Die Gaues-Brot-Meditation

Ich sehe Sie beim Lesen zusammenzucken. Die Wörter „Gaues“ und „Meditation“ scheinen so gar nicht zusammen zu passen. Hier das kulinarische Handwerks-Urviech, der Kraftmensch hinter Bergen von Broten, denen man ansieht, dass sie nicht mit der Pinzette gemacht sind. Dort die sensible, ruhige Form der reduzierten, aber sehr tiefen Betrachtung, die nach Einsicht in die Grundstrukturen dieser Welt sucht.
Wie kommen die beiden zusammen? Man sollte also erst einmal den Titel nicht falsch verstehen: das Gaues-Brot schmeckt durchweg so gut, dass man sich damit regelrecht „besaufen“ kann, mit Mengen von Butter oder was man sonst gerne damit essen will. Gleichzeitig schmeckt es aber auch so differenziert und voller Finesse, dass man sich mit kleinsten Bissen durch das Programm meditieren kann und eine große Menge von Nuancen entdeckt. Für diese Nuancen gibt es Gründe.

Bevor ich ins Detail gehe, möchte ich vorab etwas zu dem sagen, was sich oft abspielt wenn von „guten Bäckern“ die rede ist. Wie Sie wissen, gibt es immer wieder Auszeichnungen der Bäckerei-Innungen, bei denen es schwerfällt, sie auch nur ansatzweise ernst zu nehmen. Es gibt einfach zu viele Sieger, genau so wie bei Würsten und allen möglichen anderen Produkten, die irgendwelche Prämierungen erhalten. Selbst die ganz normalen Leute, die zum Beispiel hier bei uns im nahen Düsseldorf. In der Schlange vor einigen Bäckereien stehen, haben oft eine sensorische Wahrnehmung, die ich verstehe, als Lob aber nicht nachvollziehen kann. Es geht um den Kult mit der Kruste, auf den ich – um ganz ehrlich zu sein – ebenfalls immer noch mal wieder hereinfalle. Man sieht ein Brot und sieht eine prächtig rustikale Kruste und meint sofort, dass so etwas unbedingt ein Kennzeichen für Bodenständiges sei. Dann kaufen wir das Brot, und zu Hause passiert immer wieder das Gleiche: die Kruste schmeckt nur ganz frisch gut (also nach dem Kauf höchstens noch bis zum nächsten Morgen), der eigentliche Brotteig hat kaum Geschmack und wird außerdem von der Textur der Kruste mehr oder weniger und manchmal völlig überlagert. Und wenn die Brote dann aus der traditionellen Abteilung stammen (zum Beispiel das „Traditionsbrot“ der Bäckerei „Merzenich“ im Kölner Raum), also auch noch besonders flach sind, ist die Proportion von Kruste zu Innerem so gestört, dass man manchmal mit enormen Mengen von Röstnoten und Bitterstoffen zu tun hat.

Die Gaues Meditation I: Die Gaues-Kruste
Bei Jochen Gaues sieht das sowohl mit der Kruste wie mit dem eigentlichen Körper des Brotes in vielen Fällen deutlich anders aus. Auch er hat Brote mit expressiven Krusten. Darüber hinaus besitzt er aber auch hervorragende Brote mit dem, was ich die Gaues-Kruste nennen möchte. Obwohl er es sich mit seinen prächtig gewürzten Broten, die immer eine exzellente, vom Sauerteig herkommende „Stammwürze“ haben, leisten könnte, expressive Krusten einzusetzen, hat er bei Broten, die ich für besonders beeindruckend halte, eine glatte Oberfläche, die wiederum einen ganz exzellenten Krustengeschmack hat, aber eben sensorisch nicht zu den verheerenden Proportionen führt, wie dies bei den üblichen Krustenbroten beim Bäcker um die Ecke zu finden ist. Bei Gaues gibt es einen expliziten Akkord von Kruste und Brot. Beide zusammen ergeben das Brot und wenn beide zusammen bei den meisten Bäckern 100% ergeben, ergeben sie bei Gaues 200%. Hier geht es erkennbar und deutlich um einen Akkord, dessen Existenz man sich unbedingt beim Essen immer vor Augen halten sollte. Und das gilt nicht nur für sein Kürbiskernbrot, bei dem es ihm offensichtlich darum geht, ein Maximum an Kürbisgeschmack zu realisieren, indem man die Körner im Innern mit den angerösteten der Kruste in eine perfekte Balance bringt. Die Krusten – und speziell die glatte Gaues-Kruste – führen zum Geschmack des Innern, der Geschmack des Innern wird durch die Kruste verlängert und komplexer und keineswegs überlagert oder interpretiert.

