Vor-Corona: Gastronomische Bilder aus besseren Zeiten, Bild 2

Jan Hartwig und das „Atelier“ im Bayerischen Hof
Der „Bayerische Hof“ am Münchner Promenadeplatz mit dem Denkmal für Michael Jackson vor der Tür ist sicherlich ein Luxushotel. Aber – es fehlt der demonstrative Protz, weil in gewisser Weise die Exklusivität eine andere ist. Vor dem Eingang geht es zu fast jeder Tageszeit lebhaft zu, es gibt mehrere Wagenmeister, immer wieder Luxusautos, immer wieder aber auch Busse mit größeren Gesellschaften, es gibt manchmal die von Sylt, aus Mallorca, von der Côte d’Azur oder aus Kitzbühl, aber eben immer auch sehr viel bekannte Köpfe aus der Industrie, den Medien oder der Politik. Dass es abends eine berühmte Bar, einen Jazzclub und ein Theater gibt, merkt man schon am Betrieb auf der Straße. Es ist eben der „Bayerische Hof“, eine Institution, ein Kosmos für sich.

Das „Atelier“ von Drei-Sterne-Koch Jan Hartwig ist ein Teil des Ganzen und nicht etwa der Mittelpunkt. So ist das eben in den großen Häusern, in denen die Gourmetküche mal eine High End-Spezialität ist, mal das Zentrum des Hauses. Das „Atelier“ ist nicht für Hartwig gebaut worden, sondern war schon vorher da, und das nicht als Drei-Sterne-Restaurant. Man muss es fast suche, von der Lobby aus zur Seite gehen, dann in einen dunklen Gang, an dessen Ende es links ins „Atelier“ und rechts ins „Garden Restaurant“ geht. Das hat – bei allem gepflegten Design das es dort mittlerweile zu bestaunen gibt – etwas Unpompöses, jedenfalls verglichen zum Beispiel mit Ducasse im Plaza Athénée oder dem „Cinq“ in Paris. In einem „Atelier“ kann man dem Künstler bei der Arbeit zusehen. Das ist hier nicht so, gilt aber trotzdem in einem übertragenen Sinn: Jan Hartwig ist künstlerisch immer in Bewegung. Ich habe kaum jemals einen Koch erlebt, der sich an einem Ort so gewaltig weiterentwickelt hat, wie Hartwig. Wenn man also irgendwo etwas über ihn liest, sollte man sich vergewissern, auf welche Gerichte in welchem Zeitraum sich der Text bezieht.

Die neue Pyramide steht auf dem Kopf
Im letzten Jahr habe ich Jan Hartwig als einen von vier „Deutschen Köchen im Herbst“ mit drei Gerichten im edlen Kultur-Lifestyle-Feuilleton des „FAZ – Quarterly“ vorgestellt (neben Sven Elverfeld, Marco Müller und Felix Schneider) und in diesem Zusammenhang viele Gerichte probieren können. Diese Arbeit an zwei Tagen ergab Einblicke in ein Spektrum von großer Qualität, dessen Schwerpunkt im aromatischen Sektor liegt. Hartwig ist da wie ein Jongleur: es gibt welche, die können mit 5 Bällen spielen. Bei ihm kann man sich nie ganz sicher sein, wie viele Bälle es eigentlich sind, die diese superben Geschmacksbilder erzeugen. Und – es ist eine neue Küche, die eine neue Dimension von Genuss erlaubt. Bisher (und zum großen Teil auch heute noch) arbeitete Spitzenküche wie der Aufbau einer Pyramide. Über einer breiten Basis weiß man ziemlich genau, wo oben ist, und viele Gäste und Kritiker lehnen sich wohlig zurück, wenn sie feststellen, dass sie an einem Ort sind, der an der Spitze der Pyramide ist. Bei Hartwig beginnt die neue Freiheit, die neue Dimension, es geht um eine neue Pyramide, die sozusagen umgekehrt auf der Spitze der „alten“ steht und nach oben offen ist. Seine vielfältigen, immer in allen Details interpretierten Geschmacksbilder öffnen den Weg zu Genuss und Wahrnehmungen ohne Grenzen. Der Blick auf einen Kosmos an Nuancen, von dem man den Eindruck hat, dass man so tief schmecken kann, wie man will und nie an ein Ende kommt, ist eben tatsächlich ein Blick in einen Kosmos. Dieser Blick wird uns möglich gemacht. Es ist an uns, wie weit wir ihn realisieren können, es ist an uns, alle unsere Sinne einzusetzen, um ein Maximum an Genuss zu erleben. Genuss auf hohem Niveau ist nicht mehr nur eine versichernde, einigermaßen veredelte Bedienung der Vorerfahrungen und Erwartungen, sondern ein dynamischer Prozess, der gleichzeitig großer Genuss und tiefe Erfahrung ist. Auch deshalb ist Küche auf diesem enormen Niveau so wichtig für die Kultur. Ohne solche Erlebnisse fehlt ein ganzer Zweig dessen, was der Mensch mit seinen Sinnen erleben und – sehr wichtig: realisieren kann.

