„Sulz“ von Matthias Dahlinger

Vor einigen Wochen ist mir bei einem Testbesuch etwas passiert, was mich – schmunzelnd – ein wenig an die Schlußszenen in „Ratatouille“ erinnert hat. Ich habe ein Restaurant besucht, das ich zwar vorher mit klaren Gründen sorgfältig ausgewählt hatte, bei dem ich aber irgendwie nicht wusste, wer der Koch war. Ich saß also mit meiner Frau im Restaurant und die beiden Vorspeisen erschienen. Die eine entpuppe sich als eine handwerklich gut gemachte Arbeit mit ein wenig Erinnerung an die 90er Jahre. Als zweite Vorspeise hatte ich einen Gang aus einem Regionalmenü bestellt, und zwar „Sulz in Riesling-Kräutersauce mit Rotweinschalotten und geschmelztem Kalbskopfknödel“. Der Teller sah – sagen wir: nicht gerade übermäßig gut sortiert aus, erinnerte mich aber in der Optik daran, dass gut schmeckende Sachen oft nicht unbedingt auch gut aussehen, oder zumindest nicht so wie die aktuellen Anrichtemoden. Ich probierte und zuckte regelrecht zusammen. Es schmeckte sensationell gut, bodenständig, rustikal, aber dabei mit vielen feinen Schattierungen zwischen Kutteln und Kalbskopf, den Rotweinschalotten, einem Zweig Staudensellerieblätter und der angereicherten Riesling-Säure. „Was ist das denn“, sagte ich zu meiner Frau, „das muss ein sehr guter Koch sein, der genau weiß, was er tut. So kann man nur kochen, wenn man etwas in absolut allen Details verstanden hat. Das schmeckt unglaublich! Das ist wieder eines von den Gerichten, die man anders, aber nicht besser machen kann, und eine Küche, die von Michelin immer glatt übersehen wird.“

Es dauerte nicht lange, da stellte sich heraus, dass in der Küche des „Restaurants Hotel Stadt Freiburg“ Matthias Dahlinger arbeitet, der früher die „Eichhalde“ in Freiburg betrieben hat und schon 2003 damit auffiel, dass er ziemlich eigenwillig seinen Stern zurückgeben wollte, um „das zu machen, was ihm Spaß macht“. Und weil das Hotel in den Händen der berühmten Freiburger Gastronomenfamilie Burtsche (u.a. Colombi) liegt, wundert es auch nicht, dass man nun Dahlinger in der Küche hat.

 

„Sulz in Riesling-Kräutersauce mit Rotweinschalotten und geschmelztem Kalbskopfknödel“. Die Details

Nachdem ich über Dahlinger in meiner Kolumne „Hier spricht der Gast“ in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung berichtet hatte, ließ mir die Sache aber immer noch keine Ruhe. Also bat ich den Meister, ob er mir vielleicht das Rezept zuschicken könnte. Hier ist es, und man wird sich schnell darüber wundern, mit welchem Aufwand ein solches Meisterwerk angegangen werden muss. Dahlinger weist allerdings auch darauf hin, dass man bei diesem Gericht „mehr mit Bauch und Gefühl“ kocht, „anstelle der Waage“. Hier also das, was er „Vorgehensweise“ nennt:

 

Sulz, Basis

– Den Kalbsmagen dreimal blanchieren, um einen reineren Geschmack und mehr Weiße zu erzielen.

– Den Kalbsmagen 4 – 5 Stunden in Salzwasser mit Wurzelgemüse köcheln bis er weich ist. Den auftretenden Schaum und das Fett immer wieder abschöpfen. Das Wurzelgemüse besteht aus Karotten, Sellerieknolle, Staudensellerie, Lauch und Zwiebel in jeweils größeren Stücken. Dazu kommen Wacholder, schwarze Pfefferkörner, Lorbeer, Nelke, Sternanis und Kardamom.

– den Magen herausnehmen, erkalten lassen und in ca. 8 x 1 cm lange Streifen schneiden. Trocken tupfen.

 

Sulz, Fertigstellung

– Die Streifen in leicht brauner Butter anschwitzen. Zwiebelwürfel und wenig Knoblauch dazugeben und ebenfalls anschwitzen. Mit etwas Weißwein ablöschen, reduzieren, Fond dazu, reduzieren, mit Beurre manie leicht abbinden.

Kalbskopf

– die ausgelöste Kalbskopfmaske mit Zunge in kochendes Salzwasser geben, dass mit Wacholder, Nelken, Korianderkörnern, Piment, weißem Pfeffer, Sternanis, zerstoßener Muskatnuss, Lauch, Karotte, Sellerie, zerstoßenen Zwiebeln und zerstoßenen braunen Champignons aromatisiert ist.

