Michel Bras: Die Küche des Michel Bras. Christian Verlag, München 2003. Geb., 272 S.
Original als: Michel Bras: Bras. Laguiole. Aubrac. France. Éditions Rouergue, Rodez 2002, 271 S. (in französischer Sprache)
Man könnte von Michel Bras, dem berühmten Kreativen, der hoch über Laguiole ein Restaurant-Raumschiff besitzt, das heute von seinem Sohn geführt wird, auch ein anderes Buch nehmen oder beide Bücher in die Liste der besten Kochbücher der letzten 30 Jahre aufnehmen. Im Jahre 1991 erschien „Le Livre de Michel Bras“ (dito Éditions du Rouergue) ein Werk, das damals schon Entwicklungen vorwegnahm, die erst viel später eine gewisse Breitenwirkung erzeugten (das Buch ist nur in französischer Sprache erschienen). Dass ich „Die Küche des Michel Bras“ einen kleinen Tick höher einschätze, hat seine Gründe. Hier also trotzdem erst einmal das ältere Buch:
1991: „Le Livre de Michel Bras“
Dieser Band befasst sich ganz explizit mit einem der ersten Köche, die sich konsequent auf die Nahumgebung und vor allem alle möglichen essbaren Pflanzen konzentrierten. Mit atmosphärisch dichten Fotos einer oft rauen und einsam wirkenden Landschaft wird Bras als jemand vorgestellt, der diese Umgebung quasi in Form von Gerichten kondensiert. Und weil es sehr auf die Atmosphäre ankommt, finden wir hier auch ein frühes Beispiel für jene Bücher, die im Hauptteil vor allem Bilder haben und die Rezepte dann kompakt erst im Anschluss daran. Vor allem aber finden wir eines der ersten Bücher mit kreativer Küche, die die Rezepte weitgehend mit Step-by-Step-Bildern illustrieren. Angesichts der sehr feinen, neuartigen Kochtechnik bei Michel Bras war das ein riesiger Gewinn. Man hat damals schnell die Assoziation „Labor“ für diese Küche gefunden, weil hier Köche mit weißen Anzügen in einer extrem „cleanen“ Atmosphäre hantieren. Es gab also nicht „Naturküche“ oder „Pflanzenküche“ in Stiefeln und erdiger Basisnähe, sondern eine extrem sensibel inszenierte Arbeit, in der jedes Produkt wie eine Kostbarkeit wirkte und behandelt wurde. Das war damals vollkommen neuartig, hat mich sehr fasziniert und bis heute seine Wirkung: wenn ich in den kulinarisch höchsten Gang schalte, also größtmögliche Anstrengungen für ein Gericht mache, geht es auch immer in den Gang, bei dem man minutiös auf jedes Detail achtet.
Michel Bras hat hier eine große Anzahl (101) von fast durchweg sehr originellen Rezepten veröffentlicht. Es gibt z.B. die erste Fassung seines „Gargouillou de jeunes légumes“, die legendäre Versammlung von Gemüse, Pflanzen und Wurzeln, deren Erarbeitung hier systematisch auf mehreren Seiten dargestellt wird. Und natürlich gibt es auch eine Neufassung des Schokoladenkuchens mit flüssigem Inhalt, der schon seit den Achtziger Jahren zum Programm des Hauses gehörte.
Insgesamt hat man bei diesem Buch vor allem den Eindruck intensiver Recherche. Hier werden systematisch neue Felder für die Küche erschlossen und der Prozess in einer ebenso präzisen wie sinnlichen Weise dargestellt. Spätere Bücher etwa aus Skandinavien sind da vom Inhalt und der Stilistik her manchmal radikaler, weil Michel Bras sich noch im wesentlichen an der französischen Spitzenküche orientierte und sie erheblich erweitert, aber nicht mit komplett neuen Ansätzen ablöst.
2002: „Bras. Laguiole. Aubrac. France“
Warum man dieses Buch, das ein Jahr nach seinem Erscheinen in Frankreich auch eine inhaltlich identische deutsche Ausgabe bekam, im Grunde für noch revolutionärer halten muss, wird eigentlich schon beim Durchblättern sichtbar. Das Essen sieht plötzlich ganz anders aus. Die Kreationen sind nicht mehr auf einem Teller, sondern auf einem weißen Untergrund angerichtet und das in einer Art von freien Komposition. Das Hauptmerkmal dieser Anrichteform unter kulinarischen Gesichtspunkten ist die weitgehende Trennung der meisten Elemente. Bei der Vorstellung, wie man so etwas isst, kommt man sehr schnell darauf, dass es hier nicht nur um einen optischen Gag, eine andere Form des Anrichtens geht, sondern dahinter ein neues Programm steht. Durch die Vereinzelung bekommen die Elemente eine andere Funktion, eine selbständigere Funktion. Man isst nicht automatisch die Akkorde so, wie sie auf dem Teller üblicherweise angerichtet sind, sondern hat sozusagen die Aufgabe, die Elemente selber so zusammenzuführen, wie das für den Geschmack am besten ist. Als eine Art Nebeneffekt gewinnen die Elemente in dieser Form an Bedeutung, weil es keine großen Unterschiede mehr zwischen Hauptprodukt und „Dekoration“ gibt. Eigentlich gibt es gar keine Dekoration mehr, sondern eine Aufwertung jedes einzelnen – und sei es noch so kleinen – Teiles.
