Virgilio forscht!

Virgilio Martinez: The Latin American Cookbook. Phaidon Verlag, London und New York 2021. 432 S., geb., Ganzleinen, ca. 32.99 Euro (in englischer Sprache)

Virgilio Martinez vom “Central” in Lima in Peru gehört zu jenen ganz großen Namen weltweit, die sich im Zuge der Regionalisierung der Spitzenküche durchgesetzt haben und prägend für die Küche ihrer Region geworden sind. Dazu kommt, dass die südamerikanische Küche auch noch eines der „neuen großen, kulinarischen Dinge“ geworden ist. Die Vorlieben für Ceviche und Co. haben sich in Europa (und vor allem bei uns) buchstäblich bis ins letzte Dorf vorgearbeitet – von den Szenevierteln der Großstädte einmal ganz zu schweigen. Martinez selber hat es mit dem „Central“ bis auf Platz 4 der „50 Best Restaurants“ gebracht (2016). Heute ist er u.a. dabei, sein „Lima“ – Restauranformat international zu verbreiten. Das Angebot und die Preise dieser Restaurants sind sehr beachtlich.

Seinen Ansatz konnte man in dem hier schon von mir besprochenen Buch „Central“ von 2016 sehr gut studieren. Martinez hat eine geradezu prototypische Nova Regio – Küche entwickelt, also eine Küche, die ein neues, umfassendes Verständnis der jeweiligen Region mit einem avantgardistischen Denken verknüpft. Das „Central“ – Buch zeigt, dass er nicht etwa irgendwelchen groben Impressionen folgt, sondern wie ein Wissenschaftler an der Erforschung vor allem der Unmengen von Gemüsesorten in Peru gearbeitet hat. Das Bild, das in „Central“ entsteht, ist das von einem Spitzenkoch, der weiß, welche Produkte und kulinarischen Traditionen sein Land besitzt und sie in einer großen Breite als Inspiration benutzt. Dass er dabei – ganz Nova Regio-Stil – nicht etwa klassische Küchenvorstellungen über die Traditionen stülpt, sondern die geschmacklichen Perspektiven immer nahe am Produkt entwickelt, ehrt ihn ganz besonders.

 

 

Das Buch

Insofern wundert es nicht, dass „The Latin American Cookbook“ kein Bildband über die schönsten Stellen in Süd- und Mittelamerika ist, sondern einen gewissen lexikalischen Charakter hat. Ganz offensichtlich ging es ihm nicht um seine Lieblingsrezepte oder sonst eine einengende Konzeption, sondern um das Finden der kulinarischen Substanz und darum, sie in eine stabile, kommunikationsfähige Form zu bringen – sprich: nachkochbar zu machen. Das Spektrum ist entsprechend groß. Martinez beginnt mit „Brot und gebackenen Dingen“, gefolgt von Sandwiches, „Körner, Quinoa und Amaranth“, Wurzelgemüse, Getreide, Gartengemüse, Bohnen und Linsen, Früchte, Milchprodukte und Eier, Fisch und Meeresfrüchte, Rind, Schwein, Geflügel, dann eine sehr spezielle Abteilung namens „Native Meats and Insects“ (mit u.a. Meerschweinchen und einer ganzen Reihe von Insekten), Lamm und Ziege, Süßigkeiten, Drinks und „Salsas und Gewürze“. Bei weitem nicht alle Rezepte haben Abbildungen, was den Rahmen des Buches wohl gesprengt hätte.

Die kleingedruckten Beschreibungen haben etwas von kulinarischer Feldforschung. Es gibt als erstes die Herkunft mit dem Originalnamen des Rezeptes, dann die Zubereitungszeiten, dann eine Kurzbeschreibung der wichtigsten Fakten zu dem Rezept und schließlich die Zutaten und die Zubereitung. Die Bilder der für das Buch fotografierten Gerichte sind einfach und effektiv und zeigen keinerlei größere Dekorationen. Hier gibt es also Küche pur, die im übrigen auch weitgehend von industriellen Einflüssen befreit ist. Man merkt zudem, dass die Rezepte in Südamerika nicht durch eine Art Spitzenküche oder höfische Küche oder Küche der wohlhabenden Stände geprägt wurden. In Frankreich etwa fällt es manchmal schwer, die ursprüngliche Regionalküche aus all den Rezepten zu kondensieren, die im Verlaufe der Jahrhunderte rund um diese Zubereitungen entstanden sind.

