Jürgen Dollase: Gasttypen

Liebe Freunde,
in der Krise muss es auch einmal etwas Heiteres sein. Den folgenden Text habe ich im Jahr 2004 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung veröffentlicht. Er ist damals – vor allem auch bei Köchen und Servicepersonal – sehr gut angekommen und wurde in vielen Küchen ausgehängt. Bei den betroffenen Gästen kam es dagegen zu der ein oder anderen empörten Reaktion. Vermutlich fühlten sich da doch einige Leute angesprochen… Wie dem auch sei: Mir ist der Text vor ein paar Tagen wieder eingefallen und ich möchte ihn auch den Lesern von www.eat-drink-think.de nicht vorenthalten. Er ist nach wie vor aktuell – bis auf einen Typus, den ich gestrichen habe, weil es ihn in der charakterisierten Form nicht mehr gibt: den Raucher. Ansonsten habe ich alles so gelassen, wie ich es damals geschrieben habe – das heißt: Sie lesen hier die Originalversion, während die veröffentlichte Version eine andere Einleitung hatte.

Ich wünsche viel Vergnügen!

Jürgen Dollase: Gasttypen
(Erschienen am 2.5.2004 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung unter dem Titel „Das Horrorkabinett der Spitzenküche“)

Selbstverständlich liegt auch der Gast eines Restaurants auf der Couch und wird durch und durch analysiert. Das Ergebnis sind dann Lehrbücher für das Servicepersonal, die allerdings häufig sehr allgemein ausfallen und wenig mehr bieten als das, was man sich ohnehin so vorstellt („sachlich und freundlich bleiben“, „Situation entspannen“). Die Realität ist viel spannender. Vor allem in der gehobenen Gastronomie, wo nicht nur mal eben gegessen wird, sondern sehr viel mehr Erwartung auf sehr viel mehr Angebot und Betreuung trifft, gibt es doch allerlei Merkwürdigkeiten. „Bei uns passiert jeden Tag etwas Besonderes“, meint der Maitre (Oberkellner) eines Drei-Sterne-Restaurants. Mit seiner Hilfe und der einer Anzahl seiner Kollegen entstand eine Art Gast-Typologie, in der wir uns – ehrlich gesagt – wohl alle in der ein oder anderen Form, positiv wie negativ, wiederfinden können. Und – manche Dinge sind wirklich etwas bizarr.

Der Ahnungslose scheint nicht zu wissen, dass gute Restaurants teuer sind, ihn jede Menge Personal betreut und auf der Speisekarte Dinge stehen, von denen er vorher noch nie etwas gehört hat. Er löst Ratlosigkeit aus und gilt als schwierig.

Der „eigentlich-kann-ich-hier-garnichts-essen-Typ“ ist ein Verwandter des Ahnungslosen und kommt oft aus Amerika. Er geht automatisch in ein „gutes“ Restaurant und verlangt am Ende meist ein Steak. Er bekommt es natürlich, allerdings von einem Oberkellner, der so aussieht, als wünschte er sich gerade an einen menschenleeren Strand.

Der „der Wein-schmeckt-nach-Korken-Typ“ ist ziemlich weit verbreitet. Oft hat er den gleichen Wein zu Hause, wo er natürlich sehr viel besser schmeckt. Da er auch schon mal Korken schmeckt, wo gar keiner ist, gilt er als Nervensäge. Er kann natürlich auch korrekt beobachtet haben. Dann gilt er erst recht als Nervensäge.

Das Sonderwünsche-Monster kann tatsächlich den Restaurantbetrieb erheblich stören, vor allem, wenn es gleich mehrfach auftritt. Der genervte Gast, der nichts so akzeptieren will, wie er es vorfindet, ist dabei noch nicht einmal das Hauptproblem. Notfalls hat man ja sogar eine Kollektion von Lesebrillen zum Studium der Speisekarte, die dann mit Grandezza als Beweis für Service-Perfektion präsentiert werden kann. Schwierig sind die kulinarischen Sonderwünsche. Dabei ist es kein Problem, etwas wegzulassen oder auch z.B. vegetarische Teller zu wünschen. „Umkomposition“ der Kreationen der Meister (z.B. andere Beilagen) gelten oft als Zeichen des Unverständnisses, werden aber im Zweifelsfalle (etwa bei Allergien) ohne weiteres erledigt. Viel schlimmer ist ein Sechser-Tisch, bei dem alle unbedingt verschiedene Gerichte von der Karte essen wollen. Das bringt die Küche schnell an den Rand der Kapazität und der Verzweiflung. Wundern Sie sich nicht, wenn so etwas abgelehnt wird. – Wer unbedingt auf Senf oder Ketchup besteht, kann in einem Spitzenrestaurant auch schon mal des Hauses verwiesen werden (so in Paris passiert: der Gast wollte unbedingt, der Koch bestand auf dem Gegenteil).