Diese Emanzipation der Elemente geht einher mit einer neuen Rolle des Essers, der mehr Eigentätigkeit bekommt und dazu gebracht wird, die Dinge vielfältiger und komplexer zu sehen und einzusetzen. Er ist es, der letztlich die Akkorde bestimmt. Die Gerichte werden durch diese Anrichteform also quasi interaktiver. Das war neu und wirkt bis auf den heutigen Tag sehr modern. Dass Bras mit den Rezepten seinen regional orientierten, kreativen Stil fortsetzt, tritt dabei fast ein wenig in den Hintergrund. Trotzdem steht er mit Gerichten, die meist ein oder mehrere sehr originelle Elemente besitzen, natürlich in der Kreativszene weiterhin blendend da. Das klingt dann so: „Gedünstete Steinbuttfilets auf einem Bett aus Walnusskrokant mit Walnusscreme, Kerbelrüben und Eischaumbouillon“, „Kalte Graupenbrühe mit Dickmilch in jungem Mangold, dazu eine Speckschnitte“, „Gefüllte Schwimmkrabbe mit Bratwurst, würziger Jus und Patisson-Kürbissen“, „Über Holzkohle gegrillter violetter Knoblauch, sautierte Zuckererbsen, Milchhaut und Walnussöl“ oder „Gebratene Tauben mit Wacholder, Pfeffer, kandierter Orange und Kasha“. Im letzten Drittel des Buches gibt es dann auch noch ausführliche Angaben zur Küchenphilosophie des Meisters. Das alles ist sehr beeindruckend und läßt im übrigen von heute aus sehr gut erkennen, welch enormen Einfluss Michel Bras auf seine Kollegen hatte.
Nachwort: Sieht das nur so aus, oder ist es wirklich so gemeint?
Ich will hier – bei aller Freude über diese exzellenten Bücher, die ich Wort für Wort studiert habe und von denen ich sehr viele Inspirationen bezogen habe – nicht verheimlichen, dass ich bei Michel Bras angesichts seiner Arbeit im Restaurant immer auch leichte Zweifel hatte. Das Buch von 2002 zeigt im Prinzip einen Koch, der den Gerichten eine neue sensorische Struktur gibt, der die Wirkung von Variationen bei den Texturen und Temperaturen erkannt hat und seinen Kompositionen auf diese Weise eine neue Komplexität und Geschmackstiefe gibt. Wie gesagt: im Prinzip. Und dann sitze ich im Restaurant und habe viel mit kaum verständlichen Untergarungen und gravierenden sensorischen Problemen zu tun – zum Beispiel bei einem Foie gras-Gericht, bei dem er die Foie gras mit einer kräftig gerösteten Zwiebel kombiniert hat, die selbst bei geringer Dosierung jeden Akkord dominiert. Oder mit Fisch, der unter Bergen von knackigen Blättern sensorisch quasi nicht mehr vorhanden ist, oder mit Fleisch, das so jung und schwer zu kauen ist, dass jede Begleitung nur einen winzigen Teil der Zeit ausmacht, die man braucht, um auch nur ein Stück des Fleisches zu kauen.
Da erinnert man sich dann daran, dass es große Künstler in allen möglichen Bereichen gibt, die ihr Ding gemacht haben, aber nicht in der Lage waren, exakt zu formulieren, um was es ihnen denn eigentlich ging. Ist Michel Bras auch ein solcher Fall? Viele Reflexe bekommt man ohnehin von französischen Kreativen nicht zu hören – auch nicht von Gagnaire mit seinen vielen Elementen oder von Roellinger mit seinen komplexen Gewürzmischungen. Natürlich schmälert es die Leistungen in keinster Weise, wenn sie nicht in allen Details sprachlich-logisch begründet und dargestellt werden. Michel Bras hat da Geniales geleistet, und es ist unsere Aufgabe, die Dinge zum allgemeinen Nutzen maximal zu verstehen.
Fotos © De Willy Abplanalp et Alain Willaume, abfotografiert von Jürgen Dollase
Ich empfehle, den Film „Entre les Bras“ anzuschauen, dann versteht man besser, wie die Bras ticken.
Besuch im Okt. 2015. Besonders beeindruckend Gargouillou. Dieses Gericht gehört zum festen Bestandteil auch bei den anderen Menüs und hat Gourmetgeschichte geschrieben. Zwischen 40 und 60 verschiedene Gemüse, Blüten und Kräuter sind sehr präzise auf dem großen Teller angerichtet. Das Gemüse, unter anderen Zucchini, Kohlrabi und Rettich werden mit den unterschiedlichsten Zubereitungsarten und Texturen auf dem Teller platziert. Kein Teller gleicht dem anderen, mein Teller also ein Gericht für die Ewigkeit. Man schmeckt die Frische, man schmeckt die Region und die Natur. Ein Teller voller Aromen und Farben. Vegetarisch ist dieses Gericht allerdings nicht, unter den vielen Kräutern und Blüten liegt eine hauchdünne Scheibe Schinken aus der Region.
https://alwisgenussreisen.com/2016/01/18/restaurant-bras-laguiole/
PS. Das 2002er Buch steht natürlich im Bücherschrank
Das Kochbuch hat bei mir einen Ehrenplatz unter meinen knapp 1800, weil Bras zu den Protagonisten der Dekonstruktion in der Küche gehört aber nicht, weil ich das nachkochen möchte. Mir leuchtet der Ansatz in der Theorie ein, in der Praxis erlebte ich zu häufig, dass die Elemente nebeneinander lagen oder getupft waren ohne rechte Verbindung. Die musste man selbst schaffen, oft schwierig, eben weil es nur Tupfen waren, die mehrere Versuche nicht zuließen. Bei Bras selbst habe ich das beste Aligot aller Zeiten gegessen und ansonsten fast nur Klassiker. Es war sensationell und wird mir für immer in Erinnerung bleiben. Das liegt aber auch an dem örtlichen Bergkäse, der seinesgleichen sucht.