Was denn nun? Tokio oder New Wave oder nichts von beidem?

Andrea Fazzari: Tokyo new wave. 31 chefs defining Japan’s next generation, with recipes. Ten Speed Press, New York 2018. 297 S., Hardcover, ca. 32 Euro (in englischer Sprache)

Es hat seine Gründe, warum ich hier dieses Buch von Andrea Fazzari aus dem Jahre 2018 erst nach dem neuen von 2020 bespreche. Das neue („Sushi Shokunin. Japan’s Culinary Masters“), das ich in der letzten Woche vorgestellt habe, befasst sich mit den Sushi-Meistern, die ganz in der Tradition stehen und aus dieser Tradition heraus ihre individuellen Varianten entwickelt haben. So etwas muss man eigentlich zuerst kennen, um dann eine etwaige neue Welle junger Köche zu analysieren.

Die Lage in Japan ist da etwas anders als bei uns oder in Frankreich. Das Gewicht der Tradition ist auch im engeren Sinne kulinarisch gewaltig, und das nicht nur deshalb, weil man eine dezidiert eigene Küche besitzt. Aus der Sicht junger Köche, die mitbekommen, was in der kulinarischen Welt passiert und von vielen Dingen ähnlich fasziniert sind, wie nicht-japanische Köche von Japan, stehen die Meister der eigenen Küche nicht nur für Traditionen, sondern auch noch für viele sozusagen universelle kulinarische Werte wie Produktqualität, Frische, Purismus, Finesse usw. usf. Das ist eine Macht, und es verwundert in diesem Zusammenhang nicht, dass sich viele junge japanische Köche angesichts dieser „Konkurrenz“ ins Ausland abgesetzt haben – vor allem nach Frankreich, wo es schon eine ganze Kolonie von kreativen Köchen japanischer Herkunft gibt.

Es gibt in Japan natürlich auch eine ausgeweitete, sehr spezielle Jugendkultur. Mit dieser Kultur hat das Buch allerdings eher wenig zu tun. Das mag daran liegen, dass die Köche oft in ihren Dreißigern sind und auch die Autorin sich vermutlich nicht unbedingt für Japan-Pop interessiert – ganz davon abgesehen, ob Japan-Pop überhaupt irgendwo und irgendwie eine kulinarische Linie hat, die über Fast Food-Varianten hinausgeht. Insofern hat das Buch optisch meist einen eher moderaten Duktus und ist keineswegs quietschbunt angelegt. Außerdem sind – um das vorwegzunehmen – die hier vorgestellten japanischen New Wave-Köche immer auch noch zu einem guten Teil in den eigenen Traditionen eingebunden. Insofern wird verständlich, dass im Untertitel auch nur noch von „Japan’s next generation“ die Rede ist.

Das Buch
Andrea Fazzari ist vor allem Fotografin, die mit der Funktion als Autorin liebäugelt und es wahrscheinlich sehr praktisch findet, wenn sie gleich ganze Bücher ohne größere Abstimmungen mit anderen Leuten produzieren kann. Das Buch kommuniziert also viele Inhalte über die Bilder. Da wundert es nicht, dass die Einleitung nur eine Seite lang ist und es sofort an den ersten der 31 Köche geht (es sind 30 Köche und eine Köchin…). „Es ist ein Buch über die Persönlichkeit der Köche, ihre Identität, Gefühle, Essen und Japan selber“, heißt es dazu. Für ihre Protagonisten hat sie jeweils zwei Begriffe in die Überschrift gesetzt, also etwa „Modernität und Instinkt“ bei Hiroyasu Kawate vom „Florilège“. Dazu gibt es eine Seite Text mit den wichtigsten Angaben, dann ein Interview, eine ganze Reihe atmosphärisch aufgelockerte Bilder und meist nur ein Rezept.

Der erste Eindruck ist der, dass es hier auch beim „Nachwuchs“ recht japanisch zugeht, der zweite weicht allerdings stark davon ab. Die Einflüsse aus aller Welt spielen oft eine starke Rolle, bis hin zu Rezepten, die sehr wenig japanische Spuren zeigen. Und weil die Namen vielleicht nicht ganz so sehr interessieren, möchte ich hier vor allem einige der Gerichte beschreiben. Es gibt also ein „Wagyu-Carpaccio mit Kartoffelpüree und Rote Bete-Consommé“, das man sich auch leicht anderswo vorstellen kann. Der „in Wagyu eingewickelten Seeigel“ ist da schon ein anderes Kaliber – auch weil das Rezept viele klassisch-japanische Aromen nutzt. Verwundert liest man von „Frühlingsschätzen – Morcheln mit Wachteleiern und Mandeln“, die dann auch aus der Hand von Lionel Beccat stammen, der in Tokio lebt, aber seine französischen Wurzeln nicht vergessen hat. Eine minimalistisch veränderte Version des Rinderkoteletts (Gyukatsu) kommt von Kentaro Nakahara, bei Shuzo Kishida gibt es zwar ein paar kleine, interessante Bilder, aber nicht die Rezepte dazu. Zwischendurch präsentiert Takaaki Sugita (der auch in „Sushi“ vertreten ist) lupenreine Sushi-Meisterschaft, und so langsam wünscht man sich, dass es mehr Rezepte von den einzelnen Köchen gäbe, weil sich mit diesen Spots kaum das Bild einer neuen Welle formen will. Es folgt ein „Sardinen Gazpacho“ mit klassisch-europäischen Aromen und wieder Bilder von anderen Gerichten dazu, die komplett anders aussehen, aber nicht erläutert werden. Das „Takazawa-Sashimi“ sieht immerhin aus wie moderne Kunst, aber ein „Salat von Nektarinen und Burrata mit fermentiertem Tomatengelee“ lässt dann wieder die Frage aufkommen, ob nicht bei diversen Rezepten in diesem Buch das Gefühl der Autorin dafür fehlt, wo denn eigentlich die kulinarisch interessanten Punkte sind. Vielleicht wirkt das Alles auf die Japaner in Tokio sehr interessant, weil es für sie darin exotische Komponenten gibt. Aus einer weltweiten Sicht ist das deutlich anders und sogar so, dass man zu dem Schluss kommen muss, dass eine ganze Reihe der in Frankreich arbeitenden Japaner um Klassen kreativer sind als ihre Kollegen in Tokio – und das eben auch aus einer weltweiten Sicht.

Fazit
So wunderbbar Andrea Fazzari in „Sushi“ die ganze Ästhetik rund um die klassischen Sushi-Meister erfasst hat, so mäßig wirkt ihre Performance bei diesem früheren Buch. In „Sushi“ ging es vor allem um die Macht der Bilder, hier müsste eigentlich das kulinarische Thema im engeren Sinne überwiegen. Dazu fehlen ihr aber offensichtlich ein wenig die Voraussetzungen, ein Gespür für das, was wirklich besonders ist und ein Feature verdient hätte. Die Sammlung der Rezepte bringt keinerlei größere Erleuchtung, und der Leser könnte auf die Idee kommen, dass man mit einem solchen Nachwuchs Tokio zumindest im kreativen Sektor nicht unbedingt auf der Rechnung haben muss. Die japanisch-europäische Fusion zum Beispiel sucht man im Grunde vergebens, da sieht es bei den japanischen Köchen in Frankreich deutlich anders aus. Vor allem aber scheint es kaum möglich, sich aus der Dominanz der perfektionistischen Meister des Landes zu befreien und die traditionellen Formen mit gleichwertigen neuen zu ergänzen.

Das Buch bekommt 1 grünes B

Fotos © Andrea Fazzari/Ten Speed Press

Schreibe einen Kommentar