Organisator oder Koch? Anmerkungen zum ARTE-Escoffier-Film

Der Film rund um den großen französischen Koch Auguste Escoffier am Sonntag auf ARTE war natürlich ein einziger Genuss. Es ist aus deutscher Sicht immer bemerkenswert, wenn man einmal wieder einen Film aus der Hand von Leuten sieht, die nicht eine Sekunde Zweifel daran haben, dass die Haute-Cuisine Hochkultur ist und eine wunderbare Sache, die sehr vielen Leuten sehr viel Freude machen kann. Mit den vielen nachgestellten Szenen und einem Escoffier, der auch mal wie ein guter Geist durch moderne Küchen in vollem Betrieb geht, hat man eine schöne Lebendigkeit erreicht, die die andauernde Bedeutung dieses Meisters seines Faches unterstreicht.

Die Beiträge aktueller Köche waren da vielleicht nicht ganz so spektakulär. Thierry Marx ist in Frankreich ein wenig der „Koch vom Dienst“, taucht sehr oft auf, ist aber im Prinzip stilistisch weit von Escoffier entfernt. Es wäre interessant gewesen, vor allem diejenigen Köche einzubeziehen, die zur kulinarischen Tradition ein engeres Verhältnis haben, sie ganz bewusst pflegen und in ihrem Programm immer wieder klare Spuren zeigen. Das gilt dann vor allem für Alain Ducasse.

Mir sind drei Aspekte besonders aufgefallen.

Wird Escoffiers Organisation der Küchenbrigaden manchmal falsch verstanden?
Escoffier gilt als derjenige Koch, der die bis heute übliche, mehr oder weniger spezialisierte Organisation der Küchenbrigaden eingeführt hat. Im Film wurde deutlich, dass es ihm nicht darum ging, eine kleine Brigade von 5 Köchen (o.ä.) in Entremetier, Poissonier oder Saucier usw. zu unterteilen, sondern um die Organisation von Gourmetküchen, die für heutige Verhältnisse eine unglaubliche Dimension hatten. Wenn man so will ging es um ein Problem, das heute am ehesten die Köche auf Kreuzfahrtschiffen haben. Es ist natürlich absolut plausibel und eine organisatorische Notwendigkeit, unter solchen Umständen arbeitsteilig zu arbeiten.

Das Ergebnis dieser Organisationsform mag auch für die Abläufe in den meisten kleineren Küchen wichtig sein, kann aber auch im Hintergrund ein Problem produzieren. Es gibt Köche, die in ihrer Laufbahn nach der Lehre nur noch in Brigaden von Spitzenrestaurants gearbeitet haben. Wenn sie sich dann irgendwann einmal selbständig machen oder Küchenchef werden, stellt sich natürlich die Frage, was sie vorher eigentlich alles gemacht haben. Haben sie wirklich auf jedem Posten lange genug gearbeitet um alle Details einer Küche in gleich hoher Qualität zu realisieren? Ich kenne eine ganze Reihe von Köchen, die da doch sehr unterschiedliche Qualitäten besitzen – auffällig oft bei der Patisserie übrigens. Könnte oder müßte eine gleichmäßige Ausbildung auf allen Posten zumindest bei der Einstellung von Küchenchefs stärker berücksichtigt werden? Das Escoffier-System kann da unter bestimmten Umständen auch eine Schwächung des Systems bringen, weil es früh eine Spezialisierung verlangt und es nicht sicher ist, dass jeder Koch irgendwann einmal universell ausgebildet ist.

