Es gehört – leider – auch zu den schweren Defiziten der kulinarischen Szene, dass man die eigene Arbeit oder die eigenen Vorlieben oder Leistungen nicht in größeren historischen Zusammenhängen sieht. Eigentlich sieht man sie noch nicht einmal in kleineren – wie dieses Beispiel beweisen dürfte. – Alle Welt redet im Moment – getriggert von einigen Größen des Faches – von klassischer Küche und von klassischen Gerichten, es gibt neue Fassungen von Klassikern wie der „Pâté en croûte“ oder dem Rinderfilet „Rossini“, und ohne eine Beurre blanc scheint kaum noch ein Restaurant auszukommen. Wie die Qualitäten dann ausfallen, ist wieder eine ganz andere Frage. Ich habe da wirklich alles bekommen – von Weltklasse und Fassungen, die das Original aus bester Hand noch übertroffen haben, bis hin zu Zubereitungen, die einfach nur klar machen, dass die Urheber nicht wissen, was sie tun.
Es geht hier um die Erinnerung an eine Buchreihe, die zwischen den Jahren 1990 und 1997 entstanden ist und insgesamt neun Bände umfasst, die damals mit jeweils meist 58 DM auch nicht gerade billig waren. Diese Bände befassen sich mit Gerichten deutscher Regionen, besser gesagt mit den Gerichten der besten Köche dieser Regionen, wobei es aber ganz explizit nicht nur um Sternerestaurants geht, sondern um alle Küchen, in denen hervorragende Leistungen gezeigt werden – Casinos und Betriebskantinen inbegriffen. Die gesamte Reihe liefert dann rund 4.200 Gerichte. – Das allein wäre für mich allerdings noch kein Grund, mit Nachdruck an diese Bücher zu erinnern, die heute quasi nur noch Köchen bekannt sein werden, die mindestens 50 oder 55 Jahre alt sind – es sei denn, jüngere Köche hätten sich einmal intensiv mit der Vergangenheit der deutschen Küche beschäftigt. Es gibt eben auch diverse Reihen von Büchern über verschiedene Regionen, die in ihrer ganzen Machart nicht wirklich erwähnenswert sind. Diese Bücher hier stammen aus einer Szenerie von Profis und/oder Höchstinteressierten, und mit Josef Thaller von einem ganz besonderen Autor. Ich zitiere aus dem Klappentext:
Josef Thaller, Jahrgang 1930, gebürtiger Münchner, Herausgeber mehrerer Kochbücher, die sich vorwiegend mit der deutschen regionalen Küche befassen, hat sich besonders auch als Begründer und Vorsitzender des angesehenen Stuttgarter Kochkollegs, das sich seit 1980 der Förderung und Pflege einer verfeinerten und erneuerten Landesküche (Die neue schwäbische Küche) annimmt, einen Namen gemacht….
Und auf dem Rücktitel schreibt der Verlag (Matthaes), dies sei „eine verfeinerte Landesküche, die in der Tradition klassischer Kochkunst dem Neuen sich öffnet und das Alte bewahrt.“
Nieren, Albert Bouley,Foto: Edith Gerlach
Das ist untertrieben. Die zehn Bände dokumentieren die Arbeit einer Köche-Generation, die in der Regel noch eine sehr harte, traditionelle Ausbildung hatten und in einer Zeit lebten, in der die Führer noch nicht bereit waren, von heute auf morgen und wegen oft kurzfristiger kreativer Aspekte schnell einen Stern zu geben. In diesen Zeiten war es normal, dass es erst einmal einen Stern sehr spät gab (also nach einer längeren Entwicklung) und man dann auf zwei oder gar drei Sterne jahrelang hinarbeiten und warten musste. Viele bemühten sich erkennbar, aber die Latte hing einfach ziemlich hoch. Und trotzdem war die Generation der Protagonisten in diesen Büchern äußerst motiviert. Man war infiziert vom Aufstieg der deutschen Küche (vor allem in den 80er Jahren) und hatte das nötige Selbstbewußtsein, seine Fähigkeiten überall zu demonstrieren. Es wurde kaum über „Formate“ nachgedacht, schon gar nicht über „Casual Fine Dining“ oder sonst irgendeine taktische Spielart, mit dem Kochen Geld zu verdienen. Man arbeitete mit Rückgrat und entlang eines breiten, klar erkennbaren Pfades ohne allzu viele Nebenwege. Diese Lage ist in diesem Buch dokumentiert, und das in überragender Fülle.
Schwein, Eckart Witzigmann, Foto: Edith Gerlach
Die Stilistik: Die deutsche Küche in breiter Front auf Augenhöhe mit den „großen“ Gourmetnationen.
