Dessertpolitik

Formal ist Jessica Préalpato seit 2015 die Patissière von Alain Ducasse im „Plaza Athénée“ in Paris gewesen, hatte also einen der Posten mit dem höchsten Prestige in der Patisserie-Welt inne. Alain Ducasse ist sicher nicht der beste aller Patissiers, dazu fehlt ihm – wie vielen Köchen – einfach auch die spezielle handwerkliche Grundlage, die sich ja in den letzten rund 15 Jahren noch einmal erheblich ausgeweitet hat. Aber – er hat ein dezidiertes Verhältnis zu dem, was gute Arbeit im süßen Bereich ist, und dieses Verhältnis ist anders, als bei vielen seiner Kollegen. Insofern ist das Buch von Jessica Préalpato eine Besonderheit. Hier erst einmal die Daten:

Jessica Préalpato: Desseralité. Ducasse Edition, Levallois-Perret 2020. 280 S., geb., Hardcover, 45 Euro (in französischer Sprache)


Der Titel des Buches ist eine Wortschöpfung aus „Naturalité“ und „Dessert“. Damit wird sofort klar, dass der Bezug zu dem „Naturalité“ – Programm hergestellt ist, das Ducasse in den letzten Jahren für das Plaza Athénée entworfen hat. Man muss diesen Begriff erläutern, weil er nicht zwangsläufig zum Beispiel viel mit dem Begriff „Bio“ bei uns und in anderen Ländern zu tun hat. Der Ansatz von Ducasse ist natürlich auch ein ökologischer, und ihm wie quasi allen bedeutenden Köchen ist „Bio“ schon von Natur aus sehr nahe. „Natürlichkeit“ muss man bei Ducasse aber sehr viel kulinarischer verstehen. Er meint die direktere Verwendung von Produkten, die nicht so stark bearbeitet werden und mehr von ihrem Eigengeschmack behalten dürfen. Eine der typischen Techniken ist die der Variation von Aggregatzuständen (wie ich das vor etlichen Jahren definiert habe). Es gibt das Produkt also zum Beispiel roh, geschmort im eigenen Saft, getrocknet, als Pulver, den Saft reduziert zu Saucen oder den Saft zu Eis verarbeitet – in diesem Buch zum Beispiel auch einmal die abgezogene Haut von Pfirsichen noch weiter verarbeitet. Es ist klar, dass eine solche Patisserie wenig mit den traditionellen „Bastelarbeiten“ gerade der französischen Patisserie zu tun hat, bei der oft das Ausgangsprodukt nur noch als Deko obenauf zu finden ist und ansonsten mit allerlei Bindemitteln und Stabilisatoren alles getan wird, um ein vor allem optisch beeindruckendes Ergebnis zu erhalten. Es gibt in Frankreich immer noch eine große Tradition von Patisserie-Schaustücken aller Art, bei der eben die süßen Materialien so etwas wie Mittel zum Zweck sind. Dagegen setzt sich Patisserie vom Stil Ducasse deutlich ab. Ducasse ist dann auch einer der ganz wenigen Köche, die ein Stück Kuchen (wie wir Deutsche das sagen würden) als Dessert in einem Drei Sterne-Restaurant niemals ausschließen würde.

Das Buch
Vor diesem Hintergrund entwickelt sich ein schönes, dabei sehr sachliches, weitgehend schnörkelloses Buch, in hellen Farben angelegt und gänzlich ohne Personenkult. Alain Ducasse weist in seinem kurzen Vorwort darauf hin, dass das Buch quasi alle Rezepte enthält, die Jessica Préalpato seit 2015 bei ihm entworfen hat. Das Inhaltsverzeichnis zeigt sofort den unterschiedlichen Ansatz. Es geht zum Beispiel um „Getreide“, „Honig, Pollen, Wachs“, „Blätter und Kräuter“, „Pflanzen, Wurzel, Früchte“ etc., dann auch um die „Chocolats Alain Ducasse“ um „Vegetabile Getränke“ und um Gläser mit Eingemachtem. Die Rezepte werden von kleinen Texten eingeleitet, in denen die Motivationen für ihre Entstehung dargestellt werden. Diese Erklärungen sagen auch etwas über die Struktur der Kompositionen, die dann auch noch in einer Grafik mit Kreisen abgebildet wird. Diese Grafiken wirken nicht unbedingt aufschlussreich, sie sind im Grunde sogar ziemlich sinnlos. Aber – das tut nichts zur Sache. Es gibt immer wieder von Köchen solche Systematisierungsversuche, die aber selten nützlich oder aufschlussreich sind.