Wo ist im Film der Koch Escoffier und seine Gedanken geblieben?
In französischen Filmen rund ums Essen kann man häufig beobachten, dass das eigentliche Kochen und vor allem interessante, genuin kulinarische Überlegungen der Köche zu ihrer Arbeit kaum je eine Rolle spielen. Das liegt natürlich nicht nur an den Köchen, sondern auch an der Konzeption der Filme, bei der es anscheinend vor allem um atmosphärisch starke Bilder geht. Dass man aber die gigantische Arbeit von Auguste Escoffier als Koch im engeren Sinne nicht detaillierter gewürdigt hat, ist schade. Sein Guide Culinaire hat nicht nur Generationen von Köchen als Basis für ihre Entwicklung gedient, sondern ist auch heute noch höchst interessant – zumindest für Profis oder gute Amateure, weil die Beschreibung der Gerichte in der Regel ohne jede Mengenangabe stattfindet. Ich persönlich notiere meine Rezepte ebenfalls meist in dieser Form. Welche Mengen man einsetzt, ist der jeweiligen Entwicklung oder dem jeweiligen Geschmack des ausführenden Kochs überlassen. Es geht darum, was man macht und wie man es macht – immer auf der Basis eines professionellen Grundverständnisses von Zubereitungen und z.B. auch Garzeiten. Escoffier hat da eine Kommunikationsform eingeführt, die zumindest für die eher klassisch orientierte Küche exzellent und variabel funktioniert und sich dabei nicht in langen Texten verliert.

Andererseits wird auf diese Weise nie ganz transparent, was denn nun ein echter Escoffier-Geschmack ist. Es gibt da die merkwürdigsten Anekdoten, wie etwa die, dass er durch eine Cremesuppe kurz vor dem Servieren noch einmal einen Thymian-Zweig gezogen hat, um dem Ganzen eben einen eleganten Hauch Thymian zu geben. Wenn es so etwas bei ihm häufiger gegeben hat (wovon man ausgehen kann) fehlen solche Informationen im Guide Culinaire. Man kann unter diesen Umständen davon ausgehen, dass seine Küchen mit ihren hohen Couvert-Zahlen sehr gut waren, aber wohl mit gewissen Toleranzen nach oben und nach unten und eher selten auf Maximalniveau.

Sind die Franzosen das Zentrum der Küchen-Kunst?
Im Film ist die Rede davon, dass die französischen Köche diejenigen seien, die dafür gesorgt haben, dass die Spitzenküche im Range von Kunst gesehen werden muss. Das ist ziemlich unklar. Der Film suggeriert, dass sich das, was man „Kunst“ nennen könnte, vor allem in der Optik, also beim Anrichten abspielt. Dann wäre „Kunst“ eher so etwas wie „kunstvoll“, ein Begriff, mit dem sich auch jene Köche anfreunden könnten, die Kochen grundsätzlich als Handwerk und nicht als Kunst sehen.

Es wäre allerdings heute eher naiv, den „Kunst“-Begriff so simpel auszulegen, und – so wird er in Frankreich auch nicht unbedingt eingesetzt. Es gibt dort sozusagen eine eigene Sparte von „Kunst“ für die Kochkunst, sie wird so zu einem Teil der verschiedenen Künste, läuft aber nicht Gefahr, der Bildenden Kunst, Oper oder Konzert ins Gehege zu kommen.

Ich neige eher dazu, die Schwelle zu einer typisch künstlerischen Tätigkeit da zu sehen, wo das Profil der Arbeit eindeutig individuell und zu einem individuellen Ausdruck wird, der zudem beim Esser weit mehr in Bewegung setzt, als etwa nur den überschaubaren Eindruck „lecker“.
Und genau an diesem Punkt sind die französischen Köche dann wieder etwas schwierig, weil sie dazu neigen, Individualität nur dann wirklich zu akzeptieren, wenn sie nicht so extrem ist und noch viel mit der klassischen Küche und ihren Wurzeln zu tun hat. Das wiederum betont dann wieder mehr die handwerkliche Seite, und so dreht sich die Argumentation im Kreis. Für mich finden sich Beispiele für weitgehend individuellen Ausdruck weltweit, aber nicht unbedingt mit Schwerpunkt Frankreich. ARTE ist eben auch ein französischer Sender, und in Sachen Kochen behalten die Franzosen offensichtlich das Heft in der Hand.

