Höher, tiefer, weiter: Nathan Myhrvold hat wieder zugeschlagen

Nathan Myhrvold/Francisco Migoya: Modernist Bread. The Cooking Lab, Bellevue 2017/2019. Bd. 1: 374 S., Bd. 2: 426 S., Bd. 3: 437 S., Bd.4: 458 S., Bd. 5: 317 + 114 S., Hardback in Edelstahlbox mit ausgestanztem Monogramm, Extra Rezeptbuch für die Küche mit Ringbindung. 525 Euro (Ausgabe in deutscher Sprache.)

Erster Teil der Rezension: Allgemeines, Bände 1, 2 und 3
Im Grunde hatte man gedacht, dass Myhrvolds „Modernist Cuisine“ eine Art Jahrhundertprojekt war, ein einmaliges Ereignis, zu dem sich ein Wissenschaftler und eine ganze Reihe von Verbündeten zusammengetan haben, um einerseits nie Dagewesenes und andererseits auch Endgültiges zu schaffen – wahnsinnig detailliert, wie besessen erforscht, phantastisch illustriert und auch noch praktisch umgesetzt. Und jetzt? Jetzt kommt der Meister mit einem neuen Buch, das in seiner Grundanlage irgendwie noch unglaublicher wirkt. Es geht im gleichen Umfang wie die gesamte Kochkunst in „Modernist Cuisine“ ausschließlich um Brot. Es gibt ebenfalls 5 Bände mit zusätzlichem Rezeptheft, in einer Edelstahlbox, 25 kg schwer, 525 Euro teuer und nun auch in deutscher Ausgabe erhältlich.

Myhrvold hat das Erstaunen geahnt und beginnt gleich im Vorwort damit, dieses neue Wahnsinnswerk zu begründen. Er kommt schnell zur Sache, also zur Wirtschaftlichkeit dieses Projektes. Und da erfährt der Leser, dass er von seinem „Modernist Cuisine“ tatsächlich 220.000 Exemplare verkauft hat. Kurz und gut: der Mann kann sich ein neues Riesenprojekt einfach leisten, und er hat das Brot als Thema gewählt – nur das Brot und nichts als das Brot, fünf pralle Bände lang auf mehr als 2.500 Seiten.

Das Buch als kulturelles Projekt
Erinnern wir uns an Ferran Adrià, von dem ich hier vor kurzem das große Buch über Kaffee vorgestellt habe. „Coffee Sapiens“ ist Teil des „Bullipedia“ – Projektes, mit dem Adrià das gesamte kulinarische Wissen erfassen und ordnen will. Diese umfassende Sicht auf das kulinarische Wissen war bisher nie wirklich ein Thema. Selbst kulinarische Lexika waren und sind oft ein Ausbund an lückenhaftem Wissen und nur dann gut brauchbar, wenn sie sich auf einzelne Aspekte beschränken (wie etwa das Larousse Gastronomique mit seiner klaren gastronomischen Ausrichtung). Das Online-Lexikon Wikipedia ist so schlecht, dass Adrià es immer als Beispiel dafür benutzt hat, warum er unbedingt „Bullipedia“ gründen will.

Die neuen lexikalischen Bücher haben einen globalen Blick, ein Verständnis, das die gesamte Kultur einbezieht und das jeweilige Objekt als eingebettet in die Gesamtkultur versteht. Mit diesem Ansatz öffnet sich der Horizont des Wissens gewaltig und zeigt nicht nur die Vielfalt des jeweiligen Themas, sondern gegebenenfalls auch, wie unterschiedlich es gesehen werden kann. Nathan Myhrvolds „Modernist

Bread“ gehört ebenfalls in diese Kategorie. Der Umgang mit Brot ist nicht nur historisch/kulturgeschichtlich ein ganz großes Thema, sondern auch heute aktueller und weiter gefächert denn je. Er zieht sich durch die Geschichte der Menschheit und wird gleichzeitig gerade eben wieder zu einem ganz großen Thema – zum Beispiel in einer Ernährung, die weitgehend oder ganz auf Fleisch verzichtet und dem Brot in vielfältigster Form wieder viel Neues abgewinnt.

