Das Rezept für den Erfolg der „Librije“ in Zwolle. Als Buch.

Joel Broekart/Gijs Dragt: De Librije. Het Recept. W Books, Zwolle 2023. 240 S., geb. Hardcover, ca. 40 Euro (in niederländischer Sprache)

Zuerst etwas zum Titel des Buches. Er ist im übertragenen Sinn gemeint – auch wenn in diesem Buch eine ganze Reihe von Rezepten zu finden sind. Inhalt ist eigentlich, wie man so etwas wie das berühmte niederländische Restaurant „De Librije“ in Zwolle so viele Jahre auf höchstem handwerklichen und kreativen Niveau hält. Es ist das Rezept des Erfolges von Thérèse und Jonnie Boer. Dieses Buch gibt das sehr gut wieder, und zwar – Sprache hin, Sprache her – in vielen, atmosphärischen Bildern. Soweit die möglichst sachlich beschriebene Ausgangslage. – Die harten Fakten sind noch klarer. Jonnie Boer (Jg. 1965) begann 1986 seine Arbeit in der „Librije“ – damals unter Ed Meijers. 1989 stieg er zum Küchenchef auf. Wenig später kam seine spätere Frau Thérèse ins Restaurant, das sie dann 1992 gemeinsam kauften. Der erste Stern kam sofort, der zweite 1999, der dritte 2004. Das klingt nach stromlinienförmiger Karriere, nach einer intensiven Fokussierung auf den klassischen Werdegang eines Spitzenkochs. Dem ist aber nicht so – einerseits. Andererseits gibt es hier nämlich eine Mischung aus klassisch-handwerklicher Qualität und Kreativität wie man sie ganz selten findet, und sie ist gepaart mit dem, was die – sagen wir: Möchtegern-Wilden in der avancierten Küche gerne als „Rock ‚n‘ Roll in der Küche“ bezeichnen. Thérèse und Jonnie Boer stehen eben schon immer einer sehr frei verstandenen Kunst nahe, sie sind eigenwillig, lassen es gerne auch mal krachen und passen in keinerlei Schublade.

Da ist viel Energie im Spiel, bei Jonnie Boer auch immer mal so etwas wie eine Unruhe. Er scheint Ventile zu brauchen, immer wieder neue Ideen, immer wieder große und kleine Ziele, ist dabei aber zutiefst konzentriert.

Und dann ist da eben dieser Hintergrund, die zweite wichtige Ebene, die man nicht so einfach sehen kann wie spektakulär eingerichtete Räume in dem ehemaligen Gefängnis, in dem sich die „Librije“ heute befindet. Man kann sich gut vorstellen, dass die beiden von der Sorte sind, die man gerne zu Freunden hat, zuverlässig, jederzeit bereit, sich für etwas einzusetzen. Es gibt eine enorme Konzentration und Ernsthaftigkeit in der Arbeit, die man vor allem bei Jonnie Boer immer wieder bemerkt. Die Sache beschäftigt ihn, da kann passieren, was will. Sie beschäftigt ihn in jedem Falle, und er wird den größten Lobeshymnen nicht glauben, wenn er selber weiß, was er will und tut. Das war immer so, das wird wohl auch so bleiben. „Intrinsische Motivation“ nennt man das, und diese Art der Motivation ist wirklich eine Gabe, über die man nur immer wieder sehr glücklich sein kann. Sie ahnen es, liebe Leserinnen und Leser: ich selber gehöre auch in diese Abteilung, deren Mitglieder auch ohne Publikum und auf einer einsamen Insel von früh bis spät an irgendetwas arbeiten würden.

 

 

Das Buch

Insgesamt vermittelt dieses Buch die Geschichte der „Librije“ und die von Thérèse und Jonnie Boer und deren „Rezept“, so gradlinig erfolgreich und dabei immer in Bewegung zu sein. Die eigentlichen Rezepte sind eher eingestreut und verpackt, und zwar in den Abteilungen „Klassiker“ (14 Rezepte von 1997 – 2015), „Neue Klassiker“ und 8 Amuse. Die Bilder beginnen mit Aufnahmen aus der „alten Librije“, die ja nur wenige Meter von der aktuellen entfernt liegt, und den ersten Bildern aus dem Archiv. Früh eingestreut beginnen auch die Berichte über die Lieferanten, die bei der „Librije“ schon sehr früh aus der unmittelbaren Umgebung stammten, Jonnie Boer eine enge Beziehung zum Material ermöglichten und eine ganze Reihe von Spezialitäten ins Haus brachten. Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen – vor allem auch in den historischen Zusammenhängen. Während Kollegen – gerade auch in Deutschland – aus dem Lieferwagen der Lieferanten lebten und mehr oder weniger erfolgreich und mehr oder weniger verkrampft versuchten, die französischen Vorbilder nachzuahmen, ging es hier an die Produkte der Gegend. Vielleicht ist es ja dieses Rückgrat, diese feste Verankerung in der Region, die wesentlich für die Qualität verantwortlich wurde. Im Vorwort nennt übrigens der Autor Thérèse und Jonnie Boer „Authentische Regionalprodukte“. Es ist jedenfalls kein Wunder, dass man in der „Librije“ schon früh den Eindruck hatte, hier würden erstens ganz besonders gute Produkte zum Einsatz kommen, und zweitens solche, die eine klare regionale Färbung hatten, also nicht wie die Großhandelsware bei uns schmeckten.