8 Gedanken zu „Organisator oder Koch? Anmerkungen zum ARTE-Escoffier-Film“

  1. Ausnahmekoch und Unternehmer

    Natürlich hat jeder von uns die Dokumentation über den Ausnahmekoch Auguste Escoffier zu einem großen Teil auch vor seinem eigenen, persönlichen Erfahrungshorizont gesehen. Für mich als Berater für Strategie und Kommunikation war daher faszinierend, wie ein sehr junger Koch mit zu seiner Zeit unbekannten Managementkonzepten ein weltumspannendes Imperium schaffen konnte. Natürlich hatte Escoffier wohl einen feinen Gaumen, viel Phantasie und als Koch großes handwerkliches Geschick. Nicht umsonst liest auch die heutige Generation seinen „Guide Culinaire“ aus dem Jahr 1903, ist die Erstellung von Fonds und Saucen durch ihn nachhaltig beeinflusst.

    Wesentlich für den Erfolg von Escoffier dürften aber Vision und Ehrgeiz gewesen sein, die Kochkunst in den Rang der schönen Künste zu erheben und auf diesem Weg als Koch die gleiche gesellschaftliche Anerkennung wie ein bildender oder darstellender Künstler zu erlangen. Entsprechend konzentrierte er sich spätestens ab dem Jahr 1867 auf bestimmte Gästegruppen sowie deren Wünsche. Für seine „Lieblingsgäste“ schuf er ganzheitliche Erlebnisse aus Haupt- und Zusatzleistung sowie Leistungsumfeld. Für die Leistungserstellung optimierte er Rezepte, Küchen und Arbeitsabläufe, Mitarbeiterführung und Beschaffung. Nur so war er in der Lage, zunächst 500 Gedecke von herausragender Qualität in einem Hotel zu servieren und später seine weltumspannenden „Events“ zu orchestrieren. Und er suchte sich nicht zuletzt mit César Ritz den Partner, mit dem er sich gegenseitig ergänzte und die gemeinsame Idee vom perfekten Hotel und Gastgeber vorantrieb.

    Abstrakt verrät der skizzierte Werdegang von Escoffier m.E. viel über die erforderlichen Fähigkeiten, die auch heute noch ein ambitionierter (junger) Koch entwickeln sollte, um herausragenden (unternehmerischen) Erfolg zu haben. Dazu zählen nicht nur die handwerklichen Fachkompetenzen. Spätestens mit dem Aufstieg in der Hierarchie sind Methodenkompetenzen wie Kreativität, Problemlösung und Entscheidungsfindung ebenso wichtig. Hinzu treten dann Sozialkompetenzen, die insbesondere für die zielorientierte Kommunikation mit Mitarbeitern, Gästen und Partner erforderlich sind. Und nicht zuletzt bleiben die sogenannten Selbstkompetenzen, um immer am Ball zu bleiben und nach einem Rückschlag wieder aufzustehen und neu weiterzumachen.

    Escoffier war nicht nur Ausnahmekoch. Er war insbesondere Unternehmer. Sein damaliges Managementkonzept inspirierte immer wieder Köche wie auch Joël Robuchon und Alain Ducasse. Dabei hat letzterer es nach meiner Einschätzung am stärksten optimiert bzw. an unsere heutige Welt angepasst. Aber das ist eine ganz andere Geschichte …

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  2. Hier schreibt kein connaisseur, sondern ein aufmerksamer Leser (und Bewunderer) von J. Dollase und seinen – sprachlich sowieso aber wohl auch inhaltlich immer sehr treffenden Analysen. Zudem bin ich eher zufällig in die schöne Sendung über Escoffier „gestolpert“ und habe, ich schliesse mich Dollase („Genusss“) an, jede Sekunde (sic!) genossen.
    Dollase merkt in seiner Kritik u.a. an: „Es wäre interessant gewesen, vor allem diejenigen Köche einzubeziehen, die zur kulinarischen Tradition ein engeres Verhältnis haben, sie ganz bewusst pflegen und in ihrem Programm immer wieder klare Spuren zeigen.“
    Frage: gibt es in Deutlichand ausgewiesene und bekennende „Enkel“ oder gar „Urenkel“ von Escoffier? Nach meiner Erinnerung hat der wackere Koch ja Heerscharen von Köchen (evtl. sogar Köchinnen?) ausgebildet. Würde mich mal interessieren ob sich da einige auch nach old germany „verlaufen“ haben und man ihnen heute noch den Ahnherren Escoffier „anschmeckt“…

