Vor-Corona, Bild 9: Andreas Rieger. Kreativkoch.

Die Vor-Corona-Bilder sollen in diesem Falle einen Koch würdigen, der einer der wenigen wirklich kreativen Köche Deutschlands ist. Er hat etwas geschafft, das ihm vielleicht als Spanier oder Franzose Weltruhm eingebracht hätte – so wie vielleicht zu seiner Zeit Michael Hoffmann. Er hat es geschafft, einen ganz eigenen Geschmack zu entwickeln und diesen auch noch in Kreationen zu realisieren, deren Bilder man sich sofort einprägt. Und um gleich mitten hinein in seine Arbeit zu gehen, möchte ich kurz die für ihn typischen drei geschmacklichen Rezeptionsebenen beschreiben, die ihm einerseits viele sehr gute und feste Freunde, andererseits aber auch Ablehnung eingebracht haben. Es geht dabei nicht primär um die Optik, sondern vor allem um den Geschmack, um das Verhältnis, das sich zwischen einem kreativen Gericht und den Essern entwickelt – so oder so. Die Tatsache, dass sich die Arbeiten auf diesen drei Ebenen interpretieren lassen, hat erhebliche Auswirkungen für die Rezeption und damit die Bewertung der Arbeit von Andreas Rieger.

Rieger (oder eben die Rezeption seiner Arbeiten) beginnt mit einer ersten geschmacklichen Ebene, die sofort Entscheidungen nötig macht. Es ist die Ebene der Identifikation. Viele Gäste, die sich eher selten in den wirklich kreativen Restaurants aufhalten, finden sich in dieser Oberfläche nicht wieder, weil die genuin kreative aromatische Struktur ihnen den Weg zum schnellen Abgleich mit ihren Erinnerungen kaum ermöglicht. Wer eher Redundanzesser ist, also am liebsten immer das Gleiche bekommt, wird nun schnell zu Stellungnahmen gezwungen, die natürlich oft sehr kritisch ausfallen. Es gibt Gerichte, die über einige Fixpunkte verfügen (wie etwa sein genialer Broiler), die den Zugang etwas erleichtern. Andere haben diese Fixpunkte aber nicht oder in so andersartigen Zusammenhängen, dass eine schnelle Orientierung schwierig ist. Wer sich als Gast auf solche Dinge nicht einlassen kann oder will, hatte es bei ihm im „Einsunternull“ eher schwer.

Die zweite Ebene ist die Ebene der vergleichenden Degustation. Sie betrifft vor allem die „üblichen“ Gourmets, die schon ein wenig herumgekommen sind und schon eine ganze Reihe unterschiedlicher Küchen probiert haben. Sie haben eine wesentlich bessere Orientierung als seltene Gourmet-Gäste, sind damit aber nicht automatisch gegen die Probleme der ersten Ebene gefeit. Je nach Lage der Dinge haben sie unter Umständen nur eine bestimmte Auswahl von Restaurants besucht, die in der Regel ihren Vorlieben entsprechen, nicht aber Vergleiche ermöglichen, die der Entschlüsselung einer Arbeit wie der von Andreas Rieger förderlich wären. Sie finden in den Arbeiten auf alle Fälle die Teile heraus, die sich geschmacklich in klare Verhältnisse zu anderen Köchen setzen lassen – also etwa der Broiler mit dem gebundenen Eigelb und der Brühe mit Leber und Kräutern oder auch die Desserts, die trotz ihrer oft unkonventionellen Optik aromatisch irgendwo in Reichweite einer vergleichenden Degustation liegen. Auf dieser Ebene wird es darauf ankommen, was die Gäste essen und wie viele Gänge sie essen. Sie werden im günstigen Falle das Essen als „interessant“ oder „spannend“ bezeichnen und einer Einordnung als avancierte Küche im Sinne eines Michelin-Sterns ohne weiteres zustimmen können. Eine solche Zustimmung, die die dritte Ebene (s. unten) nicht erreicht, ist allerdings nur begrenzt nützlich, weil sie selbst bei weitgehender Zustimmung die eigentlich entscheidenden Qualitäten in ihren Einschätzungen nicht heranziehen kann.


 
 
Die dritte Ebene ist diejenige, auf der sich die Arbeit von Rieger am substantiellsten entschlüsseln lässt. Es ist die Ebene der reinen Degustation (was natürlich Elemente der anderen Ebenen jederzeit einbeziehen kann). Hier geht es primär um das, was man tatsächlich schmeckt und schmecken kann. Wer sich nicht primär mit der Oberfläche, der Identifikation, dem schnellen Abgleich mit den eigenen Vorlieben oder dem Vergleich mit anderen Küchen befasst, sondern sich ganz auf seine Wahrnehmungen, seine Sinne konzentriert, beginnt bei den Arbeiten von Rieger schnell zu begreifen, wie komplex, tief und neuartig seine aromatischen Welten sind. Die Folge wird sein, dass man die Arbeit natürlich deutlich besser einstuft, als das jene tun, die diese Ebene nicht erreichen wollen oder erreichen können. Die Komplexität ergibt sich hier vor allem daraus, dass sich nicht nur einzelne Variablen von Bekanntem unterscheiden, sondern oft gleich eine ganze Reihe, die dann wiederum neue Beziehungen eingehen und zu einer Vielzahl neuartiger Informationen zusammenfinden.

