Die Zeiten ändern sich. Ändert sich auch der Geschmack? Muss dem gastronomischen Strukturwandel auch ein kulinarischer folgen?

Es ist häufig die Rede davon, dass das Publikum der avancierten Küche langsam älter wird und ausstirbt und man insofern fürchten muss, dass es für diese Art von Restaurants immer weniger Unterstützung gibt. Solche und ähnliche Aspekte sind dann auch Gründe für das Nachdenken über andere gastronomische Formate wie etwa das Casual Fine Dining. Man will mit veränderten gastronomischen Formaten eben vor allem auch Leute erreichen oder bei der Stange halten, die sich in der oft noch stark formellen Atmosphäre von Gourmetrestaurants nicht wirklich wohl fühlen. Solche Überlegungen sind sicher berechtigt und richtig, übersehen aber oft ein wesentlich tiefer liegendes Problem, einen Wandel, der mittelfristig gravierende Auswirkungen auf die Kochkunst haben kann.

Ausgangspunkt: ein klassisches Meisterwerk
Man kann eine einfache Frage stellen. Sie alle kennen sicherlich das berühmte, klassische „Taubenkotelett Romanov“, das es auch mit Rebhuhn oder Fasan gibt und das eines der Emblem-Rezepte der „Auberge de l’Ill“ in Illhäusern im Elsaß ist. Der große Paul Haeberlin hat das Prinzip von seinem Lehrer übernommen, der noch in Russland am Zarenhof gekocht hatte. Das Kotelett ist eigentlich kein Kotelett, sondern eine gefüllte und in ein Wirsingblatt gewickelte Brust, in die man ein Stück Oberschenkelknochen steckt und das Ganze so formt, dass es – na ja – ein wenig wie ein Stielkotelett in klein aussieht. Das ist aber nicht das Entscheidende. Wichtig bei diesem Rezept ist die Kombination von Wirsing, Foie Gras, Trüffel und Taubenbrust. Ein Akkord, der zu den ganz großen der klassischen Kochkunst gehört.

Ich bin mir sicher, dass ein älterer Zeitgenosse – sagen wir: jenseits der 70 – dieses Gericht hervorragend findet, auch wenn er noch nie in einem Gourmetrestaurant war und solche Gerichte nicht kennt. Ich bin mir aber nicht sicher, ob eine beliebige 15-jährige ohne Gourmet-Sozialisierung in der Familie dieses Gericht ebenfalls gut findet. Für die ältere Dame oder den älteren Herren ist die Qualität evident, für das junge Mädchen möglicherweise überhaupt nicht. 

Kulinarische Qualität und veränderte Evidenz
Der Grund für dieses so unterschiedliche Verhalten gegenüber dem gleichen Objekt (ich kenne die Beispiele aus eigener Erfahrung), das ja die alte Bauernregel „Was der Bauer nicht kennt, das isst er nicht“ gründlich aushebelt, ist die unterschiedliche kulinarische Sozialisation. Die Geschmacksbilder von Foie Gras und Trüffel und Taube etc. liegen einfach näher an traditionellen Vorstellungen von gutem Essen. Die Foie gras schmeckt älteren Novizen – um es einmal etwas banal zu formulieren – wie eine hervorragende Leberwurst, und die Trüffel wie ein ganz besonders guter Pilz. Der Akkord mit dem Fleisch bringt für Novizen einen Akkord zusammen, wie sie ihn so gut kaum jemals oder nie erlebt haben – auch deshalb, weil hier im Gegensatz zu vielen Gerichten der bürgerlichen Küche, der Akkord gleich „vorprogrammiert“ ist, also kaum „falsch“ gegessen werden kann. Man ist mit einem bestimmten Essen aufgewachsen, und dieses Kotelett schmeckt wie eine Super-Version davon. Das gefällt sofort und ohne jede weitere Erläuterung, die Qualität ist evident.

Im Gegensatz dazu haben junge Menschen ohne entsprechende Sozialisation oft einen komplett anderen Hintergrund. Sie können diese überraschende Qualität nicht so gut schätzen, weil ihnen die Basis fehlt, die dieser Steigerung zugrunde liegt. Sie lieben Fast Food, Hamburger, vielleicht asiatische Küche, viel Gewürze, mal Avocado, mal Zwiebeln im Döner usw. usf. Das Kotelett schmeckt unter Umständen fade, nach Aromen, die man nicht kennt, und man findet einfach keine geschmackliche Struktur in seinem Kopf, die dazu führt, dieses Produkt der klassischen Spitzenküche für gut zu halten. Ein solcher Mechanismus kann sich bei diversen Produkten der avancierten Küche einstellen. Auch eine positive Wirkung von Klassikern wie etwa dem Steinbutt mit Beurre blanc etc. ist bei jüngeren Gästen weitem nicht sicher. Der einzige vage Ausweg könnte sein, dass stark Umami-haltige Geschmacksbilder ebenfalls eine gewisse Zustimmung finden-