Was die Rezepte angeht, ist dieses Buch für Europäer natürlich eine beträchtliche Fundgrube. Dabei entpuppt sich der ein wenig trocken-wissenschaftliche Duktus durchaus nicht als problematisch. Durch die klaren Anmerkungen zur Herkunft der oft originellen Kombinationen kann man sich hier schnell „festlesen“ und eine Menge von Inspirationen gewinnen. Es gibt zum Beispiel: Reis und Black-eyed-peas (Augenbohnen), eine ganze Menge von Getreide-Salaten und Eintöpfen, gebackene Tortillas aus Yucatan, Kürbispüree mit getrocknetem Fleisch, eine Oster-Suppe aus Ecuador mit – man ahnt es – einem ganzen Sammelsurium der besten regionalen Zutaten – immer angereichert von Kräutern und Gewürzen der plakativeren Art, natürlich auch einfachere Dinge wie einen Avocado-Sellerie-Salat mit Walnüssen und Koriander, eine ganze Reihe unterschiedlicher Fischsuppen und Fisch, der nach traditioneller Art in der Regel komplett zubereitet wird, Muscheln, denen recht kräftig zugesetzt wird, Seeigel mit Salsa verde, oder Fleisch, das oft eher als Element, denn als (teures) Hauptprodukt eingesetzt wird (z.B. „Geschreddertes, sonnengetrocknetes Rindfleisch mit Cassava-Mehl“). Wie gesagt: das Buch ist eine riesige Fundgrube. Natürlich lassen sich viele Produkte bei uns nicht ohne weiteres beschaffen, was aber nicht wirklich ein Problem ist, weil die Inspiration oft eher in den Kombinationen liegt.

 

Das Fazit

Das Fazit muss in diesem Falle einmal etwa umfangreicher ausfallen. Erst einmal geht es um den Vergleich dieses Buches mit Büchern, in denen zum Beispiel deutsche TV-Köche sich mit Traditionsrezepten befassen. Das Gefälle ist gigantisch. Bei uns scheint man gerne – vielleicht oder auch ganz sicher aus kommerziellen Gründen – ein wenig mit ein paar Traditionsrezepten herumzuspielen und das Ergebnis dann als eine Optimierung oder Interpretation zu deklarieren. Dass bei einem solchen Verfahren kaum jemals irgendetwas Interessantes gefunden wird, sondern eben nur die immer wieder gleichen „Lieblingsrezepte“ rund um Königsberger Klopse und Co. bemüht werden, ist ein unaufwändiger, wenn man so will: billiger Ansatz. Hier bei Virgilo Martinez sieht das Bild komplett anders aus.

Es stellt sich natürlich die Frage, ob Irgendetwas von diesem Ansatz, der ja oft Regionen betrifft, von denen wir in Europa normalerweise nie etwas hören, nach Europa transferierbar ist. Ist das Buch von Martinez eine Art Pionierleistung, das Ergebnis einer kulinarischen Archäologie in noch sehr traditionellen Regionen und insofern auf einer Basis entstanden, die es bei uns einfach nicht mehr gibt? Oder wäre es denkbar, dass auch bei uns ein hervorragender Koch einmal das ganze Spektrum unserer Regionalküchen erfasst und durchdenkt? Auf den ersten Blick scheint die Basis bei uns so begrenzt zu sein, dass ein solches Buch nicht möglich ist. Wenn ich allerdings die diversen Bücher unserer diversen Regionen mit ihren teilweise sehr unterschiedlichen Küchen einmal gedanklich zusammenfasse, ändert sich das Bild schlagartig. In den Regionen selber gibt es oft den Willen, die Tradition zu erfassen und zu beschreiben. Landesweit scheint dieser Wille zu fehlen. Ein Buch mit – sagen wir: 500 Rezepten, sauber optimiert und redigiert sollte kein Problem sein. Nur – wo ist der Spitzenkoch, den so etwas überhaupt interessiert? (und denken Sie dabei bitte nicht an die TV-Köche und ihre Discounter-Bücher…)

Dieses nicht zuletzt vom Konzept her für uns hochinteressante Buch bekommt 2 grüne BB mit Dank an den Phaidon-Verlag, der mittlerweile mit seinen sorgfältig erarbeiteten Kochbüchern eine echte Macht ist.

 

 

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