Der „wir-wollen-uns-einen-schönen-Abend-machen-Typ“ ist ausgesprochen beliebt, vorausgesetzt, er lässt das deutlich erkennen. Dann bekommt er alle Unterstützung und es wird vieles möglich. Noch beliebter wird er allerdings, wenn er auch noch eine teure Flasche Wein bestellt.

Der Experimentierfreudige ist der natürliche Verbündete eines jeden Kochs und darf ebenfalls auf viel Unterstützung hoffen. Wer am liebsten alles probieren möchte, hat immer gute Chancen auf die Umsetzung dieses Vorhabens. Verkleinerte Gerichte stellen eine Küche oft nicht vor große Probleme. Beim Wein wird das allerdings schon etwas schwieriger. Viele gute Restaurants schenken aber auch bessere Weine glasweise aus – wenn man danach fragt.

Der immer nur freundliche Gast stellt überraschenderweise den Service oft vor große Probleme. Man hält die Freundlichkeit für eine Fassade und weiß nicht, was sich dahinter verbirgt. Wer etwas genauer erklärt, warum er etwas gut – oder auch nicht so gut – findet, gilt als sehr viel angenehmer. Man weiß dann, warum etwas gefällt und vor allem was man noch verbessern könnte.

Der unsaubere Gast existiert tatsächlich, und das bis in die absolute Spitze hinein. Er scheint ein gutes Restaurant mit einer Imbissstube zu verwechseln, die er mal so eben nebenbei aufsucht. Wenn bei Ihrem Anblick der Service in einem entlegenen Eckchen des Restaurants einen Extra-Tisch aufstellt, sollten Sie selbstkritisch Ihren optischen Zustand überprüfen. Es gibt Restaurants, die für solche Gäste schwarze Listen zur Vermeidung künftiger Reservierungen führen.

Der „warum-ist-das-hier-alles-so-steif-Typ“ geht offensichtlich von einem ganz großen Missverständnis aus. Meist ist er der Einzige, der verkrampft ist, weil ihn z.B. selbst so harmlose Dinge wie das Tragen einer Jacke oder Krawatte schon an den Rand existentieller Probleme bringen. Auch die Entfaltung größerer Lautstärke beim Austausch von Smalltalk erfreut in der Regel nicht.

Der unansprechbare Gast empfindet jeden Kontakt mit dem Service als Störung. Er ist meist nicht wegen des Essens da, sondern um Geschäfte zu machen, um seine Sekretärin zu beeindrucken oder weil es ihm nach einem romantischen Abend zumute ist. Es mussten schon Gäste – nach mehrfachen Annäherungsversuchen des Personals – nachhaltig um die Erlaubnis gebeten werden, doch den nächsten Gang servieren zu dürfen.

Der Hobbykoch ist ein ganz erstaunlich häufig vorkommender Typus. Er ist bei weitem nicht so gern gesehen, wie man es vermuten könnte. Der Grund: Er meint auffallend oft, es besser zu können als selbst die größten Meister – nicht selten unterstützt von einer heftig zustimmenden Gattin, die natürlich sein Schnitzel besser findet als alles sonst auf der Welt. Was der Hobbykoch nicht weiß: Auch der Service ist oft sehr gut über küchentechnische Dinge informiert und merkt oft schon nach Sekunden, dass er da einen Wichtigtuer mit Halbbildung vor sich hat. Ist das einmal erkannt, wird man sich natürlich nicht mehr so übermäßig bei der Betreuung engagieren.