Die Gefahr für die avancierte Küche
Alle reden also von der älter werdenden Kundschaft, dabei ist das größte Problem ein sich veränderndes Geschmacksbild. Um es einmal radikal zu formulieren: wird die klassische Küche vor allem deshalb aussterben, weil sie immer weniger Leute gut finden? Werden bestimmte klassische Gerichte peu a peu aus dem Programm verschwinden, weil sie nicht mehr „den Geschmack der Zeit“ treffen? Werden entsprechend ausgerichtete Restaurants in Schwierigkeiten kommen, nicht weil das Publikum zu alt wird, sondern weil ihre Küche „aus der Mode“ kommt? Was dabei an Gerichten aus der Mode kommen kann, reicht allerdings möglicherweise so weit, dass ein Großteil der Spitzenrestaurant einen Großteil seines Programms ändern müsste. Es ginge also – wenn man denn sein Fähnlein nach dem Wind richten will – nicht nur um einen gastronomischen, sondern auch um einen kulinarischen Strukturwandel, der in den nächsten Jahren für starke Veränderungen des Programms sorgen könnte. Eine der interessantesten Frage heute ist dabei, wie weit die bisweilen begrenzte Auslastung von avancierten Restaurants eher etwas mit gastronomischen oder mit kulinarischen Aspekten zu tun hat.

Muss sich die avancierte Küche ändern, muss sie auf den kulinarischen Strukturwandel eingehen?
Kommerziell ist das natürlich keine Frage. Wer mit der Gastronomie vor allem Geld verdienen will und ohnehin vor allem das machen will, was ihm den besten Umsatz bringt, muss dem kulinarischen Strukturwandel entsprechen. Das Problem hat eher derjenige Koch/Gastronom, der sich vor allem der Kochkunst verpflichtet sieht und mit seinen Leistungen überzeugen will. Muss er sich ändern oder muss man angesichts der Entwicklung anders vorgehen, andere Schwerpunkte setzen?

Grundsätzlich sollten alle Freunde der Kochkunst alarmiert sein, wenn klassische Zubereitungen oder Details, die teilweise Jahrhunderte lang die Küche geprägt haben, vom Markt verschwinden, weil sie sich am Markt wegen des kulinarischen Strukturwandels nicht mehr durchsetzen können. Um diesem sehr wahrscheinlichen Trend entgegenzuwirken würde natürlich ein Eingriff öffentlicher kultureller Instanzen (von Förderungen bis zu Initiativen) hilfreich sein – womit allerdings in absehbarer Zeit nicht zu rechnen sein dürfte. Immerhin wäre es denkbar, dass man – ähnlich wie bei Musikfestivals – auch Festivals der klassischen Küche installiert. Ich bin absolut überzeugt davon, dass sie ein großer Erfolg werden würden. Aber – das allein ist nicht genug und hat zudem zu wenig Breitenwirkung.

Ich schlage vor und rufe dazu auf, dass möglichst viele Restaurants über ihr normales Programm hinaus eine Leistung zur Pflege und Förderung klassischer Küche erbringen. Dazu gibt es verschiedene Möglichkeiten wie etwa das Installieren eines „Klassikers des Monats“ auf der Karte, was zum Beispiel in ultramodernen Restaurants durchaus eine Interpretation eines Klassikers sein könnte. Man könnte in regelmäßigen Abständen „Classic Days“ einführen oder einmal im Jahr einen Schwerpunkt von einer Woche setzen. Man könnte didaktisch vorgehen und für junge Gäste Specials anbieten – aber eben immer sehr gut auf Kurs gehalten, sprich: nur geschmacklich wirklich exzellente Formen klassischer Gerichte präsentieren.

Das Problem geht man also am besten so an, wie es ohnehin immer am besten ist: Alles Bewährte, Entwickelte, perfekt Elaborierte behalten, aber ohne daraus gleich eine Ideologie zu machen und ohne daraus eine Politik gegen die Moderne zu entwickeln.

7 Gedanken zu „Die Zeiten ändern sich. Ändert sich auch der Geschmack? Muss dem gastronomischen Strukturwandel auch ein kulinarischer folgen?“

  1. Wie in anderen Bereichen der Kultur, kann man eigentlich entspannt bleiben. Natürlich ändern sich Geschmäcker und Vorlieben. Und natürlich wird vehement über den Wandel gestritten. Konservative stehen den Avantgardisten gegenüber. Das lässt sich in der Kunst beobachten (z.B. Impressionisten, Konzeptkunst) aber natürlich auch schon immer in der Küche. Ein gewisser LSR hat im 17. Jhdt die Küche Varenne vehement kritisiert, und eine neue Küche propagiert. Antonin Carême hat ebenfalls leidenschaftlich seine Küche gegenüber anderen vertreten und für die höchste Stufe der Kochkunst gehalten. DIe Nouvelle Cuisine des 20. Jhdt. wurde scharf kritisiert, genauso wie die Küche Adriàs oder die New Nordic Cuisine. Wer beides liebt, wie Herr Dollase, kann sich freuen, dass Klassik und Moderne weiterhin auf hohem Niveau angeboten werden. Und was nach uns kommt, muss unseren heutigen Geschmack nicht bedienen…. denn der ist dann etwas fürs Museum – Ein Kochkunstmuseum, das Speisen aus verschiedensten Epochen auf hohem Niveau anbietet wäre ein spannendes Unterfangen, leider extrem kostspielig. Geschmackliche Zeitreisen in einem Louvre der Küche…..

