Stilkritik, Folge 5: Das Dessert-Problem

Ich möchte mit einem Zitat der französischen Kochlegende Fernand Point (1897 – 1955, „La Pyramide“ in Vienne) beginnen:

„Die Küche ist nicht unantastbar wie ein Gesetzestext. Aber man muss sich davor hüten, die tragenden Fundamente anzugreifen.“

Es kann sein, dass man heute mit der Behauptung, unsere avancierten Küchen hätten ein großes Dessertproblem, auf glattes Unverständnis stößt. Gerade bei den Desserts sieht schließlich alles heutzutage besonders gut aus. Wo sich noch vor gar nicht so vielen Jahren drei Elemente auf dem Teller verloren, gibt es heute eine kunstvolle Vielfalt von vielen Kleinigkeiten, und am Ende sieht das dann so gut aus, dass das Internet mittlerweile von „schönen“ Dessertbildern überquillt. Aber – wie das bei Bildern so ist – man sieht nicht, wie es schmeckt. Heute sind wir an einem Punkt angekommen, wo bei den Desserts – sagen wir es salopp: die „Bastelei“, der Effekt in einem riesigen Ausmaß dominiert, der Geschmack aber langweilig und produktfern ist, übersüßt oder übersäuert und beim Essen schnell einen sehr faden Nachgeschmack hinterlässt. Dabei zeigen sich im Detail eine ganze Menge von eklatanten Schwächen, die ich im weiteren Verlauf dieser Stilkritik zumindest teilweise ansprechen möchte.

Ich habe in den letzten Jahren höchst extreme Entwicklungen bei den Desserts beobachtet. Da gab es die genialen Ausweitungen durch „Crossover Desserts“ wie zum Beispiel bei Christian Hümbs, die dann zu vielen Nachahmungen führten, die aber – wie so oft bei Nachahmungen – aromatisch eher selten Sinn machten. Heute ist die Verwendung nicht typischer Dessert-Aromen weit verbreitet und akzeptiert – aber eben selten auf einem hohen Niveau. Im Zusammenhang mit einer sensorischen Ausweitung (also mehr Aromen, mehr unterschiedliche Texturen oder auch Temperaturen) entwickelte sich zudem ein Dessert-Zweig, der bis heute für optisch gefällige, aromatisch aber oft sehr schwache Ergebnisse steht. Bei diesen Desserts schmeckt man sozusagen die Zusatzstoffe, die Bindemittel, Stabilisatoren usw. usf., die „gebraucht“ werden, um mehr oder weniger spektakuläre Formen hinzubekommen. Noch vor wenigen Tagen habe ich in einem sehr guten Restaurant Chocolats als Petits Fours bekommen, die exzellent aussahen, alle farbig speziell und modern gestaltet und teilweise sogar in ungewöhnlicher Form. Geschmacklich brachten sie „kreative“ Füllungen, aber ein geradezu abstrus schlechtes Verhältnis zur Schokolade/Kuvertüre, die quasi nur noch als Behälter-Masse diente. Es ist beim besten Willen nicht zu erkennen, wo bei solchen Produkten die gute, bereichernde oder kreative Leistung liegt. Ihre Qualität fällt weit hinter das zurück, was man schon längst erreicht hatte.

 

Vorab: Die Schokoladenschwäche

Was vor allem auffällt, ist ein eklatant schlechtes Verhältnis zur Schokolade. Mir kommt es so vor, als ob viele Patissiers überhaupt nicht wissen, wie gut Schokolade (ich benutze hier diesen ungenauen, aber populären Begriff) eigentlich schmecken kann. Offensichtlich fehlen hier Erfahrungen bei den besten französischen Chocolatiers, die es schaffen, spezifische Aromen von Kakao aus ganz unterschiedlichen Gebieten der Welt auch als Chocolats oder als Tafel einzufangen. Man findet bei guten Chocolatiers Schokoladentafeln, bei denen ein einzelnes Stück, im Mund langsam geschmolzen, besser ist als viele Desserts in hervorragenden Restaurants. Während man sich bei solchen Chocolatiers auf die Substanz und sonst nichts konzentriert, geht es in der Patisserie sofort wieder in Verdünnungen und Überformungen aller Art, bei der am Schluß Weichgespültes, Produktfernes und letztlich Banales steht. Und wenn die Form überhand nimmt, nicht mehr zum Inhalt passt und die Qualität kaum noch eine Rolle spielt, nennt man so etwas gerne auch schon mal Kitsch.

 

Der qualitative Unterschied zwischen herzhafter Küche und Desserts ist zu groß, und welche Rolle spielen die klassischen Qualitäten?

