Im hier auf www.eat-drink-think.de rezensierten Buch von Eckart Witzigmann und Johann Lafer sind auf Seite 37 noch einmal die – natürlich als vorbildlich gedachten – „10 Gebote der Neuen Küche“ von Henri Gault und Christian Millau aus dem Jahre 1973 abgedruckt. Ich möchte sie hier in der Form wiedergeben und kommentieren, in der sie bei Witzigmann und Lafer abgedruckt sind. Sie sind in diesem Buch aus dem Zusammenhang gerissen, in dem sie entstanden sind. Das bedeutet vor allem, dass sie sich auf bestimmte Erscheinungen in der Küche beziehen, die zum Zeitpunkt ihres Entstehens eine Rolle spielten. Wenn man sie heute in dieser isolierten Form zitiert, wirken sie – milde gesprochen – sehr „dated“. Man könnte auch sagen, sie wirken bisweilen wie autoritäre, schulmeisternde Regeln mit einem manchmal erstaunlichen Ausmaß an mangelnder kulinarischer Übersicht und kulinarischer Unfreiheit. Außerdem werden sie gleich reihenweise von Köchen wie den beiden Zitierenden mißachtet.
„Die 10 Gebote der Neuen Küche (Grundlage der Nouvelle Cuisine, 1973 verfasst von Henri Gault und Christian Millau)“
1. Du sollst nichts zu lange kochen
Klingt gut, wird aber zum Beispiel nicht befolgt, wenn die beliebte Gemüsegarung im Salzwasser zum Beispiel dem Spargel den Geschmack austreibt und vor allem ein Wasser erzeugt, das nach Spargel schmeckt. „Zu lange“ ist natürlich ein Gummi-Begriff. „Sehr lange“ köcheln kann zu prächtigen Ergebnissen führen. Ansonsten ist Langzeitgarung noch nicht genügend erforscht.
2. Du sollst frische und hochwertige Produkte verwenden
Frisch? O.k., aber was soll man sagen, wenn in Deutschland Hummer verwendet werden, die in der Bretagne überhaupt nicht verwendet werden dürften, weil sie nicht direkt aus einem Vivier (also einem Becken mit sprudelndem Meerwasser) kommen? „Frisch“ ist auch ein Gummi-Begriff. Wer geht nach der Bestellung in seinen Garten und erntet das Gemüse komplett frisch? „Hochwertig“ ist unklar. Wenn „teuer“ gemeint ist, ist der Begriff Unsinn. Wenn die perfekte Frische/Reife gemeint ist, die sehr gute Zubereitungen zulässt, ist er gut. Und trotzdem hat man in Deutschland häufig den Effekt, dass „Frische“ etwa bei Fisch eher so verstanden wird, dass er „problemlos“ schmeckt. Wirklich frischer Fisch hat aber eine andere Textur und ein anderes Garverhalten. Fangfrische Jakobsmuscheln sind schneeweiß und haben – etwa bei der Garung in aufschäumender Butter – eine feste, faserige Konsistenz. Muscheln, die mit Gummibändern zusammengequetscht werden und längere Zeit in ihrer eigenen Jauche lagern, sind kein frisches Produkt.
3. Du sollst deine Karte reduzierter gestalten
Mittlerweile gibt es längst eine Trendumkehr. Das Einheitsmenü ärgert viele Gäste, eine große, freie Auswahl gefällt ihnen. Ein reduziertes Angebot überzeugt nur dann, wenn es aus Gerichten besteht, die die Reduktion sinnvoll erscheinen lassen, etwa wenn die Produkte radikal frisch sind. Gault und Millau entpuppen sich immer wieder als zu kurz denkend.
4. Du sollst nicht systematisch modernistisch sein
Schade, es wäre so wunderbar unterhaltsam, wenn man einmal irgendwo wirklich etwas Neuartiges bekommen würde. Ferran Adrià und eine Reihe anderer Köche sind genau mit dieser Einstellung weltberühmt geworden. Viele sehr gute Köche bleiben unbekannt, weil sie nicht kreativ genug sind. „Systematisch modernistisch“ arbeitet so gut wie kein Koch, weil die Szene das noch nicht hergibt. Ein einsamer Fall von höchstem Talent war das Andreas Rieger vom „Einsunternull“. Aber auch er war zu früh und ist vorerst ausgebremst worden – unter anderem von sehr schlicht denkenden Kritikern.
