Was Sie immer schon glaubten, über Pizza nicht wissen zu müssen. Nathan Myhrvold und sein Pizza-Grosswerk

Folge 1: Die Übersicht

Im Moment wird weltweit an zwei ganz großen kulinarischen Wissenssystemen gearbeitet (zumindest soweit man das an den Publikationen erkennen kann). Da ist einmal Ferran Adrià und seine ElBulli-Foundation und die enorm aufwändige Arbeit an Bullipedia (dazu demnächst wieder mehr), und dann Nathan Myhrvold mit seiner „Modernist Cuisine“. Während Adrià nichts weniger als die gesamte Kochkunst systematisieren will, geht es bei Myhrvold um eine vor allem naturwissenschaftlich fundierte Ausweitung und Vertiefung dessen, was wir bisher unter Kochkunst im engeren Sinne verstanden haben. Und weil Myhrvold gleichzeitig auch noch Fotograf und an jeder Innovation interessiert ist, hat er der Welt wunderbar anschauliche Bücher geschenkt (das muss man schon so sagen…), die so aufwändig hergestellt sind, dass man sich das ganze Projekt nur als ein globales vorstellen kann. Und – der Erfolg ist da. So, wie viele Hoteliers sagen, dass ihre besten Suiten am meisten Umsatz bringen, scheint es auch mit manchen Büchern zu sein: wenn alles nur groß und spektakulär genug ist, kann man es auch verkaufen. Als Adrià zum Selbstverlag überging, kam in seine Finanzen ein Schwung, den er mit dem Restaurant nie realisieren konnte – sagt man zumindest. Bei Myhrvold wird so eine gigantische Forschung finanziert.

Während Ferran Adrià Buch um Buch seiner Bullipedia-Reihe veröffentlicht, liegen von Myhrvold „erst“ drei Kassetten (plus Kurzversionen) vor. „Modernist Cuisine“ von 2011 hatte 2.478 Seite. „Modernist Bread“ von 2017 2.643. Das neue „Modernist Pizza“ hat 1.708 Seiten. Wenn er sich in Zukunft mit ähnliche Detailthemen befasst, wird er noch sehr, sehr viele Cassetten füllen können. Beide Aktivisten beweisen nachhaltig, dass das kulinarische Wissen riesig ist, und dass es bisher bei weitem noch nicht erforscht wurde. Inwieweit dieses „neue“ Wissen sofort oder vielleicht erst später eine große Bedeutung bekommt, wird man immer diskutieren können und müssen. Der neapolitanische Pizza-Bäcker, der seit Jahrzehnten oder länger exakt immer die gleiche Pizza macht und sein Rezept auch an seine Nachfolger in der Familie weitergeben wird, wird vor einem Werk wie „Modernist Pizza“ vermutlich ratlos stehen.

Nathan Myhrvold/Francisco Migoya: Modernist Pizza. The Cooking Lab, Bellevue 2021/Deutsche Erstausgabe 2022. 1.708 S., geb., drei Bände im Schuber plus Rezept-Ringbuch. 375 Euro

 

In dieser ersten Folge werde ich die Gliederung des Buches und einige Bilder zeigen. In der nächsten Folge geht es dann um Details – unter anderem natürlich bei den vielen Rezepten.

 

 

Band 1 befasst sich mit „Geschichte und Grundlagen“. Er beginnt mit der „Geschichte der Pizza“, einem Kapitel, für das Myhrvold bereits rund 80 Seiten braucht. Das ist natürlich leicht nachvollziehbar, weil sich die Verbreitung der Pizza weltweit entwickelt hat und die Pizza neben dem Hamburger zu den bekanntesten Zubereitungen der Geschichte zählt.

Diese Realitäten nimmt Myhrvold dann auch auf und befasst sich in Kapitel 2 mit der „Welt der Pizza“ und in Kapitel 3 mit „Pizzareisen“ zu den wichtigsten Quellen der Pizza heute und den wichtigsten Protagonisten der Pizza – natürlich auch ausführlich in Italien und anderen großen Pizza-Kolonien. Wie immer forscht Myhrvold nicht nur in der Küche, sondern zeigt eine ähnliche Sorgfalt beim Zusammentragen von Material wie etwa historischen Fotos.