Die Rezepte sehen nicht besonders kompliziert aus, manchmal sogar recht einfach, haben aber durchaus oft einen eher komplexen, vielfältigen Inhalt. Da gibt es zum Beispiel eine Art Joghurt nach Art einer Crème d’Anjou mit geeistem Löwenzahnhonig, Pollen von Zistrosen und Kastanie. Oder: Birnen der Sorten Conférence und Passe-Crassane, natur und geschmort, mit schwarzem Gewürztee und Eis von Grüntee. Das Rezept hat 12 Einzelzubereitungen, die aber alle eng an den Produkten bleiben (siehe dazu auch unbedingt die Bilder). Voraussetzung für diese Produktnähe ist natürlich das Vorhandensein von entsprechenden Quellen. Ducasse weist in seinem Vorwort ausdrücklich darauf hin, dass es Jessica Préalpato gelungen ist, ein Netz von Lieferanten aufzubauen, das sowohl für Spitzenqualitäten wie für seltene Produkte sorgt. Insofern bedeutet „Natürlichkeit“ hier auch die Suche nach dem Besten, das die Natur zu bieten hat und die Nutzung von Ressourcen, die üblicherweise kaum eine Rolle spielen. Auch dieser Punkt sorgt für besondere geschmackliche Komponenten.

Die Wirkung solcher Rezepturen kann man vor allem dann gut abschätzen, wenn man die sensorische Struktur im Blick hat und das Essen der Gerichte antizipieren kann. Préalpato baut quasi nie irgendwelche Türmchen oder macht sonstige besondere Konstruktionen, sie legt die Elemente meist so auf den Teller, dass man sie nicht „falsch“ essen kann, sondern sich die Akkorde ganz natürlich ergeben.

Fazit
Das Alles mag auf Betrachter, die ansonsten gerne hochartistische Patisserie-Bücher lesen (von denen es Unmengen gibt) sehr einfach wirken und unter Umständen auch ein wenig prätentiös. Man muss sich sicher ein wenig auf eine solche Patisserie einstellen, wird aber dann mit großer Leichtigkeit und einer sehr „gesunden“ Anmutung belohnt. Insofern ist dieses Buch auch „Dessertpolitik“ – wie ich es in der Überschrift geschrieben habe. Es steht für einen natürlicheren Umgang mit der süßen Welt und damit gegen all die artistischen Zubereitungen, bei denen oft vor lauter künstlichen Zubereitungen keinerlei Produkte mehr zu sehen und natürlich auch nicht zu schmecken sind. Hier also gibt es eine starke Meinung zum Thema, und man kann sie in dieser virtuosen Form der Realisierung ernst nehmen (was bei manchen expliziten Bio-Dessert-Versuchen definitiv nicht der Fall ist).

Das Buch bekommt 2 grüne BB

P.S. In meinem Buch „Pur, präzise, sinnlich“ habe ich übrigens vor einigen Jahren bereits mit solchen Ideen gearbeitet und Desserts in dieser Stilistik auch für den Hausgebrauch vorgeschlagen. Es gibt dort durchaus spektakulär aussehende Desserts, für deren Herstellung man quasi keinerlei küchentechnische Kenntnisse braucht.

Fotos © Virginie Garnier / Ducasse Edition

1 Gedanke zu „Dessertpolitik“

Schreibe einen Kommentar zu Kurt Antworten abbrechen