Die Folgen der ungewöhnlich vielschichtigen Arbeit von Andreas Rieger sind Reaktionen von krassen Ablehnungen bis zu seiner Einordnung als einer der kreativsten Köche weit und breit. Dass das die Spanier eher gewürdigt haben, als die Deutschen, wundert nicht. Rieger hätte schnell einen zweiten Stern bekommen müssen, den aber eben auch Köche wie der oben erwähnte Michael Hoffman nie bekommen haben. Hier haben sich die Führer zum überwiegenden Teil wieder einmal nicht mit Ruhm „bekleckert“, sondern waren mehr oder weniger ein Teil, des „abweichende Küchen-Bashings“, das leider in Deutschland in solchen Fällen immer wieder anzutreffen ist. Offiziell hat sich Andreas Rieger „aus privaten Gründen“ vom „Einsunternull“ getrennt. Ich bin mir sicher, dass ein zweiter Stern und der entsprechende Zuspruch vom Publikum her die Sache verändert hätte. Ich war und bin immer noch der Meinung, dass hier ohne weiteres sogar das Potential für einen dritten Stern in Reichweite war.


 
 
Statt dessen arbeitet Andreas Rieger heute als „Food Developement Chef“ im „Michelberger Hotel“ in Berlin, wo er sich unter anderem mit einer Art Casual-Versionen von Gerichten befasst, die eine gewisse Ähnlichkeit mit seinen Arbeiten im „Einsunternull“ haben. Er kann also auch das. Und – seine Küche lässt sich bis zu einem gewissen Grad auch auf Casual Fine Dining herunterbrechen. Das ist gut und schön zu sehen. Dennoch sollte ein solcher Koch dringend wieder an einen eigenen Herd und seine Ideen verwirklichen können. Rieger ist übrigens ein brillanter Kochtechniker und Kenner der Materie, so gesehen auch ein Forscher, der seine Forschungsergebnisse in seine Arbeit einfließen lässt.

Ich habe in dieser Folge der Vor-Corona-Bilder mit Absicht viele Bilder eingebaut. Darunter sind auch – klar zu erkennen – Bilder von seiner aktuellen Arbeit im „Michelberger Hotel“.

6 Gedanken zu „Vor-Corona, Bild 9: Andreas Rieger. Kreativkoch.“

  1. Wieder ein hervorragender Beitrag zu dieser äußerst vergnüglichen Serie. Nach der italienischen Oper nun der deutsche Intellektuelle und wieder einmal ein Restaurant der Kategorie „umstritten“. Es heißt, man hätte das einsunternull gehasst oder geliebt, ich denke die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte. Einerseits ist der Abgang Riegers ein enormer Verlust für die deutsche Gastronomieszene – so viele Talente im Avangardebereich gibt es in Deutschland weiß Gott nicht. Andererseits trat auch bei Rieger ein in der deutschen Spitzengastronomie verbreitetes Problem zutage. Überspitzt: der Koch kocht in erster Linie was der Guide will und erst in zweiter Linie was er will. Sinnfälliger als der deutsche Dreisternekoch, der zu Ehren seiner Höchstbewertung drei Gelsterne auf den Teller pappte, kann man es nicht ausdrücken: drei Sterne ist alles was der Koch will, ist alles was der Gast will – warum sie ihm dann auch nicht gleich zu essen geben! Das Ergebnis ist zwangsläufig eine Küche die sich immer irgendwie ähneln muss. Bei Rieger (wie übrigens auch bei anderen deutschen Kollegen) hatte man den Eindruck, dass vielleicht noch zu sehr versucht wurde, einem Bild von skandinavischer Avantgarde zu entsprechen als einfach „sein Ding zu machen“. Die Konsequenz: eine zu konstruierte mitunter plagiierende Küche. Sinnfälligster Ausdruck dafür war der omnipräsente verbrannte Lauch, der nun überall in den einschlägigen Restaurants zwischen Nürnberg und Berlin – so auch zuletzt im einsunternull – angeboten wurde. So verlieren die neuartigen Geschmacksbilder einen Teil ihrer Funktionen, welche die skandinavischen Kollegen mittlerweile virtuos beherrschen: nämlich durch gezielt gesetzte Irritationen die Aufmerksamkeit in einem mehrgängigen Menü permanent hoch zu halten oder Resonanzräume für nachgeschaltete Gerichte zu schaffen. Dabei können im übrigen auch repulsive Elemente enthalten sein, die einer reinen Degustation Grenzen setzen. Man sollte diese Ebene in der Avantgardeküche daher nicht zu hoch aufhängen – aber natürlich auch nicht unterschätzen.

