Was ist klassische Küche? Zum Beispiel die Mère Brazier

In den Leserzuschriften zu meinen Texten taucht immer wieder einmal die Frage auf, was denn eigentlich „klassische Küche“ sei. Anläßlich der Wiederveröffentlichung eines Buches der Mère Brazier kann man etwas dazu sagen. Vorab: es wird nicht gelingen, irgendeine endgültige Definition zu geben, sondern nur etwas, das dem ähnelt, was man in der Wissenschaft „operationale Definition“ nennt: man nennt ein konkretes Beispiel, das aus verschiedenen Gründen viel mit dem Begriff „klassische Küche“ zu tun hat.

Es ist in meinen Augen wenig zielführend, zur Erläuterung des Begriffes tief in die Geschichte einzudringen, also etwa zu Marie-Antoine Carême (1784 – 1833), der als wichtigster Einfluss für die Entwicklung der klassisch-französischen Küche gilt. Wichtiger scheint mir, sich jene Küche anzusehen, die das „System Michelin“ mitbegründet hat, also die Küche, die zuerst mit Sternen ausgezeichnet wurde und zum Ursprung all dessen wurde, was wir heute mit „klassisch-französischer Küche“ bezeichnen. Und da trifft es sich gut, dass in Frankreich gerade ein Buch aus dem Jahre 1977 neu herausgegeben wurde. Es ist:

Roger Moreau/Roger Garnier/Jacotte Brazier: Les Secrets de la Mère Brazier. Edition Solar, Paris 2020. 288 S., geb., Hardcover, 29 Euro (in französischer Sprache)

Die „Mère Brazier“ genannte Köchin (eigentlich Eugénie Brazier) war die erste Köchin, die im Jahre 1933 gleich für ihre zwei Restaurants (Lyon, Rue Royale und auf dem Col de la Luère) 3 Michelin-Sterne erhielt. Über ihre Schüler wie Paul Bocuse oder auch Bernard Pacaud wurde sie zu einer höchst einflussreichen Figur, berühmt und hochgeehrt – in der Küche aber wohl eher gefürchtet, weil sie – so Zeitzeugen – den ganzen Tag vor allem immer herumgeschrien habe. Von ihr stammen allerlei strenge Verhaltensweisen, zum Beispiel die später bei Robuchon ins Extrem geführte Praxis, abends alles an restlichen Produkten aus der Küche zu entfernen und an jedem Morgen wieder ganz neu anzufangen. Die berühmten Köche aus ihrer Schule weisen immer wieder darauf hin, dass es sich bei ihrer Küche um eine im Prinzip einfache Küche gehandelt habe, die dann allerdings mit einem Maximum an Sorgfalt und mit den allerbesten Produkten ausgeführt wurde.

Das Buch
Erst einmal geht es um die Person der Mère in ihrer eigenen Darstellung und in Zeugnissen diverser Zeitgenossen. Ihr Verwandten Carmen und Jacotte Brazier reden von einer „Apologie der traditionellen Küche“, also einer Verteidigung, die immer anregend, aber vor allem voller Geschmack sei. Es gibt Vorworte u.a. von Paul Bocuse, dann aber vor allem den Lebenslauf der Mère Brazier, von ihr selber geschrieben und das bis etwa zum Datum der Eröffnung und ersten Zeit auf dem Col. Es wird klar, dass sie „ganz von unten“ kommt, also aus einem einfachen Bauernhaus, wo sie schon als kleines Kind mitthelfen musste und im Laufe der Zeit auch an die Küchenarbeit herangeführt wurde. Dass sie dann den Beruf der Köchin wählte, war ein vergleichsweise logischer Weg, sie machte da weiter, wo sie sich schon auskannte. Den Aufstieg zur Starköchin (und das wurde sie dann) verdankte sie anscheinend vor allem der Eigenschaft, nicht nur repetitiv zu arbeiten, sondern immer wieder auch nach eigenen Lösungen zu suchen. Und…sie ist bei einer anderen Mère in die Lehre gegangen, der Mère Filloux, die wiederum die eigentliche Erfinderin des Huhns „en demi-deuil“ ist, also des Huhns, das man unter der Haut mit Trüffelscheiben bestückt. Und weil die Mère Filloux gerne auch einmal repräsentierte und nicht in der Küche stand, konnte sich die Mère Brazier bei ihr prächtig entwickeln.

Ab Seite 53 geht es um die „Großen Klassiker der Mère Brazier“, eine überschaubare Sammlung mit den „Artischockenböden mit Foie gras“, der „Languste belle aurore“, der „Languste mit Mayonnaise“, den „Quenelles“ inklusive einer Sauce für die Quenelles, dem „Soufflé de saumon“, der „Terrine mit dreierlei Fleisch“, dem „Steinbutt in Chambertin“, dem „Filet de charolais Rossini“, dem „Poulet à la crème aux morilles“, dem „Poulet grillé béarnaise“ und dem „Volaille demi-deuil“ (plus einige Desserts). Alle Rezepte sind für den Hausgebrauch geschrieben – was einerseits kaum einen Unterschied zu den Rezepten der Küche der Mère macht, andererseits zum Beispiel bei den Quenelles aber auch zu dem Hinweis führt, man könne das ohne professionelles Gerät nicht schaffen.