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  3. Der Begriff „Pâtisserie“ wird hier als Gattung von Joachim Feldmann zu eng verstanden. Gemeint ist damit der das Esen abschließende zumeist süße (aber auch mal fruchtige) Schlussgang, meinetwegen noch mit Prä- und Postdesserts.
    Dass auch gute Küchen im Sternebereich in DE (und in Italien und Spanien sowieso!) in diesem Bereich oft schwächeln – und zwar in allen drei Aspekten: Produktqualität, Handwerk, Originalität -, ist in der Tat nicht zu rechtfertigen. Ein besonders unrühmliches Beispiel war der „Schwarze Adler“ in Oberbergen. Daran sind aber auch viele Gastrokritiker mitschuldig.

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    • Lieber Alexander,
      da haben wir uns missverstanden. Wir Profiköche benutzen den Begriff „Pâtisserie“ allgemein für den gesamten Bereich der Süßspeisen bzw. Desserts und Pre- und Pre-pre-desserts, selbst für das Kämmerlein, in dem sie hergestellt werden. Meine Aussage war: Die originäre Aufgabe eines Küchenchefs ist es nicht, dem jeweiligen Mitarbeiter handwerklich überlegen zu sein, sondern einen Mitarbeiter (hier Pâtissier) einzustellen, der’s kann.

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  4. Lieber Herr Dollase,
    natürlich haben Sie wieder mal recht. Allerdings unterliegen Sie in einem Punkt dem – typisch deutschen – Irrtum, ein Küchenchef müsse seinen Mitarbeitern handwerklich überlegen sein. Die originäre Aufgabe des Küchenchefs hingegen ist es, die Fähigkeiten und Kenntnisse seiner Mitarbeiter zu bündeln, um ein optimales Ergebnis zu erreichen. Die Schwäche der Köche im Bereich der Pâtisserie ist ein alter Hut, Köche sind Köche und weder Konditoren noch Bäcker.

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    • Lieber Herr Feldmann,
      das ist ein interessanter Aspekt, der mir durchaus bewußt ist, aber über den man wenig erfährt. Er spielt zum Beispiel dann eine große Rolle, wenn man einmal nachforscht, wie die kreativen Prozesse in der Spitzenküche ablaufen und wer da eigentlich was erfunden hat. Es gibt Köche, die nach wie vor von den Führern und der Kritik für Leistungen hochgelobt werden, die sie bestenfalls koordiniert, aber nicht wirklich kreativ erbracht haben. Ich habe einmal eine ziemlich aggressive Diskussion mit dem langjährigen Ducasse-Mitarbeiter Pière gehabt, der sinngemäß sagte, dass die ganzen Ducasse-Bücher und Programme der frühen 2000er Jahre von ihm seien… Bocuse in Deutschland war eigentlich Heinz Winkler… usw. usf.

      Es ist hinlänglich bekannt, dass es absolute Spitzenköche gab und gibt, die in ihrer eigenen Patisserie geradezu Hausverbot haben. Andererseits auch ein Jean-Claude Bourgueil, für den die Patisserie geradezu ein Hobby ist…
      Gruß JD

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      • Tja, und dazu kommen dann noch die Ex-Patissiers, die aus der süssen Ecke raus zu vollumfänglichen Chefs mit eigener Stilistik, individuellen Schwerpunkten wurden wie zb Ingo Holland, Sven Elverfeld …

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      • Und genau dies, lieber JD, meinte ich mit typisch deutschem Irrtum. In unserem Land grassiert die Meinung, ein guter Koch müsse alles können und die gesamte Bandbreite der Kulinarik beherrschen. In anderen Ländern, mit hoher (Ess-)Kultur gibt es Köche, die nur ihre eigene Spezialität wie z. B. Nudelsuppe, Sushi oder ein bestimmtes Pastagericht zur absoluten Perfektion beherrschen und dafür in den Köcheolymp gelobt werden.

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