Der Kritiker ist als Profi entweder ohnehin anonym oder so wichtig, dass man sich ganz besonders um ihn kümmert. Der Gast als Kritiker ist ebenfalls überraschend häufig anzutreffen. Er kommt anscheinend nicht zum Genießen, sondern zum Meckern, wenn er nicht sogar das Meckern genießt. Der Service schaltet in solchen Fällen innerlich ab.

Der Profikoch ist nach einstimmiger Meinung der schlimmste Gast. Abgesehen davon, dass viele Köche den gesitteten Umgang mit Messer und Gabel und vor allem das Essen in gemäßigter Geschwindigkeit verlernt haben, fallen sie vorzugsweise dadurch auf, dass sie kopfschüttelnd die mangelhaften Leistungen höher bewerteter Köche bekritteln. Schwächere Köche verstehen oft nicht, warum ein besserer Koch höher bewertet ist. Das ist allerdings nur logisch: Würden sie es verstehen, würden sie ja besser kochen.

Der unsichere Gast, der vielleicht seinen Hochzeitstag einmal in einem guten Restaurant feiern möchte oder den Restaurantbesuch geschenkt bekommen hat, hat eigentlich sehr viele Vorteile zu erwarten. Auch wenn er nicht weiß, wie er die Schnecken aus dem Gehäuse bekommt oder an Austern und Hummerscheren verzweifelt, ist das überhaupt kein Problem. Wer offen und ehrlich seinen Status erläutert, weckt unweigerlich die mütterlichen Gefühle männlicher und weiblicher Service-Kräfte. Man wird ihm unbedingt beweisen wollen, wie problemlos schön doch so ein Besuch in einem Spitzenrestaurant sein kann. Allerdings – wenn Sie in Paris sind, ist Vorsicht geboten. Dort rechnet man Ihnen mangelnde Restaurant-Routine unter Umständen als Charakterfehler oder Bildungslücke an und platziert Sie nach Möglichkeit in einer abgelegenen Ecke des Hauses – zusammen mit kichernden Japanern im Anorak, einem Texaner mit sehr blonder Freundin und „Kulturtouristen“ aus dem nämlichen Land, die mit Bemerkungen wie „What is Tarbett ?“ (Turbot, Steinbutt) den englischen Sprachschatz des Personals abrufen: „A fish“.

4 Gedanken zu „Jürgen Dollase: Gasttypen“

  1. da fehlt aber noch einer! die sog. “ freibierlätschn“. ev verstehen niederrheiner diesen terminus nicht, begegnet sind Sie diesem gast bestimmt schon mal : weil in der spitzengastronomie alles so exorbitant teuer ist, sternerestaurants im geld schwimmen, weil dort für mehrgängige menues dreist preise jenseits der imbissbude abgerufen werden, erwartet die freibierlätschn möglichst viel für umme. der brotkorb, die amuses, die feinen süssigkeiten nach dem essen werden mehrfach nachbestellt, bei der weinbegleitung wird stetes refill erwartet. und zum schluss ganz wichtig: der grappa aufs haus.

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  2. Der Gast, auf die Frage des Kellners, was er essen möchte: Ich bin Veganer, Vegetarier, habe eine Gluten und Sojaallergie und eine Lactoseunverträglichkeit. Was soll ich bitte nehmen?

    Der Kellner: ein Taxi

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  3. Da bleibt eigentlich kaum noch einer übrig, oder? Das Krawattetragen hat sich inzwischen eh überlebt, Kochen tun wir ständig, aber eben nicht professionell, sondern hobbymäßig, und wir versuchen stets freundlich zu sein zum Personal. Wenn uns das schon verdächtig macht … Ich bin der Meinung, Hobbyköche können sehr viel besser beurteilen und wertschätzen, was gute Profiküche leistet, jedenfalls viel besser als ahnungslose Nicht-Köche. Umgekehrt könnte ich hier mühelos eine Persiflage über Erlebnisse mit Servicekräften schreiben, die in einer Schilderung einer extrem sexistischen Behandlung in einem französischen 3-Sterner in der Provinz gipfeln würde. Oder der andere 3-Sterner im Süden, wo der Hund am Nebentisch vom Oberkellner ein Amuse serviert bekam, wir aber leider nicht. Da sind wie überall 2 Seiten, und manchmal hat eben eine Seite einen Knall.

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