Sergio Herman: New Italian. Recipes and Stories. Nijgh & Van Ditmar, Amsterdam 2021. 304 S., geb., Hardcover, 34,99 Euro (in englischer Sprache), Fotografie: Kris Vlegels

Sergio Herman, der ehemalige Koch-Superstar vom „Oud Sluis“ in Sluis in der niederländischen Provinz Zeeland, ist und bleibt eine ganz spezielle Persönlichkeit. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Nik Bril in Antwerpen über die Zusammenhänge im „The Jane“, dem geschäftlich gemeinsam organisierten, von Beginn an sensationell gut laufenden Projekt von Herman und Bril. Sergio sei eine sehr starke Persönlichkeit, meinte er, da sei ein Konflikt vorprogrammiert: „Er muss sein Ding machen, sonst geht es nicht“. Mittlerweile ist die Trennung offiziell und Sergio Herman hat verschiedene Aktivitäten, darunter auch das regelmäßige Schreiben von Büchern. Es gab Versuche mit sehr einfach angelegten Veröffentlichungen im Stile der diversen TV-Köche. Das schien aber nicht so ganz sein Ding zu sein. Ganz offensichtlich interessiert ihn nur dann ein Thema, wenn er sich wirklich damit auseinandersetzen kann und zu Ergebnissen kommt, die auch „wie Sergio Herman“ schmecken und aussehen. Und genau das macht ein Buch wie „New Italian“ so interessant.

Eine kleine Anmerkung vorab. Ich hatte das Buch in einem niederländischen Buchhandel in einer niederländischen Ausgabe gesehen und nach einer englischen Ausgabe gefragt. Man sagte dort, es gäbe sie, es würde aber noch einige Zeit dauern, bis sie sie bekämen, weil ihr Großhandel so etwas nicht vorrätig habe. Ich habe es dann bei Amazon von heute auf morgen in der englischen Ausgabe bekommen… Ich persönlich lese die niederländischen Bücher ohne Probleme, weil wir hier an der niederländischen Grenze früher oft deren TV-Sendungen verfolgt haben und die Sprache gut kennen. Nachdem man die TV-Programme nicht mehr frei empfangen kann, ist die traditionell enge Verbindung zur Kultur der Niederland in dieser Region übrigens stark zurückgegangen. Auch das muss man einmal anmerken. Auch die kulinarische Berichterstattung in den Medien bei uns geht seit einiger Zeit gegen Null. Ich habe lange Jahre in der FAZ die niederländische Szene präzise und umfangreich beobachtet und wiedergegeben, weil die Köche dort eine ganze Reihe von eigenen Ansätzen haben – also anders schmecken. Aber – das nur am Rande.

Das Buch
Sergio Herman scheint ein Land regelrecht zu erforschen. Den Untertitel „Rezepte und Geschichten“ sollte man aber nicht falsch verstehen. Hier läuft kein dauergrinsender Koch durch die Gegend und umarmt für die Fotos Jeden, der sich nicht direkt aus dem Staub macht (…sie wissen, was ich meine…). Die Bilder von Herman kommunizieren einen Koch, der meist eher brummelig und sehr konzentriert bis in sich gekehrt aussieht. Irgendwo im Buch gibt es ein dunkles Bild von einer abendlichen Gasse in einem Viertel mit vielen Restaurants. Man sieht den großen Sergio Herman als Schatten von hinten und allein, wie ein Einzelgänger, während ihm eine größere Zahl von Menschen entgegen kommt. Das passt gut zu dem, was dieses Buch kommuniziert. Es gibt das Land, das in atmosphärisch dichten Bildern eingefangen wird, es gibt die kulinarischen Handwerker und Manufakturen, es gibt das Essen und einen Sergio Herman, der sich in hoher Konzentration zwischen den Dingen bewegt. Auf einer Doppelseite gibt es dann drei Bilder von einem Essen mit Freunden (oder jedenfalls Einheimischen). Sergio wirkt wie ein Außenseiter. Ich denke nach. Wie habe ich ihn bei unseren diversen Essen in Sluis erlebt, wo wir immer wieder auch längere Zeit diskutiert haben? Er war immer sehr offen und schien die sachliche Distanz, auf die ich meistens Wert lege, sehr zu schätzen. Ich muss die Sprache dieser eigentlich ungewöhnlichen, oft dunklen Bilder vor allem als Konzentration interpretieren. Und… die Gerichte beweisen das.

Man könnte ja auf die Idee kommen, dass eine gute italienische Küche vor Ort keinerlei Ausländer braucht, die meinen, man könne diese Gerichte irgendwie verbessern. Leider gibt es ja immer wieder Bücher von irgendwelchen professionellen oder nicht professionellen KöchInnen, die meinen, ihre spezielle Fassung italienischer Küche abliefern zu müssen. Man blickt hinein und wendet sich mit Grausen ab, weil man den Eindruck nicht los wird, dass die Welt solche Dokumente des Unverständnisses nicht braucht. Bei Sergio Herman hat man diesen Eindruck nicht. Er scheint die Essenz der traditionellen Gerichte zu suchen, zu begreifen und in sein Universum zu integrieren. Dass er das Ergebnis dann „New Italian“ nennt, ist nur logisch.