Kein Platz für Grobmotoriker
Jan Hartwig arbeitet mit sehr feinen Elementen, die aber in jedem Falle wichtige Bestandteile der Gesamtkomposition sind. Küchen dieser Art werden bisweilen als „Pinzettenküche“ geschmäht – das allerdings vor allem von Grobmotorikern, die auch sonst oft nicht unbedingt den Eindruck erwecken, sensibel und differenziert mit der Welt umzugehen. Wer sich – um im Bild von oben zu bleiben – am Fuße von Pyramide eins befindet, ist von Pyramide zwei noch sehr weit entfernt und müßte also erst einmal ein großes Stück an gustatorischer Erfahrung realisieren, bevor er die Zusammenhänge begreift und bevor sich ihm ein Genuss der neuen Dimension öffnen kann. Das muss man einfach so sehen.

Die Elemente in Hartwigs Kompositionen sind nicht klein, auch wenn sie kleinformatig sind. Es ist ohne weiteres möglich, dass zum Beispiel ein einziges kleines Kräuterblättchen oder ein anderes, ähnlich kleines Element genau den oben beschriebenen Effekt befördert. Manchmal sind es kleine aromatischen Blitze von ätherischen Ölen, die dann wiederum andere Element beeinflussen und umformen und ein aromatisches Spektrum eröffnen, das schlicht und einfach groß ist. Wer solche Funktionen des scheinbar Kleinen nicht begreift (oder noch nicht begreifen kann) sollte mit Anmerkungen wie „Pinzettenküche“ dann doch wohl eher zurückhaltend sein. Die Wirkung von scheinbar kleinen Details auf das Ganze ist übrigens nicht nur in der Kochkunst zu beobachten. Die Wissenschaft weiß durch ihre Analysen vieler hervorragender Werke in ganz unterschiedlichen Bereichen der Kultur längst, warum bestimmte Kunstwerke, Musikstücke oder Texte großartig sind. Und – fragen Sie einmal Techniker und Naturwissenschaftler, was sie von der Bedeutung von Details halten. Die Wunderwerke der Technik und die Wunderwerke der Kochkunst haben große Überscheidungen. Mit einem wichtigen Unterschied: Die Kochkunst arbeitet intensiv mit dem assoziativen Kontext (den „Emotionen“, wie es oft noch sehr ungenau genannt wird). Und auch da ist die Arbeit von Jan Hartwig ganz auffallend intensiv. So groß der Kosmos an möglichem Genuss und Erfahrungen auch sein mag: Hartwig ebnet dem Gast den Weg, weil er ihn mitnimmt, auf die Wirkung von Vorerfahrungen setzt, auf geschmackliche Details achtet, die nachvollziehbar beginnen und den Blick öffnen.

Ein Blick in die Struktur

Ich möchte hier aus dem Text zitieren, den ich zu zwei Gerichten im „FAZ-Quarterly“ geschrieben habe. Es geht um die Produkte, die Struktur der Komposition und den Kontext. Ich habe dabei mit Absicht eine sehr knappe Sprache benutzt, um die Informationen zu verdichten.