Wer meint, im Brot-Land Deutschland hieße es mit einem solchen Buch Eulen nach Athen tragen, ist nicht ganz richtig informiert. Intensive Bio- und Wholefood-Bewegungen gibt es z.B. in England und in den USA schon seit Jahrzehnten.

BAND I: GESCHICHTE UND GRUNDLAGEN
Der Band hat fünf Kapitel und eine Liste mit weiterführender Literatur, die sich – ganz im angelsächsischen Selbstverständnis – vorzugsweise auf angelsächsische Quellen beschränkt. Dieses Manko einmal genau aufzuarbeiten, ist ein komplexes Thema für sich. Es existiert quasi in allen Wissensbereichen. Man geht im angelsächsischen Bereich gerne davon aus, dass der Rest der Welt nichts Wesentliches beizutragen hätte. Aber das nur am Rande. Band 1 beginnt mit einem Überblick darüber, wie man „Modernist Bread“ handhaben sollte und mit einer Erläuterung der Rezeptstruktur (mehr dazu später in Teil 2 der Besprechung).

Myhrvold ist praktisch orientiert und kein Historiker, beschäftigt aber natürlich in seinem interdisziplinär aufgebauten Cooking Lab alle möglichen Spezialisten. Erst einmal wird die „Geschichte des Brots“ auf etwa 160 Seiten abgehandelt – unterteilt in „Die Alte Welt“, „Die vormoderne Zeit“ (500 nach Christus bis 1799), „Das Industriezeitalter“ (1800–1970) mit der Industrialisierung der Brotherstellung, „Das Informationszeitalter“ (1970–2016) und „Die Zukunft des Brots“ (in der es um die aktuelle Ausweitung des Brotbegriffs, also auch um Aromatisierungen und Brot als Teil von kreativer Küche geht). Dabei wird – wie immer – versucht, eine möglichst gute Bebilderung zu schaffen, und das bedeutet mangels aussagekräftiger historischer Fotos auch sehr interessante Nachschöpfungen historischer Brote. Es wird u.a. klar, dass das historische Brot nicht ein irgendwie reduziertes Brot ist, sondern vor allem erst einmal ein anderes, mit anderen Getreidesorten und manchmal durchaus auch schon Aromatisierungen.

Es folgen die Kapitel „Mikrobiologie für Bäcker“, „Brot und Gesundheit“ „Wärme und Energie“ und „Die Physik von Lebensmittel und Wasser“. Als Naturwissenschaftler wird Myhrvold bei diesen Kapiteln natürlich sehr detailliert, schafft es aber trotzdem, Themen wie „Verderb und Fermentation“ so zu erklären, dass es auch interessierten Lesern gelingen wird, den Themen zu folgen. Auch hier hilft natürlich die exzellente Bebilderung. Das Ganze ist immer und jederzeit eben vor allem populäre Wissenschaftsliteratur im angelsächsischen Stil. Es ist zum Beispiel erfrischend, wie klar das Thema „Brot und Gesundheit“ angegangen wird – ganz ohne Ideologien – auch beim Thema Vegetarismus. „Wärme und Energie“ und die „Physik von Lebensmittel und Wasser“ bereiten die technischen Kapitel der nächsten Bände vor, können aber abermals auch dem Laien wertvolle Informationen geben. Wer weiß, wie Krusten entstehen, wird auch anders backen – sehr vereinfacht gesprochen.

BAND II: INHALTSSTOFFE
Der zweite Band beginnt etwas überraschend mit einem Kapitel über „Brot backen“, unterteilt in „Grundlagen der Brotherstellung“, „Brotbacken planen“ und „Nach dem Lehrbuch backen“. Dieses Kapitel ist eine Art Einführung in die Rezeptbände 4 und 5 und die Art, wie man dort vorgeht. Es gibt viel vergleichende Konkretisierungen der naturwissenschaftlichen Grundlagen, etwa einen Dichtevergleich, „Volumen versus Krume“, die Auswirkungen von Zutaten zum Mehl, eine Übersicht über Werkzeuge oder die Darstellung „Was passiert im Brot“. Dazu kommt dann noch viel Detailliertes zur Backvorbereitung.

