Vor-Corona, Bild 5 – Von Cherrueix nach Cancale und zurück

Gestern Abend hatten wir zu Hause wieder eine für uns schon klassische Situation: Wir sitzen am Tisch in einem Raum, den wir „Bistro“ nennen, weil an seinen Wänden Dutzende von „Vieux Papiers“ kulinarischer Herkunft hängen, Speisekarten, Werbebilder usw. Ich habe einige meiner großen Notizbücher auf dem Tisch, in denen ich verschiedene Projekte entwickele, und meine Frau liest mir etwas vor. Gestern war es ein Kochbuch zu einer bretonischen Kommissar-Figur. Es hat den Titel:

Foto © Kiepenheure & Witsch

Jean-Luc Bannalec, Arnaud & Catherine Lebossé: Bretonisches Kochbuch. Kommissar Dupins Lieblingsgerichte. Kiepenheure & Witsch, Köln 2016. 319 S., geb., Ganzleinen, im Moment ca. 29,99 Euro

Das Buch ist wunderbar, weil es der Autor schafft, die Stimmung in der Bretagne (es geht um das „L’Amiral“ in Concarneau) in Wort und Bild ganz ausgezeichnet einzufangen. Die Rezepte sind authentisch und die Bilder geben genau das wieder, was man sieht, wenn man mit offenen Augen durch die Gegend läuft. Es ist sehr zu empfehlen, auch wenn es schon 2016 erschienen ist. So etwas veraltet – gottseidank – nie. Es passierte, was passieren musste. Wir sind immer wieder in einem Ferienhaus in Cherrueix, also auf der anderen Seite der Bretagne und ich musste unweigerlich daran denken, wie herrlich entspannt und selbst im Sommer ruhig alles dort zugeht. Und ich musste daran denken, wie denn ein Morgen zwischen Cherrueix und Cancale aussieht.

Ein Sommermorgen in der Bretagne. Von Cherrueix nach Cancale und zurück
Das Ferienhaus steht direkt am Meer in dem langgezogenen Ort Cherrueix, der sich vor allem dadurch auszeichnet, dass die Touristen, die entweder den Mont-Saint-Michel oder St. Malo besuchen, an ihm vorbeifahren. Das Haus liegt so weit vom Ortskern entfernt, dass ich morgens mit dem Wagen zum Bäcker fahren muss. Man parkt irgendwo auf der Straße, man trifft jeden morgen die gleichen Leute, manche noch im Morgenmantel, manche brummelig, manche redselig. Es sind fast immer nur Franzosen dort, die Ausländern fallen immer sofort auf. Ich kaufe Baguette für morgens und mittags, ein Croissant, die beiden lokalen Zeitungen, manchmal ein Millefeuille, manchmal das Programm der Tour de France, am Wochenende den Figaro mit seinen Magazinen, wenn er denn schon ausgepackt ist, was hier oft gewisse Probleme bereitet.

Die Fahrt von Cherrueix entlang der Bucht nach Cancale gehört für uns zu den schönsten Fahrten, die wir kennen. Es gibt sicherlich landschaftlich spektakulärere Gegenden, TV-tauglich sozusagen. Aber diese Gegend hier rund um Le Vivier hat noch die Mischung aus viel Muschel- und Austernzucht, vielen alten und wenig neuen Häusern. Der Tourismus ist da, hat aber nur begrenzte Spuren hinterlassen. Man fährt an Ständen mit Muscheln vorbei, später an den Austernzüchtern, es gibt immer wieder manchmal eher provisorisch aussehende Restaurants. Irgendwann taucht dann rechts das spektakuläre Chateau Richeux auf, in dem jetzt Hugo, der Sohn von Olivier Roellinger eine präsente, frische und hochfeine maritime Küche kocht, die man zu allem Überfluss auch noch mit einer prächtigen Aussicht und in einem prächtigen Ambiente genießen kann. Dann geht es in Richtung Cancale. Wir nehmen die schmale Küstenstraße wegen der Aussicht auf Cancale und fahren zuerst an die Mole zum kleinen Austernmarkt, der früh morgens noch kaum besucht ist. Am Fuß der Mauern türmen sich leere Austernschalen, weil die Touristen die Austern meist gleich an Ort und Stelle essen. Ich suche nur nach den Belons, die nicht immer angeboten werden, die normalen Creuses holen wir uns lieber bei Chez Mazo am Anfang der Häuserzeile von Cancale, dem alten Hauslieferanten von Roellinger.