Wenn man sich durch die Bücher arbeitet, muss man immer wieder mit dem Kopf schütteln – ungläubig ob so viel Qualität und vor allem ungläubig wegen der Stilistik von Küchen, die eben nicht nur blind dem französischen Vorbild hinterher hecheln, sondern die Anwendung des Gelernten auf die eigene Küche erstaunlich konsequent betreiben. Es wird vor allem auch klar, dass man in der deutschen Spitze bei den ganz großen Namen noch am ehesten Nachahmung oder Nachschöpfung bemerkt, in der breiten Schicht darunter, also bei den Namen, die sich nicht ganz so gut oder nur kaum im Bewußtsein der Kochwelt und ihrer Beobachter gehalten haben, enorme Leistungen bringt. Was hier an Regionalität optimiert und ganz selbstverständlich zum Beispiel an Nose-to-Tail exekutiert wird, ist wirklich höchst bemerkenswert. Hier ein paar hintereinander zu findende Rezepttitel aus dem Band Württemberg:
Gegrilltes Kalbsherz mit Trauben-Meerrettich
Kalbsherz in Senfsauce
Kalbskopfgratin mit Krebsen und Artischocken
Kalbskopf sauer mit Champignons
Kalbskopf in Sauerampfersauce
Kalbshirnroulade auf Estragon-Risotto
Ragout von Kalbshirn mit Gemüse
Beuscherl vom Milchkalb
Kutteln in Calvados
Der „Schock“: Es ist alles da. Nur – wo ist es geblieben?
Man fragt sich unweigerlich, wo das alles geblieben ist, und wieso man heute intensiv nach Würdigung regionaler Ressourcen rufen muss, weil sich zu viele Küchen in einem Wust von immergleichen internationalen Einflüssen verheddern und dabei viel zu oft einfach in den Grundlagen des Faches – also bei Produktqualität, Garungen und Aromatisierungen – schwächeln – von einer guten sensorischen Struktur ganz zu schweigen. Der Grund ist, dass diese Szene oft sozusagen „unter die Räder gekommen ist“. Ausgangs der 90er Jahre begann in den Medien der Aufstieg einer kreativen Küche mit vielen avantgardistischen Momenten, der Aufbau internationaler Kochstars, die nicht mehr automatisch alle aus Frankreich kamen und insgesamt eine Internationalisierung der Kommunikation über die Kochkunst. Dass es eigentlich bei uns ganz prächtig lief, und dass vor allem die Perspektiven sehr gut gewesen wären, verschwand in erstaunlicher Geschwindigkeit aus dem öffentlichen Bewußtsein. Es ist kein Wunder, dass diese Generation von Köchen dann auch auf viele Aspekte der Moderne negativ reagierte. Für sie waren viele der Entwicklungen „des Kaisers neue Kleider“, irgendwie Spielereien, die von Medienvertretern und Führern viel zu hoch bewertet und von immer nach dem letzten Schrei suchenden Mode-Gourmets ohne Sinn und Verstand hochgejazzt wurden. Die traditionell schlecht informierte Presse spielte natürlich mit, und das, was sich entwickelt hatte, trocknete zunehmend aus.
Heute sollten viele Köche, die diese Entwicklung nicht verfolgt haben, wegen ihres Alters noch nicht verfolgen konnten oder wegen einer fahrlässigen Geschichtsverlorenheit nicht wahrnehmen, angesichts dieser neun Bände der Kochkunst der 90er Jahre blass werden. Mein älterer Bruder, ein Psychologieprofessor, der sein Leben lang geforscht und sehr viel publiziert hat, hat sich schon immer darüber aufgeregt, dass in seinem Fach Leute auftauchen, die im Brustton der Überzeugung den Eindruck erwecken, sie hätten gerade das Rad erfunden (bildlich gesprochen…). Tatsächlich haben sie gar nichts erfunden, sondern nur einige Versatzstücke zusammengeschraubt, die Einflüsse verschleiert, geklaut und sofort wieder diese Tatsache verdrängt usw. usf.
An solche Dinge muss man denken, wenn man diese Bände liest. Vielleicht besorgen Sie sich die Bücher, so lange Sie sie noch finden und lassen Sie sich von Ihren Vorgängern inspirieren, kochen Sie in den Spuren eigener Traditionen, kochen Sie komplett, bewußt, nicht an der angenommenen Spitze einer Entwicklung, die keine Basis hat, sondern „State-of-the-Art“ – aber mit dem Bewußtsein und den Kenntnissen, die man braucht, um wirklich den Stand der Dinge zu repräsentieren.
P.S. Jeder Band hat ein Vorwort vom jeweiligen Ministerpräsidenten des Landes. Auch das noch.