Woher kommt nun dieser Gourmetkitsch, der meist im herzhaften Teil der Küche kaum zu spüren ist? Es ist bekannt, dass viele unserer besten Köche kein gutes Verhältnis zu Desserts haben. Wenn sie selber irgendwo essen, lassen sie gerne auch schon mal das Dessert weg, in ihrer eigenen Küche sind sie froh, wenn sie den ganzen Bereich an die Patisserie abgeben können. Das hat zu einer Entwicklung geführt, die kontraproduktiv ist. Der Druck auf die Qualität ist im herzhaften Bereich üblicherweise sehr viel höher, unter anderem auch deshalb, weil der Dessert-Bereich auch bei Kritikern und Testern oft eher stiefmütterlich behandelt wird (Ausnahmen bestätigen die Regel: als Hümbs mit seinen Crossover-Dessert begann haben sich manche Medien und Führer extrem aufgeregt).

Man kann zudem beobachten, dass sich im herzhaften Bereich sehr viele klassische Qualitäten gehalten haben. Dabei geht es nicht nur um Garungen, vorbereitende Techniken oder Produktqualitäten, sondern auch um eine beträchtliche Anzahl von Geschmacksbildern (z.B. Beurre blanc und alle Varianten), die nach wie vor eine sehr große Rolle spielen und im übrigen auch von vielen Beteiligten qualitativ sehr gut eingeordnet werden können. Genau das fehlt mittlerweile weitgehend im Dessertbereich. Die scheinbare Freiheit der Gestaltung wird von einer Auflösung der Qualitäten begleitet. Das, was Fernand Point sagte, bekommt Jahrzehnte später plötzlich eine ganz konkrete Bedeutung: man hat vergessen oder weiß es einfach nicht, was gute, grundlegende Qualitäten im Dessertbereich sind. Natürlich gibt es die Freunde des Süßen, die alles gut finden, was nur genug Zucker hat, und natürlich auch diejenigen Gäste, die vor Begeisterung immer ganz aus dem Häuschen sind, wenn ihnen ein besonders gelungenes Ikebana-Dessert vorgesetzt wird. Das kann und darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier ein großer kulinarisch-kultureller Verlust droht, weil ganze kulinarische Bereiche eine einseitige, sehr beschnittene, von der Geschichte des Faches abgeschnittene Entwicklung nehmen.

 

Was ist beim Dessert ein Hauptprodukt

Man kann in vielen Fällen eine ganz einfache Frage stellen: Wenn im Mittelpunkt eines Gerichtes ein Hauptprodukt stehen soll (oder allgemein die guten Produktqualitäten): Was ist bei vielen Desserts eigentlich mit dem Hauptprodukt? Wo sind die Produkte, die – wie im herzhaften Bereich – als richtig gut empfunden werden? Wo man als Gast die Frage stellt, wo denn die Küche so gute Produkte bekommt? Wo man die Frage stellt, wie man denn einen so sensationellen Teig hinbekommt, ein natürlich schmeckendes Eis, das nicht wie ein industrielles Vollkonzentrat wirkt? Ein Dessert, das zubereitet wirkt und nicht wie aus dem Baukasten zusammengesetzt?

Dazu kommt, dass die Liste der Hauptprodukte große Lücken aufweist. Die Schokolade ist so eines, aber auch Nüsse aller Art (vor allem in Verbindung mit Schokolade), Teig (!, ja, zum Beispiel ein überragender Blätterteig), Früchte in einer Qualität, wie man sie nirgendwo bekommt (aber bitte mit der Fähigkeit, Fruchtpürees von diesen Früchten so abzuschmecken, dass keine nachhaltige Säure entsteht) usw. usf.

 

Was zum Beispiel fehlt

Es fehlen vor allem auch die typischen Optimierungen populärer Süßspeisen – so, wie man auch im herzhaften Bereich (und das vor allem in Deutschland) in der avancierten Küche auf die Superversionen regionaler Spezialitäten treffen sollte. Ein exzellentes Blätterteigtörtchen mit exzellenter Apfelauflage, Gelee, Crème anglaise/patisserie etc. kann so hervorragend sein, dass man keinen Wunsch mehr hat. Ich habe in den letzten Jahren in Spitzenrestaurants nicht ein einziges Mal so etwas bekommen. Eine umgebaute Schwarzwälder Kirschtorte mag ja ganz lustig sein, der echte Aha-Effekt stellt sich aber erst ein, wenn man nahe am Original bleibt und dennoch qualitativ sensationell wird. Man sollte junge Mitarbeiter der Patisserie erst einmal einen Schokoladenkuchen o.ä. backen lassen und sich genau ansehen, welche Qualitäten er oder sie dort hineinpacken kann. Wer das nicht kann, wird immer Schwierigkeiten haben. Und – man sollte überlegen, wo und wie eine Ausbildung stattfinden kann, die die mittlerweile entstandene Lücke wieder schließt. Vielleicht muss man erst Bäcker und Konditor sein und nicht gleich Patissier in einem Spitzenrestaurant werden wollen, vielleicht müssen aber auch ausbildende Instanzen (und natürlich die Kritik) im Dessertbereich wesentlich härtere Maßstäbe anlegen. Die „Bastelei“ kann man sich immer aneignen, aber „Bastelei“ ohne kulinarischen Sinn und Verstand ist ein Verlust und sollte keine Zukunft haben. Wenn jeder gute Chocolatier um Klassen bessere Chocolats macht, als man sie in der avancierten Küche findet, stimmt etwas nicht.