Die Rezepte sind aus meiner Sicht höchst unpräzise und lassen nicht ahnen, wie man auf diese Weise zu hoher Qualität kommt. Das Rinderfilet etwa soll „gereift“ sein, es wird in „einem guten Stück Butter“ (wieviel? Süßbutter oder Demi-Sel? Vermutlich Süßbutter, weil das die normale Butter war und ist) angebraten. Es wird erst nach dem Anbraten gesalzen und gepfeffert (sehr gut!), es wird warmgehalten (Keine Zeitangaben). Im Bratenfond werden fein gehackte Schalotten angeschwitzt und mit einem Glas Porto abgelöscht. Auf das Filet kommt eine Scheibe unbehandelte Foie gras und Trüffelscheiben. Dieses Türmchen wird im letzten Moment mit kochender und mit Butter aufgeschlagener Sauce übergossen. Es bleiben Unmengen von Fragen. Und – so und ähnlich geht es die ganze Zeit zu. Wer weiß, wie es schmecken muss oder kann, wird mit solchen Rezepten keinerlei Probleme haben. Wer keine Vorbilder kennt, wird vermutlich immer eine ganze Reihe von Fehlern machen, weil ihm die Details fehlen. Oft wird man auch darüber staunen, dass die Dinge eben sehr einfach gehandhabt werden. Die Morcheln etwa werden in Butter angeschwitzt. Das ist alles. Wie sagte es Paul Bocuse im Vorwort: es sind im Prinzip einfache Rezepte, die aber mit besten Produkten (das kann man heute reproduzieren) und mit extrem viel Sorgfalt zubereitet wurden (was man den Rezepten leider nicht ohne weiteres entnehmen kann).

Ab Seite 73 folgen dann die diversen Rezepte der traditionellen Küche. Es gibt Moules mariniére (die man deutlich besser machen kann), viele traditionelle Rezepte, die mit Foie gras, Trüffel und Co. angereichert sind, Seeteufel mit Curry, Brandade de Morue, Seezungenfilets à la normande, Bouef Bourguignon, natürlich ein Entrecôte, dessen Herstellung dann wieder – siehe oben – kaum weiter erklärt wird, usw. usf. Man findet fast alle traditionellen Rezepte in dieser Sammlung und selten einen wirklichen Grund für Qualität, außer dem vielleicht, dass es sehr wenig Bastelei gibt (um es einmal salopp zu formulieren). 

Eine besondere Rolle haben die Saucen, die zeigen, mit welchen Bausteinen die Mère gearbeitet hat. Natürlich spielte Mehl als Bindemittel immer wieder eine große Rolle – auch etwa die Mehlbutter/Beurre manie, die zum Beispiel Thomas Keller so häufig benutzt. Und da sind dann alle die Saucen, die noch einen eigenen Namen haben von der Béchamel bis zur Sauce duxelles, von der Sauce grand veneur bis zur Sauce gribiche, von der Sauce moscovite zur Sauce Nantua oder der Sauce ravigote und suprême. Und sie alle werden deutlich anders hergestellt, als das heute oft berichtet wird…

Fazit
Das Bild, das man hier bekommt ist intensiv und zuverlässig. Diese Küche hat sich nie selber zerlegt oder sonstwie geschwächt, sie wurde selbstbewußt vorgetragen und ihre Exekution hatte vor allem etwas mit guten Kenntnissen der Materie, Handwerk „und ein wenig gutem Geschmack“ (wie das an einer Stelle ein Zeitzeuge sagt) zu tun. Man muss sie nicht in allen Details kopieren, sondern könnte sie durchaus auf alle möglichen Aspekte und Aromen anwenden. Das, was allgemein bei uns unter „klassischen Grundlagen“ verstanden wird, hat mit dieser Klassik meist überhaupt nichts zu tun – im Gegenteil. Eine „weichgespülte“ Aromatik, der Verzicht auf Fette usw. usf. sind irgendwann als Abarten entstanden, aber nicht in Folge dieser klassisch-französischen Küche.

Als klassische Quelle bekommt das Buch keine Bewertung, ich halte es aber für höchst lesens- und nachdenkenswert.

Coverfoto: Edition Solar

2 Gedanken zu „Was ist klassische Küche? Zum Beispiel die Mère Brazier“

  1. Sie Herr Dollase haben die Frage aber nicht beantwortet was denn die klassische küche in ihren Augen ist, wir sprechen aber von der klassischen deutschen Küche! Ich bin gespannt was für sie die deutsche klassische Küche ist.

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