Ein kleiner Streifzug durch das Programm
Der archaische Charakter eines Brotes findet sich vor allem im Kohl-Speck-Brot, das wie aus der Zeit gefallen schmeckt. Man fragt sich aber bei dieser Brut-Ansammlung durchaus nicht, wie fein heute die Brote geworden sind, sondern eher umgekehrt, wie geradezu ausgelaugt heute normale Brote im Supermarkt und leider auch bei den meisten Bäckern schmecken. Was man hier bei Gaues in den Mund bekommt, ist immer ein wenig überraschend und in einem guten Sinne zufällig. Kohl und Speck in stark gerösteter Form sorgen einfach für eine Kräftigkeit, die schmeckt, als wäre dieses Brot irgendwo im Wald mit offenem Feuer hergestellt worden. Ein Kunstwerk, ein Beuys-Brot ist man fast geneigt zu sagen. – Das sehr beliebte Tomatenbrot lässt im Innern – wie bei diversen Broten – die intensive Arbeit des Sauerteiges erkennen. Entscheidend ist die Balance zwischen Brot und Tomate, genauer: die Balance zwischen dem kräftigen Brotaroma und dem typischen Aroma reduzierter Tomate. Es bleibt ein Brot, wobei die Verbindung Brot – Tomate eher im aromatisch dunklen Bereich erfolgt, was dieses Tomatenbrot immer schnell von anderen absetzt. – Das Dinkelsylter ist ein populäres Brot mit Gaues-Kruste (siehe oben), das zeigt, wie mehrheitsfähig und souverän Gaues seinen Stil realisieren kann. Mit einer Prise Zucker werden die latenten Karamellnoten, die Feinstschmecker hier und da den Broten entnehmen können, noch etwas verstärkt. Apropos „Karamellnoten“. Bei der langen Gerster-Stange hat man nicht nur ein süffiges Bild, sondern sogar einen Hauch einer Honig-Assoziation. – Das mediterrane Fach ist bei Gaues weder beim Tomaten- noch beim Olivenbrot so, wie das landauf, landab schon mal zu finden ist. Gaues ist kein Bastler, der irgendetwas zusammenbauen will, er ist Bäcker, und da fasziniert ihn die Olive wohl eher als Verlängerung seiner Brot-Gedanken denn als populäre Zutat für die populäre mediterrane Küche. Trotzdem ist die Olive fast von Beginn an sensorisch klar präsent, der assoziative Kontext wird also sofort bedient. Ähnlich aufgebaut ist auch das Walnussbrot,bei dem man ebenfalls nicht lange nach dem Nussgeschmack suchen muss. Er wird zügig angetriggert, um dann in einen perfekt ausbalancierten Brot-Nuss-Akkord überzugehen. Wenn es bei Gaues um Körner geht, wird der Zugriff wieder ein wenig archaischer. Bei einigen Körnerbroten scheint der Teig mehr ein „Klebstoff“ zu sein, der die Körner zusammenhält und das eigentliche Ziel, so viel Körner unterzubringen wie eben möglich. Aber – Körner sind eben so etwas wie ungemahlenes Mehl (auch beim Kürbiskernbrot), also ganz nah dran am Brotgedanken. – Das Kürbis-Quark-Brot ist ungemein süffig, weil man einen ganzen Mund voll Kürbisaromen bekommt, einerseits heftig, andererseits ein wenig süßlich, mit einer dramatischen Sensorik (wie erwähnt), aber gleichzeitig auch einer im Mittel- und Hintergrund entstehenden, wunderbaren aromatischen Verdichtung und Bewegung. – Über Allem steht nicht nur der gute Bäcker, sondern auch ein enormer Gestaltungswille, der aber – anders als das in der Kochkunst oft zu finden ist – nicht den Rahmen sprengt, nicht Brot mit jeder Art von Produkten verbinden will (was man ohne weiteres machen könnte), sondern eine Art intensiviertes klassisches Verständnis zeigt. Wenn Gaues Bäcker ist, sind viele seiner Kollegen wohl eher Konditoren…sozusagen.

Die Gaues-Meditation II: Wie Brot plus Zutaten funktioniert
Wie oben gesagt: man kann das Brot auch pur essen und hat im Prinzip genug zu tun. Ich persönlich setze kalte, ungesalzene Butter ein. Meist ist es Beurre d’Isigny, manchmal auch Echiré, aber nicht unbedingt eine ländliche , individuell schmeckende Fassbutter. Der Grund ist, dass meine Standardbutter eine gewisse Neutralität hat, sie schmeckt gut und „nach Butter“, bringt aber nicht Extra-Aromen mit sich, die eventuell die Degustation des Brotes zu stark einfärben könnten. Es kann gut sein, dass es Butter gibt, die noch besser zum Gaues-Brot passt, aber das wäre dann schon eher eine Speziallösung.