5. Du sollst jedoch danach suchen, was neue Techniken bringen
Wieder eine Kurzdenker-Aussage. Es klingt offen, plausibel, gut. Aber welche Folgen stehen an, wenn zum Beispiel neue Techniken den alten überlegen sind? Wenn Vakuumgarung vor allem wie eine Maßnahme zur Vereinfachung gesehen wird, nicht aber als eine spezifische Garung mit spezifischen Ergebnissen?
6. Du sollst Marinaden, Abhängen, Fermentationen vermeiden
Voll daneben – zumindest was Abhängen und Fermentieren angeht. Alle drei Techniken bringen spezifische Ergebnisse. So etwas schließt man nicht aus – es sei denn, man ist kulinarischer Oberlehrer und hat ganz klare Vorstellung davon, welche Küche richtig und welche falsch ist. Es wird bei solchen Dingen klar, warum die Oberlehrer von heute die Oberlehrer von gestern so lieben.
7. Du sollst schwere Saucen beseitigen
Voll daneben – siehe oben. Natürlich will niemand Massen von schweren Saucen in jedem Gang eines 6-Gänge-Menüs. Das, was hier verschwommen als „schwer“ bezeichnet wird, kann in geringer Dosierung ein prächtiges kulinarisches Element sein. Ich habe Zitate von traditionellen Saucen etc. in hochmodernen Gerichten bekommen und fand die Wirkung faszinierend.
8. Du sollst die Diät nicht ignorieren
Es kommt darauf an. Im Prinzip geht man nicht in ein gutes Restaurant, um abzunehmen, sondern um Freude an den Dingen zu haben. Ganz allgemein gesehen wird diese Regel aber von kaum einem Koch beherzigt. Fast alle Menüs sind zu umfangreich. Es gibt kaum einen Koch, der leicht kochen kann. Und weil alle viel zu viel servieren, gehört dieser Aspekt zu denen, die schon seit Urzeiten nicht beherrscht werden. Aber – man sollte von Leichtigkeit und nicht von Diät reden. Leichtigkeit fördert den Genuss, Diät ist etwas anderes.
9. Du sollst deine Präsentationen nicht manipulieren
Ich habe so gut wie nie ein Gericht bekommen, das wirklich nur auf den Geschmack hin zubereitet und angerichtet wurde. Und das gilt für quasi jede Art von Küche, auch solche, die – wie bei Witzigmann oder Lafer – so tun, als ob alles ganz natürlich zuginge. Am Ende führt hier wie dort die Bevorzugung eines bestimmten Bildes vor allem zu sensorischen Problemen/Problemen mit den Proportionen, bei denen fast immer die mögliche Qualität einer Komposition nicht erreicht wird. Völlig auf den Geschmack konzentrierte Gerichte sehen übrigens oft ziemlich schlecht aus, gerne eher matt in den Farben und gerne irgendwie bräunlich…
10. Du sollst erfinderisch sein
Klingt gut, wird aber oft nur windelweich praktiziert. Fast jeder Koch hält sich für kreativ, tatsächlich ist kaum jemand wirklich kreativ und ich bekomme von Nord bis Süd Gerichte, die sich oft ähneln wie ein Ei dem anderen. Ist das ein Zufall? Natürlich nicht. Es ist das Gift des Mainstreams, das jede Kreativität verhindert, das Schielen nach Erfolg, nach dem Erfolg der Kollegen, nicht der Blick auf kulinarische Substanz oder wirklichen Neuigkeiten. – Ich würde allerdings nie sagen, man „soll“ erfinderisch sein. Es gibt oft genug Gründe, einen Koch darin zu bestärken, genau das, was er macht, ohne jede erfinderischen Zugaben weiter zu verfolgen und zu optimieren. Warum soll ein Klassiker erfinderisch sein? Diese wieder reichlich unreflektierte Regel fördert im Grunde den Mainstream, also die Verfolgung gerade modischer Tendenzen.
Die Abbildungen zeigen den ersten Gault-Millau in seiner heutigen Buchform, eine Seite mit der „Auberge de l’Ill“ und die Übersicht über die besten Restaurants zu Beginn. Das Buch habe ich in meiner Bibliothek.
Seit ein paar Tagen denke ich darüber nach, ob das Ganze – vor allem die geschwurbelte Sprache – schlicht und einfach eine ganz, ganz miese Übersetzung sind. Wenn man die „Gebote“ neu formuliert, hören sie sich gar nicht mehr so doof an.
