Küchen der Zukunft – Küchen mit Zukunft

Folge 6: Jazz Cuisine

Prolog
Im Jazz wird häufig improvisiert, also etwas gespielt, was erst im Moment des Spielens entsteht und nicht auf einem Notenblatt notiert ist. Die Bandbreite reicht dabei von recht formelhaften Melodiebögen (wie oft im Oldtime-Jazz) bis zu extrem neu und spontan wirkenden (wie im Free-Jazz). In der Regel sind die Musiker ausgezeichnete, in der Spitze auch virtuose Instrumentalisten, die in den meisten Improvisationen auf gewisse Formeln zurückgreifen, die dann mit neuen Elementen kombiniert werden. Die Qualität der Improvisationen kann auch bei bekannten Musikern sehr unterschiedlich ausfallen. Mal gerät ein Stück oder Konzert eher uninspiriert, formelhaft und routiniert, mal so sensationell inspiriert, originell und zwingend, dass die Aufzeichnungen von solchen Konzerten weltbekannt werden. Das berühmte „The Köln Concert“ von Pianist Keith Jarrett hat eine Auflage von rund 3,5 Millionen Exemplaren erreicht.

Kann man beim Kochen improvisieren?
Es ist ganz klar, dass es beim Kochen eine ganz ähnliche Form der Improvisation wie beim Jazz geben kann. Jemand steht vor einer Reihe von Zutaten, für deren Zubereitung er keinen genauen Plan hat und entscheidet sich in kürzester Zeit, was er machen will. Dabei setzt er eine ganze Reihe von „Formeln“ ein, bereitet also das Fleisch (sagen wir: ein Kalbsfilet) wie üblich zu (sagen wir: mit einer Morchelsauce), nimmt noch Polenta mit Nüssen dazu und ergänzt dann überraschend mit ein paar Kräutern und einem Luxus-Thunfischbauch aus der Dose. Vor allem routiniertere Privatköche aller Art arbeiten sehr häufig so. Man kann das Verfahren forcieren, indem man mit Absicht nach ungewöhnlichen Produkten sucht und mit Absicht Zusammenstellungen wählt, die spontane Kreativität verlangen. Man kann sich also dazu zwingen, zu improvisieren, u.a. auch dadurch, dass man auf mehr oder weniger konventionelle Zubereitungen mit Absicht verzichtet. Man kann sich auch auf Improvisieren vorbereiten, z.B. indem man eine große Menge an Aromen (nicht nur Gewürze, alle möglichen Produkte) bereithält.

Wie könnte die „Jazz Cuisine“ aussehen? Bringt die Improvisation einen Mehrwert?
Die „Jazz Cuisine“ ist in jedem Falle eine Spezialdisziplin, die nicht nur Köche der speziellen Art, sondern auch Gäste der speziellen Art verlangt – so diese Küche denn in einem festen Restaurant angeboten wird. Realisiert werden kann sie als Restaurant nur in einem kleinen Rahmen, also in etwa in der Größe der gerade überall neu entstehenden Chefs Tables. Die Gäste bekommen eine extreme Form der „Cuisine du marché“, werden also ohne Speisekarte auskommen müssen. Sie bekommen ein echtes Überraschungsmenü, von dem auch der Koch nicht immer ganz genau weiß, wie die fertigen Teller am Ende aussehen werden. Die Qualität wird erst einmal mehr oder weniger das Niveau des Kochs spiegeln. Dann aber – wenn es mehrere von diesen Restaurants gibt – werden sich die großen Improvisatoren zeigen, die dieses Metier beherrschen wie kein anderer und das erzeugen, was jede große Improvisation erzeugt, nämlich eine qualitative Spitze, wie sie nur durch die Spontaneität einer Improvisation entstehen kann. In den genialen Momenten kann die „Jazz Cuisine“ also einen ganz erheblichen Mehrwert gegenüber den automatisierten Arbeiten der üblichen Küchenmanufakturen schaffen. Die großen Meister der „Jazz Cuisine“ werden sehr berühmt werden und man wird sich um die Plätze bei ihnen reißen. Diejenigen, die so tun als ob, wird man dagegen schnell als Trittbrettfahrer entlarven. Natürlich sind dann auch Modifizierungen denkbar, wie etwa große Listen mit Zutaten, aus denen die Gäste auswählen können. Irgendwo am Horizont ist so das personalisierte Gericht denkbar, ein wirkliches Unikat, das natürlich auch seinen Preis haben muss.

