Stilkritik, Folge 2: Das ganze Spektrum nutzen! Gegen eine kastrierte Spitzenküche für ein genussreduziertes Publikum.

Über das, was man in der richtig guten Küche nutzen sollte, wird häufig geredet. Es ist fast wie ein Mantra: „Das Produkt ist der Star“, heißt es da zum Beispiel, und dass es quasi unmöglich sei, ohne Spitzenprodukte Spitzenküche zu machen. Leider wird sozusagen „das Kleingedruckte“ kaum jemals mitgeliefert. Und da scheint es bei weitem nicht immer um die richtig guten Produkte zu gehen, sondern eher um ausreichend gute, von denen man dann wegen der Art der Zubereitungen kaum etwas schmeckt. Außerdem scheint es fast immer nur um ein klischeehaft-verengte Produktauswahl zu gehen, bei denen durchaus nicht all das, was man ein gutes Produkt nennen könnte, Verwendung findet. Und weil man dazu auch noch einen entsprechenden Küchenstil entwickelt hat, bleiben auch noch andere Dinge auf der Strecke. Wer heute in einem deutschen Spitzenrestaurant isst, bekommt viele Dinge überhaupt nicht mehr auf den Teller. Es kann zum Beispiel sein, dass es keinerlei Produkte mit Röstnoten gibt, keinerlei Fett, nichts Geräuchertes, nichts Geschmortes, keine Terrinen, keine Ragouts, keine speziellen Würzmischungen, Nichts das wirklich einmal nach Salz oder Säure oder bitter schmeckt, usw. usf., die Liste ist fast beliebig fortzusetzen.

Das bedeutet, dass die besten Küchen Vieles von dem, was man essen könnte, gar nicht erst einsetzen, dass sie nur einen engen Ausschnitt aus dem Spektrum guter Produkte präsentieren und weit davon entfernt sind, ein System alles umfassender kulinarischer Kenntnis zu sein. Was bleibt, ist ein auffällig enges Geschmacksspektrum, irgendwie weichgespült, irgendwie zurückgenommen, irgendwie missverstanden.

 

Die „kastrierte“ Spitzenküche und ihre Erscheinungsformen

Nehmen wir einmal ein pochiertes Kalbsfilet, das man vor der Garung vielleicht in ein paar Kräutern gewälzt hat, und vergleichen wir es mit einem im ganzen gebratenen Kalbskotelett. Beim pochierten Filet bekommt man eine weiche Fleischmasse, deren Herkunft und Spezifität für viele Gäste nicht zu erkennen ist – erst recht nicht am Geschmack. Es ist ein Kalbfleisch, dem man fast Alles genommen hat bis auf eine Fleischtextur, die – positiv gesprochen – extrem zart ist, oder – negativ gesprochen – zu einem Maximum an Unnatürlichkeit gebracht wurde. Dass ein paar Kräuter etwas Aroma bringen, spielt da keine Rolle. Dem gegenüber ist das am Knochen komplett gebratene Kotelett mit seinen verschiedenen Teilen (Knoche, Fettschichten, gelatinöse Schichten etc.) ein Ausbund an Aromenvielfalt, bestimmt von Röstnoten, vom Geschmack stärker gegarter Schichten bis zum Geschmack des knapp gegarten Inneren. Im Endergebnis schmeckt es – gute Machart vorausgesetzt – komplex und aromatisch breit gefächert.

Man bekommt in vielen Restaurants der Spitzenküche nur noch solche „amorphen“ Stücke serviert. Sie sehen irgendwie industriell aus, gerade beschnitten, komplett pariert, oft zu weich oder von einer Konsistent, die von Komplettgarungen weit abweicht. Sie sind im grunde ein Produkt der Denaturierung, nicht der Optimierung der Natur. Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass man in den besten Restaurants auch noch nur solche Stücke vom Tier bekommt: von einem großen Tier mit Unmengen an kulinarisch nutzbarem Material nur ein winziges Stückchen Filet oder Ähnliches.

Gleiches gilt für viele Bereiche (inklusive Gemüse), die entweder gar nicht vorkommen oder wenn, dann nur in einer so eingeengten und reduzierten Form, dass man den Eindruck gewinnen muss, Spitzenküche sei so etwas wie eine Diät für besonders empfindliche Leute, die auf keinen Fall Konkretes, Kräftiges oder sonstwie eher Natürliches, sondern vielmehr etwas besonders Unnatürliches haben wollen. Findet der Höhepunkt der Kochwelt in einer Art kastrierten Kunstwelt statt?