Die Finesse, die man bei den Gaues-Broten findet, bringt mich zwangsläufig zu sensorischen Überlegungen. Natürlich kann ich verstehen, wenn jemand etwas mit Tapenade oder mit Marmelade essen will, wenn er lieber Rührei mit Zwiebeln auf dem Brot verteilt oder was auch immer. Ich versuche als Spezialist für Sensorik, mir genau klar zu machen, was passiert und nach Möglichkeit ein Maximum an Genuss zu erzielen. Zum Beispiel würde ich keine weiche Butter nehmen, weil sie in das Brot eindringt und sich schnell mit ihm vermischt. Ich bekomme also Butter plus Brot als gemeinsamen Akkord, und zwar während der ganzen Zeit. Der Akkord ist statisch und verändert den Brotgeschmack, den ich kaum noch pur wahrnehmen kann. Ich würde auch nicht dazu raten, gesalzene Butter zu verwenden, weil sie nicht nur den Salzgehalt erhöht, sondern erheblich in den Akkord eingreift. Bei kalten Spänen von ungesalzener Butter ist das anders. Man nimmt zuerst das Fett und wenig später das Butteraroma wahr, weil man das Brotaroma erst noch durch Zerkauen aufschließen muss. Wenn es dann wahrnehmbar wird, beginnt man auch gerade, die Butter aufzulösen und es kommt zu einer der für die Entwicklung der Aromen im Mund so wichtigen Durchblendungen, also zu zeitlichen Abläufen. Wenn uns die Ähnlichkeit von Texturen und Temperaturen zuviele Informationen gleichzeitig bringt, sind wir schnell überfordert und nehmen nicht mehr besonders viel wahr. Wenn es zeitliche Abläufe gibt, die im Falle des Brotes durchaus 20 bis 30 Sekunden dauern können, nehmen wir die Aromenlandschaft wie einen Film wahr, bei dem sich Dinge nacheinander ergeben, Mischakkorde entstehen, Aspekte ausgeblendet werden usw. usf.

Man sollte also – immer vorausgesetzt, man will ein Maximum an Aroma bei einer Degustation erzielen – die Sensorik im Auge behalten. Das muss jetzt nicht bedeuten, dass man das Brot nur mit Butter essen sollte. Aber es sollte bedeuten, dass man immer wieder zu dieser Grunddegustation zurückkehrt, das ein Teil der Variationen immer auch das pure Objekt sein sollte. Und die Gaues-Brote sind da das ideale Material, ein Kosmos von Brotaromen, den man natürlich am besten immer mit verschiedenen Broten angeht. Dass die Spitzenküche so viel Vergnügen an Gaues-Broten hat, ist völlig klar. Nicht so klar ist allerdings, wie es dort oft eingesetzt wird. Das Gaues-Brot vorab mit einer guten Butter sollte eigentlich schon wie ein erster Gang inszeniert werden. Nebenher zu beliebigen Gängen verschenkt man deutlich an Potential. Da wäre dann eher schon die Zuordnung von jeweils einer Brotsorte zu einem Gang sinnvoll. Ansonsten kann ich immer wieder nur dazu raten und anregen, das Brot gerade in modernen Gerichten als echtes Hauptprodukt einzusetzen.


Jochen Gaues – Brot

Autoren: Jochen Gaues, Thomas Ruhl • Fotografie: Thomas Ruhl • Umfang: 160 Seiten • Format: 24 x 28 cm • Edition Port Culinaire, 2020 • ISBN: 978-3-94731-097-5 • 19,90 €
Jetzt hier bestellen: www.port-culinaire.de

16 Gedanken zu „Die Gaues-Brot-Meditation“

  1. Jochen Gaues, Peter Kapp, Josef Hinkel, Jochen Baier, in Frankreich Eric Kayser. Das sind Namen, die zu Bäckern gehören, die Backbücher geschrieben haben. Es gibt sicher noch mehr, aber zu oben Genannten habe ich mir die Bücher genauer angesehen und sie als Handlungsanweisungen interpretiert, denn nichts anderes sind Rezepte. Es sind Bücher, nach deren Lektüre und Studium der Satz stehen kann: „Dann kauf ich es mir lieber“.

    Es tut mir leid, aber wer die Wassermenge und Teigruhen verkleinert auf 60% und 30 Minuten, statt vielleicht 75% und 3 Stunden und zusätzlicher Übernachtgare, der begeht zu dem Zeitpunkt eine Täuschung, zu dem er sagt, im Buch stünden die Originalrezepte.