Wir lesen die Speisekarten der Restaurants an der „Seafront“, eine nach der anderen und haben den Geschmack der französischen Sahnesaucen im Mund, der sich einfach nur hier findet, nirgendwo sonst und nirgendwo so gut, obwohl die Saucen eigentlich oft gar nicht so überragend sind. Wir beenden die Promenade am Hafen bevor es voll wird und fahren in die Oberstadt. Wir kaufen alle möglichen Zeitschriften, wenn wir Glück haben ist die Ausbeute gut und es kommt ein kleiner Stapel zusammen, vielleicht auch noch ein Buch aus dem nicht sehr großen Angebot. Schräg gegenüber gibt es einen alteingesessenen Traiteur, der zwei große Vorteile hat. Einmal hat er sehr gutes Fleisch, natürlich auch das Agneau de Pré Salé, ein gutes Côte de Boeuf und überhaupt gut gereiftes, bodenständig-zuverlässiges Material. Außerdem hat er eine ganze Reihe traditioneller Terrinen und sonstige Zubereitungen, die wir immer wieder probieren, eine recht ordentliche Foie gras und manchmal auch Fertiggerichte mit einem manchmal grandios bodenständigen Geschmack. Ab und zu gehen wir zu Roellingers Gewürzgeschäft neben dem ehemaligen Drei-Sterne-Restaurant, ab und zu holen wir ein Millefeuille in seinem Café, es geht immer um die kleinen, feinen Dinge, die man braucht, um den Tag von morgens bis abends komplett kulinarisch zu gestalten. Es geht nicht um Schickimicki-Touren von einer berühmten Adresse zur nächsten. Das wäre viel zu wenig.

Die Rückfahrt nach Cherrueix zum Mittagessen hat immer den gleichen Stopp. Es ist das Muscheln- und Krustentiergeschäft rechts der Straße, kurz nach den Austernproduzenten und kurz vor dem Campingplatz. Angeblich soll es ja Miesmuscheln nur in den Monaten mit „R“ geben. Hier gibt es die Moules de Bouchot im Sommer auch ohne „R“ tonnenweise, immer frisch, immer gerade aus dem Wasser. Sie bleiben selbst dann noch stundenlang verlustfrei geschlossen, wenn sie – wie hier – nur in eine Plastiktüte gepackt werden. Sie schmecken grandios, wenn man zwei Regeln beachtet: immer die richtige Mischung aus Wein und viel ungesalzener Butter und Wurzelgemüse mit einem etwas größere Anteil Staudensellerie. Man hat in diesem Geschäft zwei oder drei Weine, einen Gros Plant, einen Muscadet sur lie, sie funktionieren beide zuverlässig. Meine Frau bekommt mittags fast immer eine Tourteau oder Araignee cuit, ab und zu bestelle ich hier einen gekochten Hummer, die nach bretonischer Vorschrift aus Becken mit Meerwasser stammen und oft so lebendig sind, dass meine Frage nach weiblichen oder männlichen Exemplaren bei der ein oder anderen Verkäuferin schon Panik auslöst. Um das festzustellen, müsste man sie packen und umdrehen…

Wir sind zurück in unserem Haus, mit Wohnküche, sehr französisch, der Tisch ist voll mit den Einkäufen, dem Stapel Zeitungen, Zeitschriften und Büchern, dem Wein. Im TV läuft das französische Mittagsmagazin, der Blick fällt nach draußen auf den Mont-Saint-Michel, der irgendwo im diesigen Hintergrund zu sehen ist. So etwas kann man lange durchhalten. Corona stört gewaltig. Man braucht diese Bilder, sie prägen und tragen.

4 Gedanken zu „Vor-Corona, Bild 5 – Von Cherrueix nach Cancale und zurück“

  1. Oh nein! Bei mir macht sich schon am Vormittag Wehmut breit, wenn ich das lese. Ich krame den ollen Diaprojektor hervor und genieße die verstaubten Bilder der Seafront. Die trocken gefallenen Fischerboote auf der knitterigen Leinwand wecken die Erinnerungen. Die Seeluft der Bucht, der Duft der Märkte durchwehen meinen Gerümpelkeller. Schlüssel drehen und durchstarten, das wärs.

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