Christian Brandstätter: Das Wiener Kaffeehaus. Brandstätter-Verlag, Wien 2020. 312 S., geb., Ganzleinen, Großformat mit marmoriertem Buchschnitt. 60 Euro (bis 31.12.20, danach 70 Euro)

„Ich weiß nur das eine; wie sich auch die Zeiten ändern mögen: das Caféhaus in Wien bleibt.“ (Zitat auf dem Rücktitel)

Christian Brandstätter, mittlerweile 77-jähriger Chef des Wiener Verlages und großer Sammler historischer Fotographien und Dokumente hat selbst Hand angelegt und einen wunderschönen Band über die Wiener Kaffeehäuser herausgebracht. Schon bei der Ausstattung meint man zu merken, dass dies ein Chefbuch ist. Der schönen Aufmachung folgt ein bild- und textgesättigter Inhalt dieser gastronomischen Wunderwelt, die sich im Grunde als soziale Institution hiier und da sogar noch besser gehalten hat, als die Pariser Brasserien.

Es gibt mehrere Aspekte, die dieses Buch besonders empfehlenswert und wichtig machen. Da ist einmal das Coffeetable-Book par excellence, in dem man wegen der interessanten Bilder immer wieder blättern und sich gleichzeitig bei Bedarf jederzeit in die Texte vertiefen kann. Das Buch hat Niveau und übertrifft deshalb bei weitem manch ein reines Bilderbuch. Wer sich für das Thema interessiert und dieses Buch auf den Knien hat, kann darin versinken.

Dann geht es natürlich um die Wirkung eines solchen Buches in Corona-Zeiten. Wer ein ausgeprägtes Gespür für gastronomische Highlights aller Art hat, und in den großen Städten dieser Welt immer wieder die typischen lokalen gastronomischen Institutionen aufsucht, wird mit Wehmut an Wien denken. Natürlich gibt es dort Kaffeehäuser, die in jedem Touristenführer verzeichnet sind und um die man mittlerweile einen Bogen machen muss, weil sie exakt das, was sie so besonders gemacht hat, nicht mehr besitzen. Wenn ein Kaffeehaus von – pardon – dämlichen Touristen überfüllt ist, die es nicht nutzen, sondern sich wie in einem Museum (oder bei Madame Tussauds) benehmen, werden sich die echten Nutzer, für die die regelmäßigen Besuche zu ihrem Leben gehören, nicht mehr einstellen. Es gibt natürlich Mischformen, und es gibt noch recht authentische Häuser, es gibt „gute“ Tageszeiten und hintere Räume, die man besucht, während man die Plätze an der Galerie den Touristen überlässt. Noch ist jedenfalls nicht alles verloren. Und wer dann – sich dezent zurückhaltend – erlebt hat, wie eine solche Gastronomie funktioniert und vor allem, welche soziale Funktion sie hat, wird in seinem gastronomischen Herzen immer einen Platz für das Wiener Kaffeehaus haben. Von heute aus wird die Wehmut ganz besonders groß sein. Wenn Tägliches fehlt, wird die Entfernung schnell ganz besonders intensiv gefühlt.

Womit man an dem Punkt wäre, wo es heißen müsste: „Vom Wiener Kaffeehaus lernen heißt für die ganze Gastronomie lernen.“ Müssten nicht alle möglichen Gastronomie-Formate etwas von solchen sozial-kulturellen Institutionen haben? Müsste es nicht auch mehr Restaurants geben, in denen man nicht nur abgespeist wird, sondern die in ihrem kulinarischen wie kulturellen Angebot völlig anders strukturiert sind? Sollten nicht mehr Gastronomien ihre Arbeit mit anderen kulturellen Aspekten verknüpfen? Ist es nicht denkbar, dass auch kreative Restaurants ganztägig geöffnet sind, dass man seine Zeitungen oder Bücher liest, dass es Bibliotheken gibt, dass es ein Kulturprogramm gibt usw. usf.

Man kann rund um die gastronomisch-soziale Institution „Wiener Kaffeehaus“ jedenfalls schnell in allerlei inspirierte Gedanken verfallen.

Das Buch
Was erst einmal am meisten verblüfft, ist die schiere Zahl von Bilddokumenten, die hier zusammengetragen wurden. Das Buch ist aber keine Übersicht über die aktuelle Kaffeehaus-Lage in Wien, sondern erzählt dessen Geschichte als Institution mit diversen, sehr spezifischen Merkmalen. Es geht von den Ursprüngen bis in die Jetztzeit, wobei aber – wen wundert‘s – die Jetztzeit nicht unbedingt als Hochzeit dieser Institution gesehen wird. Wesentlich sind die genannten Merkmale, die mit Hilfe von Aufsätzen diverser Autoren von André Heller über Joachim Riedl bis zu Heimito von Doderer und Erich Bernard beleuchtet werden. Es geht um Themen wie „Psychogramm einer Wiener Institution“, „Sehnsuchtsort Kaffeehaus“, „Vom Zeitunglesen im Kaffeehaus“, „Das Leben im Kaffeehaus“, „Vorstadt- und Nacht-Cafés“, „Vom Schachspiel“, „Rauchen im Kaffeehaus“, Das Kaffee als Gesamtkunstwerk“, „Stammgast und Stammtisch“, „Oberkellner & Piccolos“ oder „Ein Klassiker erfindet sich neu“.

Besonders beeindruckend sind natürlich Bilder und Texte aus der Hochzeit der Kaffeehäuser um das Jahr 1900 („Die goldene Ära der Wiener Künstler- und Literatencafés um 1900“), als sich in manchen von ihnen noch ein wesentlicher Teil der Kultur abspielte, als sich eben nicht nur Künstler und Literaten trafen, sondern auch Politiker und alle möglichen anderen Geistesgrößen. Da entstanden dann nicht nur Geschichten, sondern da wurde Geschichte geschrieben. Natürlich gibt es so etwas auch heute noch, aber eben nicht in dieser konzentriert-konsequenten Form und oft genug auch in Etablissements, die moderner oder unauffälliger sind und dem passierenden Touristen erst einmal nicht wie eine Sehenswürdigkeit vorkommen, Etablissements, die keine „Gesamtkunstwerke“ sind. Außerdem ist der rauchende und Kaffee trinkende Denker heute nicht mehr unbedingt ein verbreitetes Bild. Wie dem auch sei: man vemißt solche Institutionen hier wie in Paris oder anderswo, und sie haben es schwer, gegen die Online-Informationen und Instagram-Bilder, die auch noch den letzten Ort dieser Welt entfunktionalisieren und zum wahllosen Spielball des Voyeurismus machen.

Man sollte mehr geschlossene Clubs gründen oder auch vor Kaffeehäuser Türsteher stellen, die dafür Sorge tragen, dass alles einigermaßen im Lot bleibt. Ich selber stamme aus einer Generation, in der wir schon als 16, 17-jährige Schüler mit der „Zeit“ unter dem Arm herumliefen und ein Café in der Nähe des Gymnasiums zu einem Literaturcafé umfunktioniert hatten. Weil es von uns eine ganze Reihe gab, blieben dann ein paar von den „Alten Tanten“ weg, die dort ihre Torten aßen. Irgendwann nahm das Überhand, und wir wurden in unseren diskutierfreudigen Verhaltensweisen eingeschränkt. Man zog dann in eine Art Jazz-Kneipe um. Das war auch nicht schlecht.

Das Buch ist zwar rezeptfrei und passt nicht in die hier üblichen Kategorien, bekommt aber dennoch 3 grüne BBB

Fotos © Brandstätter-Verlag

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