    Wieso hältst Du es für nötig, Deine Leser zu täuschen, lieber Anteil im Erfolgsbäcker? Ist es die Angst, andere Bäcker könnten Deine Rezepte und Verfahren entwenden? Ich bin sicher, Deine Entscheidung hat irgend einen Stress in Dir reduziert und wollte Gutes. Aber Du musst Dich nicht schützen. Offenheit wäre hier besser angekommen und hätte so manchem Hobbybäcker nicht verstimmt zurückgelassen, der bei Dir nun sicher kein Brot mehr kaufen mag. So ist Dein Buch allenfalls eine Eulenspiegelei und Image-Broschüre.

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  2. Wir essen dieses Brot schon viele Jahre und müssen immer wieder feststellen, es ist das allerbeste Brot überhaupt!!! Auf allen Feiern, wird bei uns das Brot nur mit Butter als Vorspeise gereicht, und es sind immer alle begeistert!!!! Klasse Jochen, es gibt nichts größeres und besseres, wie dein Brot

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  3. Die Rezepte, die in der Vorschau zu lesen sind, kann man leider in die Tonne treten.
    Durchgängig zu viel Hefe (bezogen auf den Mehlanteil), unfassbar schwammige und unpräzise Angaben zur Backtemperatur (200-260°!!!), beliebige oder keine Mengenangaben, Tomaten – frische Tomaten? oder getrocknete Tomaten??, kein Wort über Backstein und Schwaden….
    Schöne Bilder und das war’s….keine Kaufempfehlung

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        • Die Sätze sind schon verständlich, wenn man sich die Zeit nimmt; und die Rezepte auch.

          Was Sie wollen, Walter, ist malen nach Zahlen. Da sind Sie bei Gaues falsch. Das ist ein paar Stufen zu hoch für Sie. Aber das macht nichts. Es gibt genug Anleitungen im Internet oder Lifestyle-Brotback-Bücher, die ihrem Drang nach Klarheit wohl entschieden näher kommen.

          Wie er oben selbst schrieb: „Eher backen und erfinden schreiben machen andere“. Also belassen Sie’s doch einfach dabei, dass das Gaues Form ist sich auszudrücken bzw. ausdrücken zu können. Für sein Brot interessieren sich mehr Leute – das ist das was er exzellent kann – als für seine Texte; und ihre auch, übrigens.

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    • Ich habe mir, obwohl noch blutiger Anfänger in Sachen Backen, das Buch gekauft und war auch zuerst enttäuscht. Das Buch richtet sich keinesfalls an Anfänger. Nach dem ich mich bei diversen Hobbybäcker-Gurus wie Lutz Geißler u.a. schlau gemacht habe und die wichtigsten Grundkenntnisse und einige Erfahrung erworben habe, war ich in der Lage, die Rezepte von Jochen Gaues entsprechend zu interpretieren und nachzubacken. Mit hervorragenden Ergebnissen. Das Ciabatta und das Bauerbrot (meine Lieblingsbrote von Gaues) bekomme ich mittlerweile so gut hin, dass es im Direktvergleich mit dem Original Stand hält.

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      • Sie haben natürlich Recht, Uwe.
        Die Lösung des Problems liegt in der Interpretation der Rezepturen.
        Dazu gehört zwingend, dass man sich Grundkenntnisse und Erfahrung aneignet, gerne beim Plötzblog.
        Und wenn man die Präzision von Lutz Geissler kennt, ist man beim Studium der Gaues Rezepte fassungslos.
        Einige Angaben sind so haarsträubend, da kann man nur den Kopf schütteln, z.B. die Backtemperaturen.
        Warum tut Gaues so etwas?

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        • Eine Toleranz von 60 Grad bei den Backtemperaturen ist wirklich haarsträubend.
          Warum Gaues das so angibt, bleibt wohl ein ewiges Rätsel.
          Oft ist die Wassermenge nicht korrekt (meist viel zu niedrig) und Angaben, bzw. Erklärungen zu Stock- und Stückgare fehlen auch häufig. Das mit der etwas hohen Hefemengen kann ich etwas nachvollziehen:
          so soll das Brot für Laien gelingsicher werden. Vor allem, wenn man, wie es in den Rezepten heisst, „Sauerteig aus dem Reformhaus“ verwendet. Dieser ist eben kein extrem triebstarker Sauerteig, wie der, den Gaues einsetzt.
          (Tipp am Rande: wenn man schon Sauerteig aus dem Reformhaus verwenden will, sollte man diesen erst noch ein paar Tage füttern, bevor man ihn zum backen benutzt. Dann weiss man anhand der benötigten Reifezeiten woran man ist)
          Wenn TFHH behauptet, man solle schliesslich nicht „Malen nach Zahlen“ erwarten, kann ich dazu nur sagen, dass man, um z.B. den Weg von Hamburg nach Bremen zu erfahren auch keinen Globus zur Hilfe nimmt, sondern eine Straßenkarte.

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