Gefüllte Gänsebrust,Achim Fleischmann,Foto: Harry Bischof
Die zehn Bände:
Baden-Württemberg, 1990
Bayern, 1991
Nordrhein-Westfalen, 1992
Schleswig-Holstein/Hamburg, 1993
Hessen, 1994
Niedersachsen/Bremen, 1994
Rheinland-Pfalz/Saarland, 1995
Berlin/Brandenburg, 1996
Mecklenburg-Vorpommern, 1997
Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt,1997
Sehr verehrter Herr Dollase,
alle 10 Bände sind zu mir unterwegs (für zusammen unter 140€ inkl. Versand) – ich habe sie inspiriert durch Ihren Artikel direkt an verschiedensten Stellen geordert – bin sehr gespannt!
ups, wo gab es diese denn so zusammenhängend? Die hätte ich auch sehr gern genommen 🙂
Ja, so war es. In den 80er und 90er Jahren war die regionale oder regional-inspirierte Küche leider nicht gerade der Schnellzug zu den Sternen. Die kulinarische Landschaft war eine andere und schon ein Stern versprach oft Höchstleistungen, zumindest in Deutschland. Ab den 2000er Jahren mussten sich Köche, die nicht auf den Avantgarde-Zug aufsprangen, wie aus der Zeit gefallen vorkommen – man lese nur die Berichte in den „Feinschmecker-Magazinen“ jener Jahre.
Hervorragender Text; uneingeschränkt zustimmungswürdig.
Zitat : es war einmal
Nach all den schönen Erinnerungen aller hier Beteiligten an vergangene Zeiten sollte man doch wieder auf die gegenwärtige Lage schauen.
Von Paris bis Tokio oder von Dänemark bis Tokio lautet die Devise.Wo bleibt die gute deutsche Küche ? Wenigstens sind die Menü Karten in Deutsch .
Der einzige Sternekoch der aktuell die deutsche Küche würdigt ist Tim Raue.Mit seinem Menü ,Kolibri x Berlin, zeigt er uns die klassische Berliner Küche an, interpretiert mit neuen Einflüssen.
Dieses Beispiel sollte Schule machen.
Gut geschrieben, Herr Dollase, auch bei mir im Bücherregal stehen die 10 Bände. In den 2000ern wurde von u.a. Jürgen Pichler mit der Selection Gourmetreise ähnliches versucht ( ….. kocht) Ich finde aber, die Serie kommt bei weitem nicht an das Orginal ran. Ist ehern eine Auflistung von Gerichten der Küchenchef aus den entsprechenden Regionen. lg Ulrich Carl
Sie haben alle zehn Bände?
Sollte einmal der Platz im Bücherregel nicht mehr vorhanden sein, dann nehme ich die Bände sehr gern in pflegliche Verwahrung 🙂
VG Thomas H. Dorstewitz
Schön, was man für Schätze im Regal wiederfindet… oder für unter 10€ im Gebrauchthandel…
Auf jeden Fall lesens- und nachkochwert.
Danke
Wie wahr Herr Dollase,
sie schreiben mir aus der Seele, wo ist es hin?
Ich war einer der mitwirkenden 1990 Band Württemberg.
Die Aufzählung der Bände ist nicht ganz vollständig. Es fehlt: 1997 Die sächsische, Thüringer und sachsen-anhaltinische Meisterküche
LG
Danke, aktualisiert. Gruß JD
Ich hab mir, gleich als es rauskam, SCHLESWIG-HOLSTEIN und HAMBURG gekauft. Ich liebe Fisch, Wild und Lamm. Lese bis heute immer wieder gern darin, hab grad mal durchgezählt: in 10 von 47 erwähnten Restaurants war ich in den 8x und 9xzigern gern und teilweise oft (Oeversee, Fischereihafen-Restaurant auch wieder in 2024, Stadt Kappeln, etc.) gewesen. Im Nachhinein ist es sehr schade, die anderen Bände hätte ich auch kaufen sollen.
Ja Herr Josef Thaller war wirklich von dieser Reginalküche fasziniert, dafür hat er wirklich gelebt!
Nach einigen Treffen und Gesprächen mit Ihm wollte er ein solches Kochbuch schon gleich im ersten Gründungsjahr mit den JRE herausbringen.
Schade das es am Ende nichts gewollt war!
Es steckte wahnsinnig viel Arbeit in den Bänden. Damals wurden die Texte noch in Satz gegeben, die Bilder von Hand bemaßt und montiert, Filme entwickelt, Platten belichtet, auch war jedes Titelbild ein extra erstelltes Ölbild (2 davon habe ich)… aber die Arbeit war damals auch sehr befriedigend. Josef Thaller war ein sehr guter Herausgeber. Nur schade, dass manche Länderküche kaum Käufer fand…
Dieses wunderbare Buch habe ich mit einer Widmung von H.D.Kaufmann, Grevenbroich
(2*)
Gruss Rolf Vieten