Ein neuer Adrià-Wumms

Es ist sicher richtig, dass man von Ferran und Albert Adrià im Moment nicht ganz so viel hört, wie das früher einmal der Fall war. Aber – das sollte nie darüber hinwegtäuschen, dass man es bei den beiden Brüdern mit extrem talentierten Vertretern ihrer Zunft zu tun hat, die über eine Art enorm wuselige Energie verfügen und immer Mittel und Wege finden, alle möglichen Projekte zu realisieren. Dieses neue Buch ist leider so etwas wie ein Rückblick, weil Albert Adrià (der in den letzten Jahren für die Restaurants verantwortliche) das „elBarri“ genannte Reich mit mehreren Restaurants in einem eng begrenzten Bereich in Barcelona wegen Problemen rund um Corona geschlossen hat. Nur sein neues Flaggschiff, das „Enigma“ hat er weiter geöffnet. Gleichzeitig gibt es aber auch wieder Meldungen, nach denen das „El Bulli“ wieder geöffnet wird, gleichzeitig veröffentlicht Ferran immer neue Bände seines Bullipedia-Projektes und gleichzeitig geht es auch immer noch um eine Art kulinarische Akademie. Wie gesagt: da kommt immer etwas.

 

„elBarri“ war ein Projekt mit mehreren Restaurants, die jeweils einen ganz speziellen Stil pflegten. Es war ein wenig so, als ob das Talent der Brüder sehr viel mehr Platz als ein einzelnes Restaurant braucht. Da gab es das „Tickets“ (gegründet 2011), eine Art El Bulli – Nachfolger mit Gerichten in kompakter Tapas-Form. Das „Pakta“ (2013) hatte eine japanisch-peruanische Küche, die „Bodega 1900“ befasste sich mit regionaler, traditioneller Tapas-Kultur, „Hoja Santa“ und „Nino Viejo“ (2014) mehr mit der mexikanischen Abteilung. Nachzügler war das 2017 gegründete „Enigma“, in dem Albert Adrià seine Vorstellung von High End – Küche realisiert.

Das auffällige „Candy“ – Buch fasst die Desserts der unterschiedlichen Restaurants zusammen, also eben auch sehr unterschiedliche Qualitäten zwischen eher traditioneller und avantgardistischer Küche.

 David Gil/Albert Adrià: Candy. Los postres de elBarri. RBA Libros y Publicationes, Barcelona 2021. Band 1: Bilder/Katalog, 238 S., wattierter gold-metallic-Einband. Band 2: Rezepte, 270 S., Broschur.Verpackt in schwarzem Wellpappe-Karton. Ca. 88 Euro Fotos: Corina Landa, in spanischer Sprache

 

Das Buch, Band 1

Der golden eingebundene Hauptband besteht vorwiegend aus Bildern der Desserts, die auch immer wieder bei der an „konkrete“ Dinge erinnernden Formgebung die typisch spielerischen Aspekte dieser Küchenphilosophie zeigen. Die Kapitel befassen sich nicht mit den unterschiedlichen Restaurants und ihren Küchen, sondern ausschließlich mit den unterschiedlichen Ansätzen bei den Desserts. Es geht um Desserts mit saisonalen Produkten, um „Neoklassizismus“, um „Klassizismus“ und um Süßigkeiten und Eis, einige weitere Informationen und abschließend Bilder der vielen beteiligten Mitarbeiter und der Restaurants.

Bei den saisonalen Produkten reicht das Spektrum von „Orange mit Reis von Orangensamen à la milanese“ oder mit Sorbet von Blutorange und Rote Bete gefüllter (junger) Rote Bete bis zum „magischen Produkt“ Pina verde oder zu Apfel mit Teriyaki und Eis von weißer Miso. Wie nicht anders zu erwarten ist das Spektrum der Produkte, die von Albert Adrià und seinen Leuten verarbeitet werden, riesig und zeigt auch ohne dauernden Einsatz von Molekularküche, dass hier schlicht und einfach Kreativität auf einem ganz anderen Niveau stattfindet.

 

Bei diesem unverstellten, breiten Zugriff auf alle möglichen Ressourcen ist es selbstverständlich, dass man auch gegenüber der Klassik keinerlei Scheuklappen hat. Im Kapitel „Neoclasicismo“ geht es munter „über die Dörfer“. Es beginnt mit einer „Lemon Pie“ – Bearbeitung, es gibt eine Tarte in Form des französischen Coulommier-Käses, einen New York Cheesecake, eine ganze Reihe anderer Kuchen, Orangen „Suzette“, eine flüssige, süße Tortilla, einen Karottenkuchen usw. usf. – Das Kapitel „Clasicismo“ ist dann nicht etwa noch traditionelleren Formen der internationalen Patisserie gewidmet, sondern befasst sich zum größten Teil (aber nicht ausschließlich) mit traditionellen Dessert-Traditionen verschiedener Länder etwas wie Turron aus Spanien oder einem Matcha-Tiramisu aus dem „Pakta“. – Manche der Dinge in „Süßigkeiten und Eis“ wären für die „Seriosität“ deutscher Spitzenrestaurants vermutlich zu schräg oder albern oder lustig – was auch immer. Aber – man spielt hier eben auch gerne mit den Dingen und macht im Zweifel das, was man machen kann, ohne allzu lange zu überlegen, wie so etwas denn ankommt oder kommentiert wird. Und genau das erwarten die Gäste vermutlich auch, wenn sie ein Adrià-Restaurant betreten…

 

Das Buch, Band 2

Während Band 1 das Coffeetable-Buch ist, enthält Band 2 die Rezepte. Während so etwas bei vergleichbaren Büchern dann aber eine vollkommen trockene Angelegenheit ist, bei der es oft noch nicht einmal Monitor-Fotos gibt, geht es hier völlig anders zu. Band 2 ist voller Informationen und Illustrationen. Es gibt nicht nur die Rezepte, sondern auch etwas zu den Grundlagen und/oder Vorbildern der Rezepte, zu Produkten, zu bestimmten Kochtechniken, zu den verwendeten Bindemitteln, manchmal auch zur Geschichte oder zu einzelnen Köchen. Da wird dann offensichtlich aus dem riesigen Fundus an Wissen des Bullipedia-Konzeptes geschöpft und mit leichter Hand und aufgelockerter Grafik mal eben auch so etwas wie eine neue Form von Lehrbuch geschaffen, das entspannt und spielerisch aussieht, vom Wissen her aber ganz auf der Höhe der Zeit ist.

 

Fazit

Natürlich muss ich bei diesem Ausmaß an Kreativität 3 grüne B, also die Bestnote geben. Es ist bedauerlich, dass das Buch bisher nicht in englischer Sprache erschienen ist. Andererseits sollten auch nicht spanisch sprechende Leser mit ein paar Hilfen aus dem Netz oder einem Wörterbuch hier schnell ein gutes Stück weiterkommen. Mir gefällt vor allem, dass sich die „abgespeckten“ Varianten (gegenüber dem „Hardcore“ im „El Bulli“) nicht nur in der Praxis der Restaurants bewährt haben, sondern erstaunlich gut in die Landschaft passen. Es geht hier undogmatisch zu, und man kann Alles zwischen „schwierig“ und „entspannt“ realisieren, also jenen Mix, der für die Zukunft ein wichtiges Pfund in der Küche sein wird. Ich bin gespannt, wie die herzhafte Abteilung der elBarri-Restaurants in Buchform aussehen wird.

Das Buch bekommt drei grüne B

2 Gedanken zu „Ein neuer Adrià-Wumms“

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