Der überwiegende Teil von Band 2 ist den Materialien gewidmet, also dem Getreide, dem Mehl, den Triebmitteln (Hefe, Sauerteig und chemischen Triebmitteln), den Backmitteln (Salz, Zucker, Fette und Öle, Teigverbesserer) und den „Zutatenvorbereitungen“, wo sich z.B. Angaben über die „Flüssigaromen und Pürees“, „Obst und Gemüse“ oder „Süßes und Nüsse“ finden. Auch hier sorgt die Praxis, immer wieder Einzelthemen und/oder verwandte Themen in kurzen Aufsätzen abzuhandeln und zu illustrieren, für eine kurzweilige Lektüre. Beispiele: „Bessere Getreide für besseres Brot“ oder „Pro und Kontra Sojamehl“.

BAND III: TECHNIKEN UND AUSSTATTUNG
Dieser Band dürfte natürlich ungleich populärer sein als der Band II, weil es hier um Geräte und handwerkliche Techniken geht, vielfach bebildert (oft in Step-by-Step-Fotos) und in der Anschaulichkeit präsentiert, die man aus „Modernist Cuisine“ her schon kennt. Es ist das Bilderbuch von „Modernist Bread“ und wirklich sehr kurzweilig, es ist der Band, der all diejenigen erreicht, die sich beim Backen von der handwerklich-technischen Seite nebst den Geräten angezogen fühlen, und das betrifft – ähnlich wie beim Grillen – eine Menge von Leuten.

Es geht um die „Teiggärung“, das „Kneten“, das „Aufarbeiten“, die „Endgare“, das „Einschneiden und Verzieren“, darum „Wie Brot backt“, das „Backen“ und das „Abkühlen und Servieren“. Natürlich findet man so etwas auch in Lehrbüchern des Bäckerhandwerks, aber Myhrvold ist eben wegen seiner ständigen Vergleiche und seinem Wunsch, alles einmal ganz genau und endgültig zu klären dem handwerklichen Mainstream immer ein gutes Stück voraus. Wenn man so will, ist dies das bessere Lehrbuch, weil es nicht dazu auffordert, Fakten auswendig zu lernen, sondern zu verstehen und über das Verständnis von Funktionsweisen und Zusammenhängen zu besseren Ergebnissen zu kommen. Die heute viele Leute so überaus interessierende Teigführung bei Sauerteigbroten wird bestens erklärt und vor allem illustriert. Was ein „toter“ Sauerteig ist oder wie Brote im Anschnitt aussehen, die mit unterschiedlichen Sauerteigen hergestellt sind, wie ein Brot mit nicht aufgefrischtem und eines mit aufgefrischtem Sauerteigaussieht, alles ist bebildert und erläutert. Zwischendurch wird dann auch mal wieder eine Maschine im Aufschnitt gezeigt oder es gibt Bilder über den Brotschieber im Wandel der Zeiten. Beim Backen gibt es natürlich nicht nur die positiven Ratschläge, sondern auch Fehleranalysen (natürlich ebenfalls bebildert) oder die Erläuterung von Geräten wie dem Kolorimeter, mit dessen Hilfe die Farbe der Kruste bestimmt wird. Es gibt Strategien für bestimmte Ofentypen und Erläuterungen über die Alterung von Broten, es ist alles da und – wie üblich – immer auch noch viel mehr.

Die weiteren Bände 4 und 5 befassen sich mit Rezepturen und sind eine eigene Betrachtung wert.

Die Bewertung des Buches insgesamt folgt am Schluß von Teil 2. Die drei grünen BBB kann man für dieses wirklich exorbitale Werk ruhig schon einmal vorwegnehmen. Es sprengt jede Bewertung und ist kein Maßstab. Wäre es ein Maßstab, müßte man sehr viele kulinarische Bücher stark abwerten.

Fotos © The Cooking Lab, Bellevue

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