach das Vergnügen im Aqua in Wolfsburg zu Gast zu sein, beeindruckende Tiefe der Gerichte, wirkliche Intensität und Identität, *** par exellence, wen interessiert denn da der Gault Millau???

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    • Verstehe ich, dass Sie das Aqua super finden….die haben da so eine tolle „à la carte “ Karte, da wird einem ganz schwindelig! Vor allem unterstreicht es auch ihre fundamental richtig Analyse ihrer 2 Beiträge! Weiter so!

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  5. interessante überlegungen; das tantris ** hat die wohl pfiffigste lösung für dieses problem gefunden mit moderndem menuerestaurant und a la carte lokal mit klassikern.

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  6. Sie haben recht Klassiker sollten bleiben.
    Die Abwertungen großer Köche durch Michelin oder Gault Millau werden doch bewusst vorgenommen. Wenn Häberlin oder Bocuse einen Stern verlieren, gibt es weltweite Presse, bei Wissler zumindest bundesweite. Dadurch erreichen Restaurantführer viel Aufmerksamkeit, die sie sehr notwendig haben.

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  7. Eines der provokantesten – und bewusst auf Provokation gebürsteten – Postings von Jürgen Dollase seit langen. Ich habe es sehr gerne gelesen; und dann noch mindestens zwei Male wiedergelesen.
    Nicht etwa, weil ich den Aussagen zustimmte. Tue ich natürlich – zum überwiegenden Teile jedenfalls – nicht. Sondern weil sie soviel Wichtiges ansprechen und so den bewusst provozierten spontanen Widerspruch zum Nachdenken und zur Nachschärfung anregen.
    Danke dafür @

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  8. Ich bin ganz Ihrer Meinung! Ich lebe auf Mallorca, schreibe über Gastronomie und Restaurants, und als Beispiel, wie man es perfekt macht, sei nur das Restaurant Zaranda genannt (hatte bis zu Umzug zwei Sterne, und jetzt wieder ein Michelin-Stern). Dort isst man fantastisch! Es gibt drei Menüs, eins sind neue Kreationen, eins besteht vorzugsweise aus den beliebten Klassikern des Lokals, eins ist ein Mix aus beiden. Ich könnte etwa seinen Klassiker „Schwarzes Ei“ immer wieder essen. Un saludo aus Mallorca

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  9. Als Gast erwarte ich die Klassiker. Als seinerzeit die Kochkunst nach Deutschland kam, ich einen schönen Abend bei Otto Koch im Le Gourmet hatte, wäre ich enttäuscht gewesen wenn seine „Signature Dishes“ wie z.B. die Prinzregententorte nicht auf der Karte gestanden hätte.

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    • Sie sprechen mir aus der Seele. Für mich gehören Klassiker, so sie denn überhaupt welche werden konnten, zur DNA des Lokals, auf die man absolut stolz sein kann und sollte. Wie gern würde ich heute nochmal das Millefeuille von Stopfleber mit Perigord Trüffel von Jean Claude Bourgueil essen und deshalb bin ich überglücklich daß man immer noch die Kleine Rinderfilet Torte mit Caviar von Thiltges Nachfolger Rambichler bekommen kann !

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