– ca. 1 ½ Stunden köcheln bis das Kopfleisch richtig weich ist. Fleisch entnehmen, die grobe Gaumenhaut und von der Zunge die feste Haut entfernen. Alles noch warm in ca. 2,5 cm große Würfel schneiden, die Zungenwürfel etwas kleiner nehmen. Salzen und pfeffern.

– In Butter angeschwitzte Zwiebeln, Knoblauch, Petersilie, etwas Majoran und Liebstöckel dazugeben. Alles gut vermengen.

– In eine Form drücken und ca. 12 Stunden gepresst kaltstellen

– Den gepressten, kalten Kalbskopf in ca. 1 cm große Würfel schneiden und mit der abgekühlten Serviettenknödel-Masse (siehe unten) vermischen.

– Die Masse in Backpapier und Alufolie straff einrollen und bei ca. 85° im Wasserbad etwa 45 Minuten garen. Erkalten lassen, in Scheiben schneiden und in geschäumter Butter braun braten

 

Serviettenknödel

Zutaten: 500 gr. trockene weiße Brötchen oder Brot in Würfeln, 5 Eier, ca. 500 ml Milch, ca. 140 gr. Butter, 2 gewürfelte Zwiebeln, 1 Bund glatte Petersilie, Salz, Pfeffer, Muskat

Zubereitung: Zwiebelwürfel in Butter anschwitzen, gehackte Petersilie dazugeben, kurz mitschwitzen. Über die Brotwürfel geben. Milch im Topf vom Anschwitzen der Zwiebeln mit Salz, Pfeffer und Muskat aufkochen und über das Brot geben. Eier zu einem flüssigen Rührei schlagen, zum Brot geben und alles gut vermengen. Etwa eine Stunde ruhen lassen.

Noch einige Anmerkungen von Mathias Dahlinger dazu: Wenn man das Ei für die Knödel zu einem flüssigen Rührei schlägt, nimmt man dem Ei etwas von seiner Bindekraft und die Knödel werden lockerer. – Den Kalbskopffond kann man für Gelees, Sülzen oder auch zum Auffüllen von Kalbsjus verwenden. Früher hat man daraus auch eine sogenannte falsche Schildkrötensuppe (Mockturtle) gemacht.

 

„Sulz“, die Frage: Ist so etwas für mehrfach besternte Spitzenköche zu schwierig?

So weit die Worte des Meisters. Und da kommt dann auch gleich die Frage, warum eigentlich unsere Spitzenköche aus dem Gourmetbereich so etwas nicht aufnehmen. Natürlich gibt es immer wieder Bemerkungen zur Rustikalität solcher Traditionsgerichte, die die Gäste dann eben lieber irgendwo in einem Landgasthof essen. Das mag ja sein, trifft den Kern aber nicht. Wie hier bei Dahlinger können solche Zubereitungen sagenhaft gut schmecken. Natürlich würde man in einem Gourmetrestaurant nicht solche Gerichte komplett erwarten. Aber – was spricht eigentlich dagegen, sich diese exzellenten Aromen zunutze zu machen? Als intelligentes Element einer Küche, die auch regionale und traditionelle Qualitäten nicht vergisst, zum Beispiel wegen der überragenden Wirkung für den assoziativen Kontext? Jan Hartwig jedenfalls denkt schon in diese Richtung.

Aber – können die Gourmetküche heute noch solche Dinge realisieren? Sicher – sie können nach einem Rezept alles so zubereiten, wie es dort steht. Dahlinger hat aber – siehe oben – darauf hingewiesen, dass man so etwas nur „aus dem Bauch“ heraus realisieren kann, also in einer Technik, die langes Lernen und vor allem eine klare geschmackliche Orientierung braucht. Er hat sich insofern bei seinem rezzept kaum konkret festgelegt. Wer weiß, was er meint, wird seinen eigenen Weg einschlagen, so etwas zu realisieren. Das, soviel ist sicher, haben sehr viele jüngere Köche in diesem Fach nicht mehr zu bieten, sie haben es einfach nie in der Praxis erlebt, sie haben nie am Herd gestanden und für die Familie das Sonntagsessen zubereitet oder auch in schon müdem Zustand das tägliche Essen. Da steht man am Herd, stellt die Zutaten zusammen ohne irgendetwas nachzuwiegen oder die Größe der Zwiebel zu bedenken, weiß aber trotzdem ganz genau, wie es schmecken muss. Auf dieser Basis werden solche Dinge realisiert, sie sind ein Erfahrungsschatz.

Auch in unserer Spitzenküche dürfen solche Dinge nicht verlorengehen. Sie müssen ihren Platz haben, weil die besten Gerichte genau dorthin gehören.

In der ersten Folge der neuen „EDT-Selektion“: Die „Sulz“ von Matthias Dahlinger vom Restaurant des Hotels Stadt Freiburg in Freiburg. Bitte überprüfen Sie vor einem Besuch, ob dieses Gericht zu bekommen ist!

Schreibe einen Kommentar