    Trotz Kritik oder gerade deswegen wünscht man Rieger, dass er da weiter macht, wo er 2019 aufgehört hat.

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    • …dann verraten Sie mir doch an welcher Stelle dieser sinnfälligste omnipräsente Ausdruck in Riegers Küche..also der verbrannte Lauch den Sie ansprechen … genau in welchem Gericht für Sie präsent war?
      ..Sie hätten sich besser den ganzen Artikel durchgelesen, denn Sie und ihre ganze bornierte aber unqualifizierte Schreibe finden darin nämlich auch Erwähnung.
      Der Brüller ihrer Aussage …Herr Rieger hätte für den Michelin gekocht…haben Sie überhaupt jemals ein Gericht von dem gegessen?

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      • Bei dem Lauch beziehe ich mich unter anderem auf:

        Einsunternull 01/2019
        Essigbrätlein 04/2018
        und das (mutmaßliche) Original: Noma 01/2014

        Alle Menüs wurden von mir persönlich im Restaurant verzehrt.

        Jetzt hängen Sie die Geschichte mit dem Lauch aber nicht zu hoch. Das war überspitzt dargestellt. Verbrannten Lauch zu servieren, ist sicherlich keine kulinarische Todsünde und diskreditiert keinen Koch. Das gleichzeitige Auftauchen in verschiedenen Restaurants könnte natürlich ein zufälliges zeitgleiches Interesse an diesem Redzepi-Klassiker widerspiegeln, könnte aber auch ein Symptom für eine auf Vorbilder oder schlicht Mode ausgerichteten Küche sein. Da nun gerade Rieger hier und an anderer Stelle als ein von der skandinavischen Avantgarde und jeglicher Moden komplett emanzipierter Koch dargestellt wurde, mag dieser Hinweis erlaubt sein.

        Bezüglich des Michelins waren meine Ausführungen missverständlich. Es ging mir um den übermäßigen Einfluss der Restaurantkritik auf Köche, und dies betrifft mehrheitlich den guide Michelin. Bei Rieger wären es in erster Linie mutmaßlich andere Kritiker bzw. Vorbilder.
        Ein großer Kritiker hat dieses Problem für ihren Geschmack möglicherweise passender formuliert – allerdings bezogen auf die deutsche Weinszene. Ersetzen Sie einfach Wein durch Restaurant und Winzer durch Köche. Er fragte: „Arbeiten viele deutsche Winzer zu sehr für die Führer?“; „Arbeitet man gerade hier in Deutschland vielleicht viel zu sehr für die Weinkritik, für die Noten in Führern, der geschmackliche Interpretationen oft nicht genügend evident sind, also einem größeren Kreis von Weinfreunden nicht vermittelbar?“

        Und dies ist das allgemeine Problem von dem auch ein Andreas Rieger mir nicht ganz frei zu sein schien. Interessant ist im übrigen das Fazit dieses Kritikers:

        „Wem nützt es, wenn sie sehr differenziert sind, aber keine kommunizierbare Linie haben, kein „Bild“, das sofort gefällt, keinen Geschmack, der „anmacht“.“ Was hätte der Kritiker wohl zu Rieger gesagt…

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        • Dann darf ich auf eine komplett verkohlte Lauchstange auf dem Teller mit etwas Austerntartare darin im Epicure verweisen. Beim Lauchgericht vom Rieger hab ich nicht ein Fitzelchen Asche erkennen können…so viel
          zum Thema… nordisch oder so. Bei Rieger find ich es äußerst schwer und nicht nachvollziehbar ihn in diese Schublade stecken zu wollen.
          Aber das steht ja eigentlich schon im Artikel von Herrn Dollase.

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  2. Sehr guter Artikel. Es ist jammerschade.
    Anfügen möchte ich aber noch zwei weitere Gründe, warum das mit dem
    Einsunternull villeicht nicht geklappt hat.
    Der Service war bei meinen Besuchen eigentlich nie so wirklich herzlich
    und professionell bei der Sache. Mir war das relativ wurscht, aber etwas schade fand ich es schon. Wenn da jemand wie Herr Mühlichen gewesen wäre, der Dinge mit Herz und Charme erklären kann…dann sind Gäste
    auch eher bereit sich auf etwas einzulassen. Denk ich mal.
    Und dann war es auch so, dass im ersten Jahr die Karte von Beginn bis Ende
    fast mit den gleichen Gerichten bestückt war. Für Stammgäste dann vielleicht zu lang, vor allem vor dem Hintergrund, dass relativ unflexibel auf Allergien / Vegetarier reagiert wurde (Service: wie, Sie wollen nur das Fleisch…ohne Beilage …..nö das geht nicht…ohne Beilage ist das Fleisch viel zu trocken 😉 und man somit das Menü automatisch zusammenstreichen musste, weil keine alternativen Gerichte angeboten wurden. Aber die Küche war wirklich grossartig!

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