Bei Jonnie Boer ist die Verbindung zu den Lieferanten auch keine mehr oder weniger abstrakte, die man wegen Fotos kurzfristig wiederbelebt. Bis auf den heutigen Tag ist er mit bei der Arbeit, ob auf dem Wasser oder im Wald, und er hat mir bei meinen diversen Besuchen immer wieder einmal Lieferanten vorgestellt. Ganz langsam taucht dann im Buch eine weitere wichtige Ebene auf, nämlich die der Mitarbeiter. Alle reden von Corporate Identity und der wichtigen Bedeutung der Mitarbeiter für ihr Entstehen. Anders als in den steifen oder forciert lockeren Verhältnissen in vielen Firmen ist man in der „Librije“ Mitglied einer „Familie“, die allerdings nicht unbedingt dem klassischen Bild entspringt. Hier wird hart gearbeitet und hart gefeiert, und das Ganze hat einerseits mit sehr viel konsequenter Arbeit zu tun, andererseits aber dies auch in einer Atmosphäre und Denkweise, die meilenweit von den „weißen Kochmützen“ klassischer Art und ihren Hierarchien entfernt ist.

 

Was dann im letzten Drittel des Buches auch immer deutlicher wird. Die Gerichte werden immer faszinierender und sehen irgendwie aus wie die Zusammenfassung eines Lebens, wie etwas, das nur so entstehen konnte, weil man schon lange Jahre so arbeitet, wie man gearbeitet hat. Es entsteht das Bild einer Community, die ein modernes, zeitgenössisches Leben verfolgt und verfolgt hat, mit Chefs, die nie stehengeblieben sind und bei den Personalfesten nun wirklich mittendrin stehen. Man fragt sich dann natürlich wieder, ob wir bei uns Vergleichbares besitzen (nicht: ob wir Vergleichbares besitzen müssen) und verneint. Und gleichzeitig fallen mir zwei Bilder ein, die irgendwie charakteristisch für das Ganze sind (neben der schon beschriebenen kulinarischen Qualität):

– Jonnie Boer sagte mir einmal im Zusammenhang mit der Akzeptanz seiner Küche in den Niederlanden: „Wir haben hier etwas sehr Schönes. Da gibt es junge Leute, die sagen sich, jetzt wollen wir einmal richtig dieses Drei-Sterne-Ding kennenlernen. Und dann kommen die, Essen alles, was es gibt und trinken die richtig guten Sachen dazu. Das kostet dann allerlei. Aber hinterher können sie sagen, dass sie wissen, um was es sich da handelt.“ Es ist ein wenig die niederländische Mentalität, die uns da begegnet und ein wenig der Verdacht, dass auch die „Librije“ sehr niederländisch ist und bei uns deshalb kaum vorstellbar. Hier gibt es eben einerseits das wohlhabende, kultiviert auftretende Bürgertum in einer bei uns eher selten zu findenden Stringenz. Andererseits aber eben auch eine Jugend (oder eine Szene), die schon immer einen sehr viel lockereren Kern als bei uns hatte.

 

– Womit man zu Erinnerung zwei käme, den Joints. Jonnie Boer reichte – schon in der alten Librije – als Snack nach dem Dessert Joints („Sticks“), perfekt gedreht, sogar mit Hanf und nur nicht mit Gras o.ä. Da saß man dann manchmal mitten in einem Gastraum voller seriös gekleideter Gäste und blickte in eine Runde, in der sie alle einen Joint in den Händen hielten….Das fand ich natürlich sehr gut. Als ich dann einmal Jonnie Boer bei der FAZ-Gala als „Koch des Jahres Ausland“ präsentiert habe, habe ich in gefragt, ob er nicht als speziellen Gag und am Ende des Menüs bei der gemeinsamen Vorstellung der Köche Joints verteilen könnte. Ich habe dann am Abend und am Ende des Menüs unterbrochen und gesagt, Jonnie hätte noch etwas für die Gäste mitgebracht. Wenig später sah man von der Bühne aus in ein Publikum, das nur aus Köpfen und Joints zu bestehen schien…

So ist das eben mit den Leuten von der „Librije“. Das Buch gibt das wieder, mit exzellenten Rezepten, eingebettet, aber nicht überdreht. Etwas zum Lesen und Genießen, nicht Jedermanns Sache vielleicht, aber ein „Rezept“, das funktioniert hat und funktioniert und zeigt, dass ein Spitzenrestaurant eben nicht nur ein einfacher Arbeitsplatz ist.

Fotos: Gijs Dragt/De Librije

 

2 Gedanken zu „Das Rezept für den Erfolg der „Librije“ in Zwolle. Als Buch.“

  1. Das ist in der Tat ein großartiger Laden. Lustig finde ich nicht nur die essbaren Joints, sondern auch die interessanten Spielzeuge in den Nachtschränkchen der früheren Zellen des Gefängnisses. Und an die Kaninchennieren mit Epoisses muss ich immer wieder denken. Diese Kombination von exzellentem Handwerk, großartiger Kreativität und bis zur Selbstironie reichenden Entspanntheit wäre in Deutschland kaum denkbar.

    Antworten

Schreibe einen Kommentar