Der Bereich der Grundlagen beginnt in Kapitel 4 mit den Zutaten für den Pizzateig. Hier geht es bei weitem nicht nur um Mehlsorten, sondern vor allem um die in allen physikalisch-chemischen Details aufbereiteten Vorgänge beim Einsatz von Mehl, die Entwicklung des Teigs beim Erhitzen usw. usf. Wie immer illustriert Myhrvold mit vielen originellen Bildern, hier speziell Anschnitte von unterschiedlichen Teigen, Fehler bei den Teigen, Auswirkungen des Belags auf den Teig etc. Das mag auf den ersten Blick sehr technisch-sophisticated klingen, entschlüsselt sich bei der Lektüre aber ganz entspannt. Ja, das spielt alles eine Rolle, und hier erfährt man, wieso und warum. Und – sagen wir es so: der Abstand zu jeder Form von Fertigpizza wird mit jeder Seite, die man liest, größer. Es folgen in Kapitel 5 dann noch die Pizzaöfen – vergleichsweise knapp dargestellt.

 

 

Band 2 geht dann mit „Technik und Zutaten“ an die Pizza-Herstellung. Ich erinnere mich da an einen Text in einer überregionalen Zeiitung, in der darüber berichtet wurde, dass ein Koch Pizza ganz besonders präzise herstelle und auf jede Menge von Details achtet. Diese Details waren dann auch auf der einen Seite zusammengefasst. Hier bei Myhrvold sind es 437 Seiten. Und – ich wiederhole mich da gerne – man hat nie den Eindruck, es würde zu weit „über die Dörfer“ gehen. Vielmehr hat man eher den Eindruck hat, es ginge ihm auch darum, ein präziseres, besseres Verständnis der Kochkunst zu erzeugen, um am Ende des Tages eine Verbesserung der Lebensmittelherstellung zu erreichen, die sich sozusagen zu einem weiten Teil durch eine präzisere Beherrschung der Materie ergibt. Wir sagen in kritischen Fällen gerne, dass ein Koch „nicht kochen kann“ und meinen damit einerseits meist technische Fragen, wie etwa Garzeiten, andererseits aber oft auch geschmackliche Perspektiven, ohne dass wir das üblicherweise weiter ausführen. Bei Myhrvold ergeben sich die Sachen erst einmal aus ihrer wissenschaftlichen Logik heraus. Wer nach seinen Erkenntnissen arbeitet und nicht unbedingt kreative Lösungen sucht, sollte eigentlich ein sehr guter Koch werden. Gar nicht vorstellbar, dass man in einer Art „Myhrvold-Welt“ irgendwo eine Pizza bestellt, und sie käme und wäre gut – überall. Kapitel 6 widmet sich also der Herstellung des Pizzateigs, Kapitel 7 liefert Rezepte für Pizzateig, in Kapitel 8 geht es um die Sauce, in Kapitel 9 um den Käse, in Kapitel 10 um „Beläge“ und in Kapitel 11 zum Abschluss von Band zwei um das „Pizza Backen“.

 

 

Band 3 ist den Rezepten gewidmet und hat nur drei Kapitel. In Kapitel 12 (die Kapitel sind durch alle drei Bände durchnummeriert) geht es um „Kultrezepte“. Auf rund 60 Seiten werden hier die großen Pizza-Klassiker behandelt und – natürlich – optimiert, wobei es am Ende auch darum geht, wie man Pizza am besten isst… Kapitel 13 ist den „Geschmackswelten“ gewidmet, also den „Verirrungen“ – wie das Puristen salopp ausdrücken würden. Hier folgt bis Seite 289 Pizza auf Pizza, mit allen technischen Details, alles nach einem eigenen Schema erfasst, also so, dass gegenüber den „normalen“ Rezepten die ganze Distanz dieses Ansatzes sichtbar wird. Es geht immer und bei jedem Rezept um Optimierung und präzise Reproduktion. Gerade Letzteres spielt ja bei vielen der üblichen Rezepte leider kaum eine Rolle. Nach Kapitel 14, das dem „Servieren und Aufbewahren“ gewidmet ist, schließt der Band mit einer größeren Zahl von Tabellen ab – zum Beispiel mit dem Nährwert, Umrechnungstabellen, Glossar etc.

 

 

Soweit die Übersicht. Teil 2 mit Anmerkungen und Kritik im engeren Sinne folgt demnächst.

 

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