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  2. Der kulinarische Strukturwandel droht nicht aus der Ecke der fast food verschlingenden Komaesser. Im Gegenteil – es gibt durchaus Parallelen. Auch Klassikfans schätzen das hochkalorische fett- und fleischlastige Essen. Der unmittelbare „Leckerfaktor“ spielt eine entscheidende Rolle. Das fünfzehnjährige Mädchen von heute und Gourmetrestaurantbesucherin von morgen hingegen erfährt ihre Sozialisierung sicherlich nicht an der Dönerbude sondern vielmehr in Sushibar, Veggierestaurant etc. Und hier sind die Aromen – gute Qualität vorausgesetzt – eher milderer Natur. Fleisch- und fettlastige Klassiker werden als zu schwer, unbekömmlich / ungesund abgelehnt – von ethischen Erwägungen mal ganz zu schweigen. Ungewohnte Geschmacksbilder mögen dazukommen, sind aber nicht zentral. Dennoch wird die „klassische“ Küche sicherlich nicht verschwinden, es wird immer genügend Liebhaber dieser Richtung geben, und die Qualitäten der besten Restaurants dieser Art sprechen zu sehr für sich. Der vorgeschlagene Klassiker-Monat erinnert dann doch etwas an den belächelten Veggietag der Grünen.

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  3. so ganz kann ich Ihre ausführungen nicht nachvollziehen; ich denke, dass „ältere leute“ ohne bezug zur hochküche die zitierte „taubenbrust“ nicht automatisch gut finden dürften und als unkundige esser an diesem gericht der klassischen küche genug finden können, was sie nicht gut finden; zb die garung des fleischs, die leberfülle, einsatz und proportion von gemüse/sauce etc.

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  4. Die von Ihnen angeführten Punkte mögen allesamt richtig sein, ich finde es schade dass Sie sich so sehr auf die negativen Punkte konzentrieren und diesen keine aktuellen positiven Entwicklungen gegenüberstellen. (Das Abendland geht bekanntlich auch schon seit ein paar tausend Jahren unter…)
    Unabhängig davon finde ich Ihren Vorschlag zur Pflege der „Klassiker“ unterstützenswert.

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  5. Ich halte die Analyse für strukturell konservativ und geschichtsvergessen. Geschmäcker haben sich über die Zeit schon immer geändert, oft auch aus Gründen, die mit dem Essen an sich wenig zu tun haben. Es gab Phasen, wo sehr süß gegessen wurde, zeitweise ging es um starke Würze, es wurden Menus danach zusammengestellt, um optisch möglichst beeindruckend zu sein. Wenn Sie schon Jahrhunderte zurückblicken, sollten Sie das reflektieren. Das „Volk“ hat schon immer gegessen, was es gab und die Herrschenden hatten den Luxus Essen als Kultur betreiben zu können. Nur weil Sie eine bestimmte Form der Küchenkunst kennen, ist diese nicht Maß der Dinge.

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  6. Lieber Herr Dolasse,
    das ganze ist natürlich auch ein Problem unserer Zeit. Leider werden heute in den wenigsten Ausbildungsbetrieben noch klassische Techniken und Abläufe gelehrt bzw gelernt. Heut zu Tage wird oft einfach Sojasauce bei einem Saucenansatz oder der ISI für eine Hollandaise etc verwendet. Das soll natürlich keine Kritik oder Herabsetzung dieser Techniken sein, es ist einfach die Zeit, die sich ändert. Viele Köche, die traditionell gekocht und auch angerichtet haben, hören auf (Wohlfahrt, Haas, Jörg Müller etc) und überlassen den „jungen oder alten Wilden“ das Feld. Ich denke, das beides nebeneinander gut funktionieren kann. Für junges, kulinarisch aufgeschlossenes Publikum wird sich nach Corona auch wieder ein Markt finden. Ich denke, das inovative Restaurantkonzepte mit z.B Sharing Menus sehr gut einen breiten Querschnitt der gesamten Kulinarik abdecken könnten, ohne als altmodisch oder verstaubt daher zu kommen. Am wichtigsten jedoch wird in Zukunft sein, die „Klassik“ dem Nachwuchs zu lehren und beizubringen… vom Schmorgericht, richtigen Saucen… über den ganzen Fisch bis zur Vanillesauce!

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  7. lieber Herr Dollase, natürlich haben sie recht mit ihre Analyse, warum waren soviele junge Leute bei der Chefsache von Pierre Gagnaire begeistert? weil er vielleicht sich zeit genommen hat einen Wildfond zuzubereiten? weil er dieses Publikum gezeigt hat das es ohne gründliche basis gar nicht geht? Klassische Küche muss gelernt sein, es dauert und Heute lernen unseren Azubi, zuerst mit eine Syphon Flasche umzugehen…
    bleiben wir ehrlich, diese moderne wird von den Journalisten gefeiert weil sie blendet…
    bleiben Sie alle gesund
    der Kneipier

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