 

Mono statt Stereo

Die Reduzierung des verwendeten Materials hat zudem ihre Entsprechung in einer Art mittigem Aromenspektrum, das sich im milden Bereich des Spektrums abspielt. Wenn man es mit der Musik vergleicht, neigt man zu der Ansicht, dass die Spitzenküche oft nur Mono kennt, obwohl man längst Stereo oder – noch besser – buchstäblich räumlich-mehrdimensionale Gerichte präsentieren könnte. Dabei geht es durchaus nicht um die nicht selten sinnlosen Ansammlungen von diversen Texturen und Temperaturen, sondern um ein Ausschöpfen der ganzen Palette zwischen roh und geschmort, zwischen Aromen, die nicht nur mild, sondern auch einmal kräftig sind und mit Gegensätzen spielen. Es ist möglich, eine geschmackliche Tiefe und Räumlichkeit zu erzeugen, die jedem Esser sofort auffällt und ihm buchstäblich eine neue Dimension von kulinarischem Erleben vermittelt.

 

Kastrierte Spitzenküche für ein genussreduziertes Publikum

Der Ausdruck „kastriert“ ist natürlich ein wenig forciert. Salopp würde man auch sagen können (…wir sind ja hier Online und nicht in einer Zeitung, deren Redakteure alles einengen, was deutlich ist…): „es gibt Küchen, die haben einfach keine Eier“ (bitte: jetzt keine Einwände an dieser Stelle, die Menschen reden untereinander eben oft auch noch etwas klarer). Es wird schnell klar, dass der Ausgangspunkt für viele solcher Entwicklungen die Gäste sind. Das Publikum der Spitzenküche bestand eben immer schon zu einem mehr oder weniger großen Teil aus Gästen, die nicht primär aus kulinarischen Gründen in ein gutes Restaurant gehen. Von diesen Gästen gibt es immer noch eine ganze Menge. Sie wollen weder Fett sehen noch irgendein Teil vom Tier, das sie daran erinnert, dass es sich hier um ein totes Tier handelt. Sie wollen keinen klaren Produktgeschmack, sondern lieber irgendetwas ganz Weiches, Zartes, lieber Milchlämmer, die nicht „nach Lamm“ schmecken“ als erwachsene Tiere mit einem klaren Produktgeschmack, natürlich keine Innereien, keinen Kohl, Nichts, was als „billig“ gilt, sie wollen nicht den kleinsten Blutstropfen sehen und selbstverständlich keinen Ziegenkäse essen, worunter sie selbstverständlich etwas verstehen, was „nach Ziege“ schmeckt – als ob es nicht Hunderte Ziegenkäse gibt, die nicht „nach Ziege“ schmecken. Und so weiter und so fort. Viele avancierte Küchen wirken so, als ob sie da schon eine Schere im Kopf haben, eine Art vorauseilenden Gehorsam, um auf jeden Fall irgendwelche Schwierigkeiten zu vermeiden. Dass es sehr viele Köche dieser Art gibt, mag man daran erkennen, dass die Speisekarten oft stromlinienförmig diese möglichen Probleme übergehen.

 

Fazit

Eine richtig gute, solide, stabile, überzeugende Spitzenküche sollte Alles nutzen, was es an guten, verwendbaren Produkten gibt und den ständigen Beweis antreten, dass sie mit ihren Mitteln an jeder Stelle und zu jeder Zeit ein Optimum aus den Nahrungsmitteln „herausholen“ kann. Dann würde auch ihr wichtiger Vorbildcharakter noch wesentlich weiter gefüllt werden können. Abgesehen davon würde sie auch viel spannender – dafür gibt es schließlich und gottseidank eine ganze Reihe von Beispielen.

Gerichte, die ein kompletteres Konzept verraten, sehen schon mal etwas anders aus als feinziselierte „Instagram-Teller“. Hier drei internationale Beispiele.

6 Gedanken zu „Stilkritik, Folge 2: Das ganze Spektrum nutzen! Gegen eine kastrierte Spitzenküche für ein genussreduziertes Publikum.“

  1. Ich gebe zu, dass ich auch schlucken musste, als ich vor 40 Jahren einen Hühnereintopf serviert bekam, in den oben hinein der glasig gegarte Krallenfuss gesteckt worden war…….der Artikel und die Anmerkungen von Herrn Krajewski sind genau richtig. Es wird nicht mehr geschmort, dafür weiß man , wie die Bäuerin, von der die Karotte kommt, mit Vornamen heißt. Gelobt seien die Bratkartoffeln meiner lübschen Oma mit leicht geschwärzten Zwiebeln drin…Dem Nichtmehr – Kochen entspricht die Speisekarte mit der reinen Aufzählung von Produkten. Da kann eigentlich keine Vorfreude aufkommen.
    Danke für die Artikel und Grüße,
    H. Sudeck

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  2. Es ist wie überall, man kann mit den Füssen abstimmen. Ich empfehle die saisonale Wildkarte des Hotel de Ville, gebe ich mir 2 x das Jahr, so bleibt das bestehen.

