Pierre Gangnaire ist pingelig. Gottseidank!

Pierre Gagnaire: Une vie en cuisine. Keribus éditions, Paris 2023. 480 S., 59 Euro (in französischer Sprache). Fotos im Buch: Marvin Leuvrey et Pierre Javelle

 

Von vielen der besten Köche haben wir kaum Dokumente, die öffentlich zugänglich sind. Es gibt natürlich gegebenenfalls die Kochbücher und die Rezepte in allen möglichen Medien. Aber – das ist eigentlich immer sehr wenig und im übrigen auch oft sehr unpräzise – zum Beispiel deshalb, weil man Rezepte in den Restaurants normmalerweise nicht für 4 Personen (der Buch-Standard) konzipiert. Manche Köche haben aber ein Gefühl dafür, dass das, was sie machen, einmal von sehr großem Interesse sein könnte – wenn sie denn nicht ganz normal, das festhalten wollen, was sie gemacht haben. Ferran Adrià hat ja das ehemalige „El Bulli“ mittlerweile nicht – wie ursprünglich einmal geplant – in eine Akademie o.ä. umgewandelt, sondern in ein Museum. Dass so etwas kommen würde, habe ich schon vor Jahren geahnt, weil er mir in seinem Atelier („Taller“) in Barcelona einmal diverse Schränke und Schubladen geöffnet hat. Seine Sammlung ist enorm und enthält so gut wie Alles, was er jemals gemacht hat.

 

Bei Pierre Gagnaire musste man damit nicht unbedingt rechnen. Er galt und gilt immer als genialer Erfinder, dabei aber auch als jemand, der eher von einer spontanen Kreativität geprägt ist. Irgendwie hat er es geschafft, dass man immer meint, er hätte die oft große Zahl von Realien in seinen Kompositionen erst im letzten Moment irgendwie zusammengeworfen. Um so erfreuter ist man, dass er sich nun als ein Koch outet, der quasi von Beginn an alle seine Gerichte notiert und gesammelt hat. Sie liegen nun in diesem Buch vor und sind eine enorme Demonstration von Einfallsreichtum, kulinarischer Power und Durchhaltevermögen. Es ist eben nicht normal, dass ein Koch über sein ganzes Leben hinweg und bis ins Alter immer und immer wieder Neues produziert, das auch diesen Namen verdient. Da muss man schon eine entsprechende Disposition haben – vielleicht Picasso nicht unähnlich, der sogar in hohe Alter noch einmal komplett seinen Stil geändert hat. Das ist also bei Gagnaire in diesem Buch sehr erfreulich – aus zweierlei Gründen. Einmal ließ er bisher in seinen Büchern eine gewisse Stringenz vermissen, sie wirken oft unkomplett und irgendwie irgendwelchen Verlagskonzepten folgend. Zum anderen kommt man auf diese Weise den legendären frühen Arbeiten aus St. Etienne etwas näher, die zwar bei Robert Laffont unter dem Titel „La Cuisine Immédiate“ erschienen, aber kaum noch zu finden sind.

 

 

 

Das Buch

Das Buch ist also auch deshalb so gut, weil man plötzlich Alles bekommt, was man bisher vermisst hat. Es gibt zum Beispiel auch eine Biographie, die sich entlang von Begriffen wie „Die Erfindung“, „Die Kindheit“, „Die Lehre“, „Die Kritik“, „Der Geschmack“ oder „Die Berühmtheit“ entfaltet und eine Reihe von interessanten Aspekten liefert. Sie ist eingebettet in den ersten Teil, der eine Reihe von Gerichten vorstellt, die man in diesem Zusammenhang als Gerichte sehen muss, die Gagnaire selber besonders gut findet. Sie sind nach dem Block zu Beginn dann auch später noch eingestreut und haben manchmal eine Rezeptur, manchmal eine Beschreibung der „Methode“, manchmal nur ein paar Sätze zur Erläuterung, aufgeteilt in „Plats salés“, „Le Grand Dessert“ (so die traditionelle Bezeichnung für das Dessert bei Gagnaire, das üblicherweise aus einer ganzen Reihe einzelner Zubereitungen besteht) und „Condiments et Astuces“. Zu den Gerichten gehören zum Beispiel der „Lièvre en trois services“ (wie viele solcher Gerichte immer ein Mix aus der Interpretation traditioneller Formen und innovativer Elemente), der „Jardin Marine“ mit 7 Gerichten, oder auch eine „Sole de petit bateau“.

 

 

Auf Seite 99 beginnt unter der Überschrift „Cartes, Cahiers et Carnets“ das, was dieses Buch so ganz besonders macht, aufgeschrieben offensichtlich meist in den typischen, ganz normalen Clairefontaine-Heften, die es ganz ähnlich auch heute noch gibt. Es sind die Gerichte, die er seit Winter 1981-1982 in seinen jahreszeitlichen Karten entwickelt und angeboten hat – am Anfang noch Winter plus Frühjahr/Sommer, später dann viermal pro Jahr. Es entfaltet sich eine ungeheure Menge von Material, das aber ungemein spannend wirkt und jeden Kreativen geradezu elektrisieren wird. Aufgelockert wird das Ganze durch diverse Archivmaterialien, Handgeschriebenes, Fotos, Dokumente, Zitate. Schon zu Beginn in seinen frühen Jahren ist klar erkennbar, dass Gagnaire die besonderen Kombinationen liebt und offensichtlich aromatische Zusammenhänge erkennt, die andere zu diesem Zeitpunkt kaum je erkannt haben. Zu Beginn in St. Etienne sind seine Gerichte auch noch eher übersichtlich betitelt. Beispiele: „Émincé de rognon de veau, cassolette de langoustines aux endives“ (81/82), oder „Gigotin d’agneau de lait en anchoiade“. Fünf Jahre später wurden die Beschreibungen dann schon etwas länger:

 

„Julienne de sole de ligne et noix de St-Jacques aux raisins blonds; salade de navet à la crème, Sabayon de banyuls“. Im Sommer 2019 klingt dann ein wahllos entnommenes Beispiel so: „Veau de limousin. Côte de veau parfumée nigelle et carvi; elle est rôtie à la casserole, déglacée à l’absinthe. Fregola, pepe bucato, olives Vernède de Camargue, feuille de laitue. Rognon croustillant, achillée; gribiche. Cuir de tête de veau, pousses de tétragone, câpres La Nicchia, sansho. Oignon doux des Cévennes à l’argouse”.