Dass Buch gliedert sich primär nach dem italienischen Menü, also in Aperitivi, Antipasti, Primi, Secondi, Contorni (Beilagen) und Dolci, ergänzt um Basisrezepte. Dazwischen gibt es kleine Texte von Sergio Herman etwa zu „Meine italienische Connection“, „Die Ursprünge meiner neuen italienischen Küche“ oder „Pasta als mein letztes Abendmahl“. Im Kern aber stehen Rezepte, die deutlich zeigen, dass Herman versucht, italienische Klassiker weiterzudenken und in seinem Sinne zu optimieren. So sensibel wie er das tut, wird er sich nie dem Vorwurf stellen müssen, er wolle Perfektes verbessern. In seinen Augen haben diese Klassiker das Potential zu modernisierten und unter modernen Aspekten optimierten Versionen. Das bedeutet bei ihm ganz klar ein intensiveres sensorisches Spiel, etwas mehr Vertikalität und Plastizität durch Textur- und Temperaturvariationen und damit ein klar interpretiertes Geschmacksbild gegenüber den oft ineinander fließenden und schnell einen Mischgeschmack erzielenden Akkorde vieler Klassiker.

Die neuen Gerichte überzeugen sofort und faszinieren oft sogar, weil man schnell merkt, was hier erreicht wird: das Beste der Tradition wird erhalten, aber es wird daraus eine Art lebendige Tradition, die auch heute und unter modernen Gesichtspunkten voll und ganz ihre Qualität behält. Da sind zum Beispiel seine „Rohe Langustine mit Zitrone und Zucchini“, die „Rohe Jakobsmuschel mit grünem Apfel, Buttermilch und Basilikum“, eine „Grüne Minestrone mit Zeeland-Muscheln“ (er nutzt immer wieder seine heimischen Superprodukte, über die ich schon vor Jahren immer wieder gestaunt habe – etwa bei den rohen Miesmuscheln, die ich besser als Austern fand…), „Risotto mit gegrillten Langustinen und Bergamotte“, „Sellerie-Ravioli mit Zeeland-Plats und Haselnuss“, eine „Cremige Polenta mit würzigem Lamm-Ragout, Minze und Artischocke“, ein „Ossobuco vom Seeteufel mit brauner Butter, Olive, Zitrone und Pistazie“, die „Gegrillte Seezunge mit Tubetti, Hummer, Schnittlauch und Nasturtium“ und natürlich auch Pizza (z.B. „Pizza guanciale mit dreierlei Käse“, bei der er vor allem auf präzise Proportionen achtet, die ganz allgemein ja jede sensorische Ausweitung erst sinnvoll machen.

Fazit
Dies ist eines der eher seltenen Bücher aus der Hand eines großen Kochs, bei dem man das Gefühl hat, hier herrscht Achtung vor der Tradition und den Produkten, hier wird verstanden, was den Wert einer Länderküche ausmacht und dann sensibel und ohne jede Überheblichkeit weitergedacht. Man bekommt spontan Appetit darauf, diese Kreationen zu probieren, weil es offensichtlich wird, dass diese Weiterarbeit Sinn macht und neue Horizonte öffnet. Dass Buch ist sehr atmosphärisch – auch wenn nicht auf allen Bildern ständig Hochsommer ist. Sergio Herman geht an die weltweit bekannten Klassiker unter den italienischen Geschmacksbildern, nicht an die oft spezifisch-rustikale Küche der Regionen. Sein Hintergrund ist Verfeinerung durch Ausweitung und/oder Interpretation, was dem ganzen Buch eine sehr gute Verständlichkeit und einen erheblichen praktischen Nutzen bringt.

Das Buch bekommt 2 grüne BB

P.S. Es wäre ungeheuer interessant, wenn sich ein Koch wie Sergio Herman einmal mit den deutschen Klassikern befassen würde. Ich fürchte aber, dass es dazu nie kommen wird…

Fotos © Kris Vlegels / Nijgh & Van Ditmar

3 Gedanken zu „Sergio Herman: New Italian. Recipes and Stories. Nijgh & Van Ditmar, Amsterdam 2021. 304 S., geb., Hardcover, 34,99 Euro (in englischer Sprache), Fotografie: Kris Vlegels“

  1. Das würde mich auch interessieren was sie unter deutschen Klassikern verstehen, schreiben sie doch ein Buch über deutsche Klassiker wäre bestimmt interessant.

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  2. Sehr geehrter Herr Dollase,

    erst einmal vielen Dank für Ihre fundierten Kritiken – über Restaurantbesuche als auch intelligente Kochbücher. Eine Frage – was sind für Sie deutsche Klassiker? Ich würde mich über eine größere Auswahl wirklich freuen.

    Vielen Dank vorab.

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