Wann ist ein Koch ein Koch?

 

Weltstar Alain Ducasse hat ein neues, autobiographisches Buch veröffentlicht. Es hat zwar 234 Seiten, ist aber sehr groß gedruckt und von dem, was man von einer guten Autobiographie erwarten könnte, ein Stück weit entfernt (das gilt übrigens auch für ein kürzlich erschienenes Buch von/über Michel Guérard). Köche sind eben keine Schriftsteller oder Journalisten, und Diejenigen, die ihnen möglicherweise helfen, nicht immer wirklich gut genug. Aber – ich will das nicht weiter ausbreiten. Wer erwartet, irgendwie vertiefte Gedanken über sein Denken, seine Schwierigkeiten und seine Lösungen zu bekommen, wird hier nicht sehr viel finden. Trotzdem ist das Buch natürlich interessant und hat genügend neue Informationen über den höchst beachtlichen Gang der Dinge bei Ducasse. Hier erst einmal der Titel:

Alain Ducasse: Une vie de goûts et de passions. Éditions Jean-Claude Lattès, Paris 2022. 234 S., Broschur, 20 Euro (in französischer Sprache)

 

 

 

Dass ich quasi mit einem Fazit beginne, hat seinen Grund darin, dass ich nur einen wichtigen Aspekt des Buches aufgreifen möchte, nämlich den Bericht über den Flugzeugabsturz von Ducasse am 9. August 1984 und seine Folgen. Ducasse war damals der einzige Überlebende des Absturzes einer mit mehreren Personen besetzten Cessna. Im Buch sagt er, dass er viele Jahre große Schwierigkeiten hatte, über diesen Absturz und seine Folgen zu berichten. Ich selber habe die hier schon vor einiger Zeit veröffentlichten Zusammenhänge erst aus einem Comic-Band über bekannte französische Köche erfahren. Nun berichtet auch Ducasse darüber, dass er nur ganz knapp dem Tod entkommen ist, eine ganze Reihe von Operationen nötig hatte und insgesamt jahrelange Rehabilitationen. Es wurde klar, dass er so wichtige Routinen wie den morgendlichen Einkauf auf den Märkten oder das tatsächlich handwerkliche Kochen nicht mehr leisten konnte. Mit Folgen:

„Ich habe alle meine Rezepte zuerst im Kopf und später dann auf Papier geschrieben, sehr genau, damit sie von Anderen realisiert werden konnten. Ich persönlich konnte nur probieren und meine Eindrücke und meine Ideen im Kopf sammeln… Es war ohne Zweifel jene Zeit, in der ich gelernt habe zu delegieren.“

In gewisser Weise wird nun klar, dass möglicherweise exakt dieses schwere Unglück mittelbar dafür gesorgt hat, dass Ducasse sein weltweites Imperium aufbauen konnte. Schon früh wurde bekannt, dass Ducasse zum Beispiel die Kerntemperaturen gradgenau festlegt. Mit diesem messbaren Parameter wird ein wichtiger Teil der Qualitäten eines Restaurants fixiert – egal wo und in welcher Stückzahl produziert wird und ob der Meister anwesend ist oder nicht. Ich habe früh Berichte darüber bekommen, dass Ducasse von irgendwoher neue Ideen an seine Küchenchefs durchgab und dann bei seinem nächsten Besuch sozusagen das Programm abarbeitete. Dabei galt er immer als recht hart. Die Verantwortlichen durften einmal einen Fehler machen, danach aber nicht mehr. – Wie dem auch sei: es gibt da ein paar interessante Fragen.

 

Wann ist ein Koch ein Koch? Oder gibt es zweierlei Köche?

Das scheinbar offensichtlichste Kriterium für einen Koch, also die Fähigkeit persönlich und ohne Hilfe Gerichte herstellen zu können, wird vor diesem Hintergrund am deutlichsten geschwächt. Es entsteht das Bild des „Executive Chefs“, des ausführenden Kochs, der handwerkliche Anweisungen realisieren kann und alle dazu notwendigen Kochtechniken beherrscht. Wie genau er das beherrscht, macht dann seine Qualifikation aus: in einer Küche wie etwa der von Joachim Wissler müsste er das ganze Spektrum von klassischer Küche bis zur Molekularküche beherrschen. Er wäre dann im Prinzip in der Lage, auch in Abwesenheit des Chefs für eine stabile Qualität zu sorgen. Inwieweit er am kreativen Prozess beteiligt wird/ist, käme dann auf den Einzelfall an.