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  3. Schon wieder der Krajewski
    Genussreduziertes Publikum eine geniale Wörterschöpfung

    Diese Bezeichnung hatte ich zunächst falsch verstanden, ich war sogar leicht verärgert, und sie ist auch missverständlich, bei oberflächlichem Lesen. Es könnte nämlich ein Publikum sein, das nicht in der Lage ist, langsam zu genießen, die schlingenden Fresser gewissermaßen, die Spät Burgunder saufen und Früh tot sind, weil sie noch Cola hinein geschüttet haben. Aber ich habe dann kapiert, dass damit die gemeint sind, die sich mit dem zufrieden geben, was die angebliche Spitzenküche so anbietet und auch noch davon schwärmen. Da ist Design im Dasein, geglättete Kreationen, viereckige Gebilde, die nur deshalb ähnlich schmecken, weil sie eben auf der Speisekarte als Fleisch oder Fisch stehen, nicht mehr und meistens weniger. Undefinierte Aromen. Der kreative Commis wird zum Parieren ermahnt und versteht hoffentlich nicht panieren. Wäre vielleicht aber geschmackvoller. Es ist etwas verloren gegangen, an dem früher das Herz haften blieb. Das Herzhafte. Damit meine ich eben nicht überladene Teller mit Fleischtrümmern an fetten Soßen, die zwar sättigen, mit denen man dann den restlichen Abend kämpfen müsste und nachts auch noch. Keine Bratkartoffeln, deren Röstaromen sich aus verbrannten Stücken herleiten. Es ist im Mainstream doch viel in Vergessenheit geraten, wie Jürgen Dollase schreibt: „überzeugende Spitzenküche sollten Alles nutzen, was es an guten, verwendbaren Produkten gibt und den ständigen Beweis antreten, dass sie mit ihren Mitteln an jeder Stelle und zu jeder Zeit ein Optimum aus den Nahrungsmitteln „herausholen“ kann.“ Ein Freund in Maar am Vogelsberg serviert ein Rindskotelett. Respektabel, in jeder Hinsicht, alleine schon, weil er es anbietet. Dollase berichtet vom Schweinsfuß, der, wenn auch übertrüffelt, außergewöhnlich ist. Ich stelle mir vor, wenn vom servierten Bäckeroffa der Deckel abgehoben wird und Schweinsschwanz, Ohren oder eben der Fuß sichtbar wird. Entsetzensschreie: „Ihh, da sieht man ja noch das Tier und überhaupt, diese Körperteile!“ Ein weiterer Freund Detlev Ueter beschreibt in seinem Buch „Lamm und Zicklein“ die „Nose to Tail- Aspekte.“ Es wird eben alles verwertet, wie früher üblich und notwendig. Hoffentlich erreicht das Werk einige Küchen. Siebecks „Verpönte Küche“ trifft die Problematik ebenso. Aber wo soll es herkommen? Ich hatte die Gelegenheit, während des Events „Tag der Ahrtalküche“ Jugendliche aus Schulen des Ahrkreises zu betreuen, die im Wettstreit als Vorgabe Entenbrust Saibling Äpfel und Quitte/Kürbis zubereitet haben. Es ging um regionale Küche und zwar wurde in der von Steinheuer kreativ gekocht. Bravo! Alle Achtung vor den Ergebnissen. Steinheuer meinte:“Wir bringen Schüler aktiv an den Herd und fordern sie zu kulinarischer Kreativität heraus. Wir möchten dabei die Esskultur stärker in den Fokus rücken und letztlich auch den Lehrberuf des Kochs als mögliche Option bei der Berufswahl der jungen Menschen ins Gedächtnis rufen“ https://www.blick-aktuell.de/Berichte/Tag-der-Ahrtalkuecherueckte-die-Esskultur-in-den-Fokus-360033.html
    Mehr davon bitte! Bleibt zu hoffen, dass von den engagierten jungen Leuten einige den Weg in die Spitzenküche fanden. Vielleicht frage ich mal bei HS-Steinheuer nach ob sich jemand gemeldet hat. Wohnt und kocht ja nicht weit weg. Die drei Restaurants die JD bildlich darstellt, sind nicht so schnell zu erreichen. Ach ja: Hans Stefan Steinheuer hat für Betroffene und Helfer der Flutkatastrophe im Ahrtal, monatelang Essen angeboten. Da saß kein genussreduziertes Publikum im Versorgungszelt.

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    • Lieber/liebe T.A.,

      die Bilder sind Beispiele, die ich mit Absicht nicht genannt habe. Aber – hier sind sie. Das erste mit der kompletten Variation ist „Les Crayeres“ in Reims, dann folgt Lamm mit Gemüse in „La Chassagnette“ südlich von Arles und „De Librije“, Jonny Boer mit seinem Seeteufel.
      Gruß JD

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