 

 

Es ist einfach ungeheuerlich, was hier in diesem Buch in Hunderten (oder Tausenden?) Rezepttiteln zusammenkommt, und der Blick auf die Jahre des Entstehens macht schnell deutlich, wie überragend einfallsreich und kenntnisreich dieser Koch ist. Seine Kenntnis von Produkten dürfte von kaum einem Koch erreicht werden – Ducasse, Robuchon und Adrià inbegriffen, weil letztere meist in bestimmten Systemen gedacht haben, die das ein oder andere Produkt ausgeschlossen haben. Bei Gagnaire scheinen Neugier und Gestaltungswillen so gewaltig ausgeprägt zu sein, dass er nichts liegen lässt, was man irgendwie verarbeiten könnte. Es ist hier nicht möglich und nicht sinnvoll, weitere Gerichte zu zitieren. Es ist ein Fass ohne Boden und die schiere Fülle an Informationen dürfte selbst kreativen Spezialisten den Schweiß auf die Stirne treiben. Natürlich kommen bei jedem Koch, der so lange in der Küche steht wie Gagnaire, eine Unmenge an immer wieder variierten Gerichten zusammen. Aber – das ist dann nicht Gagnaire, weil dessen Breite und Tiefe einfach ungeheuerlich ist. Er ist dabei – auch das kann man nicht nur im Restaurant, sondern zu einem gewissen Teil auch an den Titeln erkennen – immer auch Risiken gegangen, weil er in Bereiche vorstößt, die viele Gäste nicht kennen und für die sie damit auch keine qualitativen Vergleichsmöglichkeiten haben. Auch das gehört bei diesem Kreativen dazu, der mit diesem Buch, mit dieser Werkschau, diesem Einblick in seine kulinarische Denkweise, die massiv daherkommt, aber gänzlich unpompös inszeniert ist, seinen Platz in der Geschichte der Kochkunst noch einmal neu definiert. Und – auch das ist bemerkenswert – Gagnaire ist immer ein französischer Koch geblieben. Fast alles, was er macht, hat einen Bezug zu seiner kulinarischen Identität, hat die französische DNA. Hier kann jeder lernen – insgesamt und im Detail.

 

Für mich eines der interessantesten Bücher der letzten Jahre, das ich immer wieder zur Hand nehme und nehmen werde.

5 Gedanken zu „Pierre Gangnaire ist pingelig. Gottseidank!“

  1. Ich kann ihre Begeisterung dazu nur in Ansätzen teilen. Warum? Die Struktur des Buches ist, sagen wir mal so, gewöhnungsbedürftig, was z.T. auch auf die tabellarische Präsentation der Menüs zurückzuführen ist. Durch die Mischung von Notizen, Menükarten, Fotos wirkt das ganze Buch dann insgesamt etwas unaufgeräumt. Zusätzlich sind gerade die Menükarten mit Redundanzen überladen, so wird zB das Gericht um die Ente– auch wenn es hier um eine chronologische Darstellung über die Jahre geht – mindestens fünf Mal im selben Wortlaut aufgelistet. Interessanter wäre es gewesen, wenn man dazu einmal, dafür aber detaillierter über den Denkprozess Gagnaires erfahren hätte. So hätte man die Gerichte ab Seite 99 deutlich komprimierter, aber mit höherem Detailgrad darstellen können. Am interessantesten ist daher der Beginn des Buches mit illustrativen Darstellungen und detaillierteren Beschreibungen. Dass sich seine Gerichte im Hinblick auf die Komplexität graduell erhöht haben, geschenkt, dafür finde ich aber eine Publikation insgesamt zu schade. Im Übrigen ist die Zusammenstellung der Gerichte ab 1981 mE ausschließlich die Darstellung vorhandener Menükarten und nicht die Darstellung der Denkprozesse Gagnaires um ein Gericht.

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  2. Vielen Dank für Ihre Empfehlung, Jürgen Dollase. Leider habe ich es nicht nach St.Etienne geschafft, Paris war mir zu teuer. Sein Restaurant in Bordeaux, inzwischen geschlossen, habe ich mehrfach besucht und seine wunderbare Kochkunst genossen. Ich wollte eigentlich keine Kochbücher mehr kaufen, aber dieses muß es dann doch sein.

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    • es ist ein französischer Koch … soll er in Deutsch oder Englisch schreiben? … und da das Buch sehr selektierte Leserschaft hat … lohnt sich eine übersetzte Ausgabe wohl kaum … sofern bei diesem Werk sich die Frage stellt .. kann man so ein Buch überhaupt sinnvoll übersetzen … was ich nicht glaube …

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      • Pierre Gagnaire zu übersetzen ist eine echte Aufgabe. Seine Speisekarten-Lyrik ist manch mal kompliziert, man kann das übersetzen, meint aber oft, ein wenig daneben zu liegen. Er spricht übrigens auch so, dass ich immer etwas Probleme bekomme… Gruß JD

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