 

Seeforelle in Schnittlauchbutter, getrocknete Tomaten, Pinienkerne und fermentierter Pfirsichtee

 

Produkte
Fisch aus der Fischzucht Birnbaum in Landsberg/Lech, die Filets 12 Minuten in 10%igem Salzwasser gewürzt, knapp und vorsichtig in flüssiger Butter gegart. Schnittlauchsauce auf Beurre blanc-Basis mit Noilly Prat, Vin jaune, japanischem Lauchöl (Kujo-Öl) und à la minute geschnittenem Schnittlauch. Vinaigrette von mit Kombuchapilz fermentiertem Pfirsichtee plus Pfirsich, Rettich, geröstete Pinienkerne und Saiblingskaviar. Chip aus gebackenem Brickteig, Kresseemulsion von zweierlei Kresse, Spinat und Traubenkernöl. Schalottenmayonnaise. Stiefmütterchen

Struktur
Im Prinzip ein Mischaroma rund um das Hauptprodukt. Vom Chip und den Blüten abgesehen gibt es Kontraste ausschließlich in Mikro-Form, Pfirsich, Rettich, Pinienkerne und Schnittlauch kommen nur als kleine Stückchen vor. Das virtuose Spiel mit den aromatischen und texturellen Proportionen bringt ein in sich immer changierendes, gleichzeitig sehr süffiges und originelles Geschmacksbild. Jede Gabel (besser: Löffel) vom Fisch hat automatisch die Aromen der Saucen. Die Klarheit und Qualität des Fisches blenden nach wenigen Sekunden im Mund durch.

Kontext
Die besten Köche zeichnen sich durch geschmackliche Wahrnehmungen aus, die Amateuren mangels Kenntnis von Produkten und deren Zusammenwirken kaum möglich sind. Aromen, wie sie hier entstehen, werden fast immer als sensationell und in ihrer Herkunft rätselhaft empfunden. Hartwig kocht gleichzeitig extrem wohlschmeckend für den Gaumen von Nicht-Gourmets, wie für feinste Feinschmecker so differenziert, dass sich Neues und kaum Fassbares ergibt. Finesse dieser Art scheint nur durch den Urheber reproduzierbar zu sein.

Kalbsbäckchen, in Burgunder geschmort, Ochsenmark, Petersilien-Spinat, römische Nocke und Radicchiovinaigrette


Produkte
Kalbsbäckchen, zu fast runder Form pariert, klassisch geschmort, mit getrockneten Steinpilzen, einer Tomatenzubereitung, Spätburgunder, Cabernet Sauvignon-Essig und Kalbsfond erweitert. Reduzierte Sauce mit Trüffelkochfond. 1:1 – Mix aus Petersilie und Spinat mit Nussbutter und Gewürzen. Weiße Markemulsion wie eine Ochsenmark-Mayonnaise. Radicchio-Vinaigrette mit Himbeeressig, Rotweinessig, Portwein, Crème de Cassis, Senf. Römische Nocke aus Polenta, gefüllt mit Parmesancreme, Petersilienmousseline und Mix aus Zwiebelconfit mit Salzzitronenschale.

Struktur
Klare Aufforderung zu purer Degustation der Bäckchen. Mark, Sauce und Sockel von Radicchiovinaigrette werden mit aufgenommen. Der Schnitt in die Fleisch – „Praline“ zeigt enorme Zartheit und Saftigkeit, läßt sich mit höchstem Genuß auch ohne weitere Begleitung essen. Die Sauce unterstützt aromatisch, die Vinaigrette sorgt mit ihrer fruchtigen Säure für einen Hauch Leichtigkeit und Eleganz. Große Überraschung dann von der römischen Nocke. Bodenständiger Kontrapunkt mit faszinierender Ergänzung des Bildes vor allem durch den Mix aus Zwiebel und Salzzitrone.

Kontext
Ein Gericht mit viel kulinarischer Chuzpe. Ein Klassiker der bürgerlichen wie der Gourmetküche mit vielen hervorragenden Fassungen wird neu bearbeitet und zu neuen Höhen gebracht. Hartwig liebt solche Arbeiten. Der Geschmack ist unvorstellbar gut, weil man mit einer solchen Steigerung kaum rechnen kann. Die Qualität schafft jene Distanz zu schon Bekanntem, die Merkmal der ganz großen Köche ist – sich aber heute eher selten einstellt. Hartwig bleibt mit diesem Gericht völlig unprätentiös, weil es sich problemlos mit dem assoziativen Kontext fast aller Esser verbindet.

Freuen wir uns auf die Rückkehr eines unserer ganz großen Köche.

Schreibe einen Kommentar