Und – die wirklichen kreativen Lösungen (egal in welcher Richtung) sind natürlich immer eine Ausnahme.

3 Gedanken zu „Stilkritik, Folge 5: Das Dessert-Problem“

  1. Lieber Herr Dollase,
    ich lese Ihre kulinarischen Ausfuehrungen schon seit 2 Jahrzehnten und habe sehr viel von Ihnen gelernt. Was mir aber zusehend auffaellt, ist, dass Sie sich um Kritik an konkreten Restaurants zu winden scheinen. Die meissten ihrer Restaurantkritiken sind sehr positiv. Sie deuten Schwaechen in der deutschen Essensszene nur in den allgemeineren Artikeln an. So warte ich z.B. seit Wochen vergeblich auf den ausfuehrlichen Artikel ueber die Menueschwaechen in deutschen Restaurants. Und auch in diesem Artikel nennen Sie das Restaurant, in dem Sie das schlechte Dessert gegessen haben, nicht. Ich nehme an, dass Sie fuer die Nennung des Restaurants einfach zu nett sind. Allerdings hilft das dem allgemeinen Essensniveau in Deutschland nicht. Wie Sie richtig schreiben, sollten die Standards hier angezogen werden, auch in der Kritik. Hier sollten dann aber schon auch mal konkrete Namen genannt werden, sonst wird sich nichts aendern.

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  2. Ich kann ihren Gedankengang nachvollziehen und gebe Ihnen in vielen Punkten recht. Eines der – auch von Ihnen angesprochenen – Probleme ist sicherlich folgendes: wenn man (beim Essen) merkt, dass ein Dessert von Köchen und nicht von Patissiers gemacht ist (und als erfahrener Esser merkt man das). Das hat dann zumeist Langeweile oder Belanglosigkeit zur Folge. Zwei der wirklich positiven Ausnahmen möchte ich hier dennoch anführen, weil sie zeigen, was auch als Koch im Dessertbereich alles möglich ist: zum einen Sebastian Frank (der ja paradoxerweise selber (fast abwertend) sagt, dass er die Desserts eines Koches macht) und zum zweiten das Essigbrätlein, die mich mit ihren säure- und gemüsebetonten Desserts immer wieder positiv überraschen, um es subtil auszudrücken. Zuletzt bekam ich dort die fantastische Kombination Zitroneneis (aus dem weißen Mesokarp!), bittere Endivie, Quitte und Wacholder(!)-Zitronenzucker – eines der für mich besten Desserts der letzten Zeit.
    Das zweite von Ihnen angesprochene Problem habe ich bis dato gar nicht als solches erkannt, aber sie haben sicher recht, das Thema Schokolade wird von vielen Patissiers im deutschsprachigen Raum stiefmütterlich behandelt. Zumeist wird die adäquate Einbindung von Schokolade ja mit sogenannten „klassischen“ Patissiers in Verbindung gebracht, davon gibt es heutzutage nicht mehr allzu viele. Eine Ausnahme, die mir sofort einfällt, ist Stefan Leitner vom Bareiss – was dort an Friandises und Petit Fours aufgefahren wird, ist im deutschsprachigen Raum aus meiner Sicht einmalig und zeigt, was im klassischen Bereich alles möglich ist.
    Und noch ein Punkt, den Sie ansprechen: sie haben sicherlich recht, dass viele Produkte (leider) in Desserts bis zur Unkenntlichkeit transformiert werden – sehr oft bekommt man ein Dessert mit dem (pompösen) Titel einer Frucht („Die Erdbeere“), in dem dann im Endeffekt das Produkt kein einziges Mal in seiner Originalform präsent ist (Eis/Espuma/Sponge/getrocknet). Da wären die besten Erdbeeren mit einer 1a-Sahne ziemlich sicher die bessere Option. Das ist natürlich schade und deutet eher darauf hin, dass im Patisseriebereich – was Obst betrifft – nicht die besten Produkte zum Einsatz kommen (oder der Patissier nicht die Kenntnis hat, wie er diese optimal einsetzen kann).

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  3. Dem kann ich nur zustimmen. Bravo! Ich lasse Desserts in der Spitzen-Gastronomie meistens weg, weil ich auf Blumenkohl-Krümel, irgendwelche Kleckse die künstlich abgebunden wurden oder sehr saure Nachspeisen mit grünen Hauptkomponenten gerne verzichte. Es schmeckt einfach nicht sonderlich! Wie bereits im Artikel erwähnt, sind selbst die Pralinen von diesen Einflüssen mehr sicher. Ich würde für Pralinen wie von L’Maison Du Chocolat aus Paris töten. Es ist mir völlig unverständlich, warum Mille-Feuille mit reifen Himbeeren, eine Pavlova oder ein lauwarmer Apfelstrudel aus der Mode gekommen sind. Alles Nachspeisen die bei den Gästen meistens wohlige Schauer verursachen;-))

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