Hallo Herr Dollase, um Ihren Kommentar bei facebook aufzugreifen: Sie beziehen Ihre Kritik aber schon sehr deutlich auf Gault & Millau direkt, bei Sätzen wie „Gault und Millau entpuppen sich immer wieder als zu kurz denkend“. Es ist doch klar, dass man heute, mit einem Entwicklungsabstand von 50 (sehr rasanten) Jahren, die Dinge anders betrachtet. Das ändert aber nichts an der historischen Bedeutung und der visionären Kraft dieser Ideen. Sie nehmen jedoch leider gerade *keine* historische Einordnung vor, sondern legen heutiges Wissen als Maßstab an historische Vorgänge an. In der Wissenschaft geht man so eigentlich nicht vor.
Lieber Kai, auf Facebook habe ich einen ähnlichen Einwand gehabt. Lafer und Witzigmann aktualisieren dieser Regeln im Grunde. Sie erwecken in ihrem Buch den Eindruck, als ob das damals gut gewesen sei und heute noch Gültigkeit besitzt. Deshalb diskutiere ich die Regeln von heute aus.
Gruß JD
Lieber Herr Dollase, ich verstehe. Aber damals hatten die Regeln doch durchaus ihre Berechtigung, wenn auch womöglich nicht in der Absolutheit, wie sie von G&M formuliert wurden – aber solche Zuspitzungen sind ja durchaus üblich (und letztlich notwendig) bei solchen Manifesten, von Kunst und Architektur (Bauhaus) bis zum Kino (Oberhausen, Dogma 95…) kennt man das ja auch. Dass man Lafer und Witzigmann für eine unreflektierte Übernahme kritisiert, verstehe ich. Aber wie gesagt liest sich der Text stellenweise wie eine Kritik am Manifest im damaligen historischen Kontext, nur eben mit dem heutigen Wissensvorsprung. (Irgendwie ist der Kommentarbereich hier aber auch nicht das Forum für solche Detaildiskussionen :-)) Viele Grüße
Gebote gibt es eben solche und solche. Diejenigen, die Old Moses vom Berg geschleppt hat, werden wohl immer ihre Gültigkeit behalten, andererseits wurden zur selben Zeit Speisevorschriften erlassen, die mehr der Hitze und mangelnden Hygiene im Orient Rechnung trugen und heutzutage eher religionsromantische Gründe haben.
Die Nouvelle cuisine war eine der zwei großen Küchenrevolutionen des zwanzigsten Jahrhunderts (Nr. 2 = Avantgarde Ferran) und alle, die es erleben durften, denken heute noch mit Freude an diese Zeit zurück. (Und an die Gesichter der Gäste) Im Zeitlichen Kontext muss man eben auch die Gault-Millau-Gebote sehen wie sie waren – und sie waren gut. [so schließe ich mich dem Vorredner*in an] Ebenso wie auch der Gault-Millau eine durchaus erfrischende neue Alternative zum Michelin war. Schade, dass er heutzutage seinen Biss verloren hat. Ca. 10 Jahre danach kamen übrigens noch die Gebote der Eurotoques, die zu ihrer Zeit – und bis heute – wertvolle Regeln für den Umgang mit Lebensmitteln sind. Mit Stolz haben wir zu dieser Zeit die Jacke mit dem blauen Kragen getragen und die Kunde in die Welt und vor allem in die Schulen getragen
Hallo Herr Dollase, ich denke nicht, dass Küchenregeln von vor fast 50 Jahren heute noch ihre Gültigkeit besitzen/besitzen müssen und an dem zu messen sind, was zeitgenössische Spitzenküche heute ausmacht. Gault Millau nahmen für sich in Anspruch, einer neuen Küche mit einem neuen Guide gerecht werden zu wollen und formulieren dafür so etwas wie Wertungsmassstäbe. Das finde ich gar nicht so unsinnig, zu erklären, nach welchen Kriterien man urteilt; ob dafür allerdings Form und Inhalt jener Gebote geeignet ist und ob diese Regeln über einen bestimmten Zeitpunkt hinaus noch sinnvoll und nützlich sind, mag angezweifelt werden. Wenn ich aber ganz konkret an die Küche meiner Kindheit Ende der 70iger, Anfang der 80iger zurückdenke, hätte ich mir durchaus gewünscht, dass in meinem Elternhaus, bei Gasthausbesuchen etc. diese Regeln in der ein oder andren Form beherzigt worden wären, das Essen, das es damals gab, war wirklich schlecht und es hätte dringend eines Impetus bedurft, dies zu ändern. Wenn Gault Millaus Regeln so gewirkt hätten, wäre dies aus der damaligen Sicht für die damalige Zeit durchaus förderlich gewesen.