Heute mag eine solche Idee sehr speziell klingen. Aber – man kennt die Mechanismen solcher Formen der Kreativität aus allen möglichen Bereichen (aus der Malerei sogar ganz besonders) und weiß, welches Publikum sich dafür interessiert und wie „kultig“ so etwas werden kann.

Nachwort: Zwei Beispiele. Picasso und Pierre Gagnaire
Picasso hat sich einmal beim Malen filmen lassen und sich dabei offensichtlich auf sein Improvisationstalent verlassen. Der Film („Le Mystère Picasso“ von Georges-Henry Clouzot) zeigt mehrere Aktionen, er zeigt Genialität und überragende Fähigkeiten, er zeigt aber auch, wie Picasso unzufrieden ist, wie er übermalt, wie er wegwischt und am Ende eines Versuches so ungefähr das Gegenteil von Improvisation produziert, nämlich ein verkrampftes Nichts, das weit von seinen Spitzenleistungen entfernt ist. Wenn er genial ist, stimmt jeder Strich und zeigt überragende aber auch rätselhafte Fähigkeiten.

Pierre Gagnaire hat einmal in einem Film der französischen TV-Serie „L’Invention de la cuisine“ etwas Ähnliches versucht. Man sieht wie er – durchaus mit einem Hauch von Arroganz – mit Hilfe seines Küchenchefs ein Tablett mit Produkten zusammenstellt, darunter diverse seltene Gemüse und Kräuter. Dann geht er zum Herd und beginnt eine Improvisation. Er macht und macht und ist nicht zufrieden. Er lässt seinen Küchenchef probieren, der ebenfalls unzufrieden ist. Man murmelt längere Zeit, dann macht Gagnaire weiter und scheitert abermals. Man sieht es ihm regelrecht an, dass er weiß, dass er nicht mal eben sein Genie demonstrieren konnte, sondern es einfach nicht hinbekommen hat. Und trotzdem lässt man die Szene im Film. Als ein Plädoyer gegen die Improvisation? Nein, das glaube ich nicht. Eher als eine Illustration der Tatsache, dass auch große Küchenchefs an solchen Aufgaben scheitern könne, und dass man sehr, sehr gut sein muss, um so etwas auf höchstem Niveau zu können.

Es dürfte kein Geheimnis sein, dass viele der besten Gerichte der kreativen Küche im Kern aus Improvisationen entstanden sind, dass sie die Inspiration des Moments nutzen. Und – es dürfte ebenfalls kein Geheimnis sein, dass viele hervorragende Köche viel zu wenig improvisieren oder nicht mehr improvisieren können, weil ihnen die gedankliche Freiheit dazu fehlt. Ohne Improvisation wird also – aufs Ganze gesehen – auch viel verschenkt.

1 Gedanke zu „Küchen der Zukunft – Küchen mit Zukunft“

  1. Vielen Dank für dieses schöne Kapitel.
    Für mich war es immer ein Muss Gemüse-Fleisch-und Fischmärkte persönlich zu besuchen. Inspiration?
    Oft habe ich den Wagen voll mit Produkten von denen ich keine klare Vorstellung habe was genau damit geschieht. Oft schreibe ich die Karte so um mir etwas Improvisationsspielraum zu lassen. Es gibt Momente die sind sehr prickelnd und sehr kreativ und es gibt Momente wo nichts kommt und man greift storisch auf die Elemente der Basics zurück.
    Ersteres macht Glücklich!
    Mir macht es immer noch viel Freude.
    Ich denke beim schreiben geht es Ihnen ähnlich, wenn Sie einen ganzen Wagen voller Eindrücke niederschreiben und es dann so auf den Punkt bringen wie in diesem Text.
    Mit kulinarischen Grüßen
    Christopher Wilbrand

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