Der Spiegel ist auch bei kulinarischen Themen in einer Schieflage

Relotius ist nicht das einzige Spiegel-Problem, und der journalistische Betrüger vielleicht auch ein Symptom für die Schwächen eines Systems, in dem häufig mehr gewollt wird, als man leisten kann oder zu leisten bereit ist. Auf ähnliche Zusammenhänge hat im Spiegel Nr. 52 dann auch Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo hingewiesen. Er meinte sinngemäß, dass die wortreichen Aufklärungen des Spiegels zum Thema Relotius selbst auch schon wieder ein Teil des Problems seien – etwas überdramatisiert in der Darstellung, zu wenig zurückhaltend, zurückgenommen und irgendwie schon wieder dabei, selbst diese hochnotpeinliche, desaströse Geschichte wieder besonders gut zu verkaufen.

Bei kulinarischen Themen ist der Spiegel schon lange in Schieflage. Das beweist auch wieder eine Geschichte über Massimo Bottura von der „Osteria Francescana“ in Modena, die Nr. 1 der Welt in den „The World’s 50 Best Restaurants“, im gleichen Heft wie die Aufklärungsbemühungen rund um den Relotius-Fall. Da geht es munter weiter wie bisher, und das war und ist – speziell im kulinarischen Bereich – eine ziemliche Katastrophe.

Der kulinarische Spiegel I: Wenig wissen, aber genau das Gegenteil inszenieren
Ein typisches Merkmal der kulinarischen Spiegel-Berichterstattung ist der gewaltige Zeitverzug. Massimo Bottura ist seit gut zehn Jahren ein ganz großes Thema. Seit 2005 hat er einen zweiten Michelin-Stern, was bei einer kreativen Küche diesen Ausmaßes immer bedeutet, dass sich dort Hochinteressantes tut. Ab 2010 glänzte er mit Adaptionen rund um die Arbeit des italienischen Malers Lucio Fontana. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte man in einer Zeitschrift wie dem Spiegel auf die enorm interessanten, damals sehr kunstnahen Arbeiten Botturas eingehen müssen. Nun kommt man im Jahr 2018 mit einer großen Geschichte und erweckt dabei unbedingt den Eindruck, als ob man etwas ganz Neues entdeckt habe.

Wie quasi alle kulinarischen Einlassungen des Spiegels ist auch diese Geschichte nicht gerade von überragender Sachkenntnis und Überblick geprägt. Von den eigentlichen kulinarischen Informationen, von seinem revolutionären regional geprägten Ansatz und vor allem auch von seiner Stellung in der internationalen kulinarischen Szene erfährt der Leser so gut wie gar nichts. Der Reporter scheint nie ein Rezept Botturas gelesen und vor allem nicht begriffen zu haben, was die Küche Botturas mit dem Esser macht und wie intensiv sie mit dem assoziativen Kontext spielt. Auch die Dimensionen für die Zukunft der Ernährung, die für Bottura längst eine Rolle spielen, kommen quasi nicht vor oder sind offensichtlich nicht verstanden.

Der kulinarische Spiegel II: Dem Boulevard näher, als man vielleicht glaubt
Die Informationen, die man tatsächlich erhält und die eindeutig den Tenor des Textes ausmachen, erinnern ganz eindeutig an die Arbeit von Boulevard-Medien wie Bild und Bunte. Da geht es um das Auto Botturas, seine berühmten Freunde in der internationalen Schickeria, um viel persönliche Attitüde, um eine ganze Liste seiner musikalischen Vorlieben oder um die zeitgenössische Kunst, die er besitzt. Dieses Boulevard-Bild durchzieht den ganzen Text und bildet den eigentlichen Inhalt – nicht etwa Botturas kulinarische Entwicklung, Wirkung oder Bedeutung. Es entsteht das Bild von einer Art Unterhaltungskünstler. So berichtet man auch über Schlagersänger und ähnliche Phänomene, deren Inhalt sich nicht mit dem deckt, was man anscheinend beim Spiegel für Hochkultur hält. Ähnlich strukturierte Geschichten rund um die Stars der Hochkultur (die wesentlich mehr hofiert werden) sind mir nach Jahrzehnten Spiegel-Lektüre nicht in Erinnerung.

Offensichtlich fehlt dem Spiegel in kulinarischen Dingen jene Sachkenntnis, die ihm in anderen Bereichen eher zugestanden wird. Sie fehlt ihm vermutlich deshalb, weil er den Übergang von der klassischen Lecker-Schmeck-Küche zu wesentlich kreativer und künstlerischer gedachten Küchen übersehen hat, und dies vermutlich aus den gleichen Beweggründen, die in vielen Redaktionen im Kulturbereich zu finden sind. Man ißt gerne, übersieht aber komplett die kulturellen Implikationen einer entwickelten Kochkunst. In der banalisierenden Weise darauf zu reagieren, die jetzt wieder Bottura trifft, ist journalistisch schwach.

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