Die Rolle von Alain Ducasse wäre die eines Kochs, der weiß, was man machen kann und mit diesen Kenntnissen Gerichte entwickelt. Seine Arbeit besteht aus dem Entwickeln dieser Konzepte und der Überprüfung der Realisierungen. Für diese Tätigkeit muss man die Fähigkeit haben, wie ein guter Komponist (nicht alle konnten/können das, aber manche ganz extrem gut) „auf dem Trockenen“ zu konzipieren, also detaillierte Rezepte zu entwickeln. Sodann muss man über überragende Fähigkeiten beim Schmecken verfügen, um das „Werk“ zu einer maximalen Qualität zu bringen. Die Fähigkeit, neue Konzepte zu entwickeln, wäre auf der praktischen Seite dann scheinbar davon abhängig, dass diese Art von Koch über möglichst maximale handwerkliche Kenntnisse verfügt. Ich schreibe „scheinbar“, weil es natürlich auch denkbar ist, dass der Konzeptkoch nicht unbedingt alle Techniken kennt, aber Mitarbeiter hat, die sie kennen. Wer etwa mit dem Pacojet nicht komplett vertraut ist, könnte gleichwohl wissen, was man mit diesem Gerät an Ergebnissen erzielen kann und ihre Verwendung in seinem Konzept berücksichtigen. Insofern könnte dann in letzter logischer Konsequenz auch jemand Chef einer Küchenbrigade sein, der im klassischen Sinne nicht oder nicht auf wirklich hohem Niveau kochen kann.

 

In der Realität gibt es vor allem viele Mischformen

Ein Blick auf die Realitäten in den besten Restaurants zeigt viele unterschiedlich ausgeprägte Mischformen. Natürlich gibt es den Küchenchef, der buchstäblich jedes Detail eines Rezeptes selber festlegt und ausprobiert. Sehr viel häufiger sind Köche, die neue Elemente selber machen (oder gemeinsam mit Mitarbeitern), bei anderen Elementen aber auf das zurückgreifen, was ihre Leute problemlos liefern können. Im Alltagsgeschäft, also der Reproduktion, reicht die Spanne selbst in der absoluten Spitze von voller Mitarbeit des Chefkochs bis zu einer mehr oder weniger genauen Überwachung des Endergebnisses am Pass. Beim kreativen Prozess gibt es ebenfalls das ganze Spektrum. Es reicht von 100%igen Umsetzungen vorgegebener Gerichte über minimale Verbesserungsvorschlägen aus der Brigade bis zur – wenn auch eher seltenen – kompletten Übernahme von Rezepten eines Mitarbeiters, die dann gleichwohl als Leistung der Küche/des Küchenchefs „verkauft“ werden. In jedem Falle bleibt der Küchenchef die „Marke“, unter der das Essen verkauft wird.

 

Was ehren die Restaurantführer, zum Beispiel der Guide Michelin?

In diesem Zusammenhang ist natürlich interessant zu sehen, was die Restaurantführer eigentlich ehren. Bei Michelin geht die Ehrung ganz klar an die Küche – und ist damit komplett unklar, vor allem dann, wenn man bedenkt, dass in der Realität der Sternekoch als Person, das Starsystem von Michelin im Vordergrund steht. Während die Ehrung der Küche – zumindest theoretisch – noch ein wenig offen hinsichtlich der Personen ist, bedeutet die Realität eben auch – siehe Ducasse – dass Konzeptköche ausgezeichnet werden, die unter Umständen die ausgezeichneten Küchen eher selten von Innen sehen. Das – soviel ist sicher – entspricht in keinster Weise dem Bild von Spitzenköchen, das man in der Öffentlichkeit kultiviert. Dass die Lage dem ein oder anderen Starkoch bewusst geworden ist, sieht man daran, dass sie – in eher seltenen Fällen – dazu übergegangen sind, den eigentlichen Restaurantkoch stärker in den Mittelpunkt zu stellen. Fakt bleibt aber, dass im Prinzip auch ein Nicht-Koch im klassischen Sinne oder ein Konzeptkoch mit eher traditionellen, beschränkten technischen Möglichkeiten allerhöchste Auszeichnungen bekommen kann. (eine Verpflichtung, auch den ausführenden Küchenchef zu nennen, wäre da in jedem Falle ein Fortschritt).

 

Was ist mit den Auswirkungen? Kann ein Konzeptkoch wirklich sein Niveau halten und aktualisieren?

Ich bin mir nicht so ganz sicher, dass man ohne praktische Arbeit in allen Details den gleichen Blick auf die Dinge hat, wie umgekehrt. Ist es so wie bei Instrumentalisten, die einfach immer üben müssen, um ein maximales Niveau zu halten? Oder reicht das grundsätzliche Know How bei einem Koch aus? Die Qualität der Ducasse-Arbeiten in seinen diversen Restaurants hat auf mich immer ähnlich und immer ein wenig merkwürdig gewirkt. Es gab Überragendes, aber auch immer wieder und bei jedem Besuch Gerichte, die so schwach und/oder fehlerhaft waren, dass ich das komplett unverständlich fand. Die Schwankungen würden eventuell für eine Schwäche des Konzeptkoch-Systems stehen. Stabilität vielleicht dafür, dass der ausführende Chefkoch eigene Anteile an den Gerichten hat, die er präziser im Griff hat als die aus der Hand seines Chefs. Natürlich spielt sich das alles auf einem hohen Niveau ab, aber im Vergleich mit klaren Autoren-Küchen sind die Unterschiede dann eben doch manchmal bemerkenswert.

1 Gedanke zu „Wann ist ein Koch ein Koch?“

  1. Hier finde ich das „System Caminada“ ehrlicher, der die Köche auf Schauenstein in seinem Sinne trainiert und perfektioniert, sie dann aber eindeutig als kreative Chefs in seinen Restaurants vorn positioniert.

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