Albert Adrià: Tickets, Evolution. RBA Libros, Barcelona 2018. 272 S., geb., wattierter Einband. Ca. 42 Euro (englische Übersetzung)

Albert Adrià hat vor einigen Tagen angekündigt, dass er seine Restaurants in Barcelona erst einmal wieder schließt, weil er unter den Corona-Auflagen der Regierung nicht wirtschaftlich arbeiten kann. Wie es weitergeht, wisse er noch nicht, wobei die Chancen für die Wiedereröffnung des „Tickets“ wohl am besten sind. Ich möchte das zum Anlass nehmen und das Buch über das Konzept und die Rezepte des „Tickets“ vorstellen, das es glücklicherweise auch in englischer Sprache gibt. Es stammt aus dem Jahre 2018 und hat als Inhalt quasi alles, was sich seit der Eröffnung des ursprünglichen Restaurants „41°“ an diesem Platz in Barcelona ereignet hat.

Vorab: Die Rolle von Albert Adrià
Vor der Besprechung des Buches möchte ich erst einmal eine kleine Geschichte erzählen, die ich im „El Bulli Taller“, dem Winter-Atelier von Ferran Adrià in einer Seitenstrasse der Ramblas in Barcelona erlebt habe. Ich war wegen verschiedener Reportagen dort, zum Beispiel auch für einen Bericht in ZDF-Aspekte, die quasi über das Treffen mit Adrià berichtet haben und uns auch bei einem gemeinsamen Bummel über den nahen La Boqueria-Markt begleitet haben. Ich hatte das Treffen auf Wunsch von Wolfgang Herles, dem damaligen Chef von „Aspekte“ arrangiert. In diesem Zusammenhang war ich aber auch alleine und ohne TV-Begleitung dort und habe den kreativen Prozess der Entstehung diverser Gerichte genau miterleben können. Darüber vielleicht später einmal mehr.

Albert Adrià saß in diesem verschachtelten Komplex in einem Raum mit sehr niedriger Decke, den man vom eigentlichen Atelier aus per Treppe erreichen konnte. Irgendwie wurde ich die ganze Zeit den Eindruck nicht los, dass dort oben das eigentliche kulinarische Mastermind der ganzen Sache sitzt. International bekannt ist er vor allem als genialer Patissier des „El Bulli“ geworden, der zum Beispiel mit seinem „Natura“-Buch eine ganze Generation von Pâtissiers beeinflusst hat. Als ich bei ihm im „Tickets“ zu Besuch war, gab es auf der Baustelle des „Enigma“ ein ausführliches Interview, in dem ich ihn unter anderem unumwunden fragte, wer denn eigentlich das kulinarische „Mastermind“ sei, er oder sein Bruder Ferran? Die Antwort von Albert war – sagen wir: indirekt. Man habe überlegt, wer denn das „El Bulli“-Projekt am besten nach außen vertreten könne und sei zu dem Schluss gekommen, dass Ferran dafür besonders geeignet sei und das auch machen wollte.

Die Aktivitäten im „Tickets“ und den anderen Restaurants der Gruppe haben nach Schließung des „El Bulli“ klar gezeigt, wer was macht. Es ist Albert, der sich um die Restaurants kümmert, während Ferran sein Bullipedia-Projekt und andere Aktivitäten in den Mittelpunkt stellt. Ferran isst immer wieder in den Restaurants und sagt natürlich auch immer etwas zu den Gerichten, hat aber keine direkte Funktion bei der Erfindung und Realisierung der Gerichte mehr.

Das Buch
Der Titel „Evolution“ und ein anderer Satz auf dem Cover („This is not a Tapas Book“) geben die Richtung vor. Wenn dies die Evolution ist, war „El Bulli“ die Revolution. Die Arbeit im Tickets ist andererseits – noch präziser gefasst – eigentlich eine gastronomische Evolution, die ich ruhig als gastronomische Revolution beschreiben würde. Es geht darum, dass Albert Adrià im „Tickets“ die Erkenntnisse aus dem „El Bulli“ in eine gastronomisch populäre Form gebracht hat, ein spannendes Essen anbietet, das in entspannter Atmosphäre und zu erschwinglichen Preisen trotzdem die ganze Breite des Ansatzes im „El Bulli“ nutzt. Und dort entstanden schließlich nicht nur bizarre Elemente aller Art unter Verwendung von texturgebenden Mitteln, sondern auch Unmengen an weiteren Ideen, die nicht so viel internationale Aufmerksamkeit gefunden haben.

Das Buch ist also kein reines Rezeptbuch, sondern schildert die Entwicklung in einem gastronomischen Bereich, in dem die Adrià-Brüder ja schließlich eher wenig Erfahrung hatten. Eine kleine Statistik zeigt ein paar interessante Zahlen, etwa die, dass man 2011 mit 17 Köchen begonnen hatte und 2017 32 hatte, dass in der gleichen Zeit die Anzahl der Gerichte pro Gast von 8 auf 23 gestiegen ist und dafür die tägliche Zahl der Gäste von 120 auf 95 gesunken ist – bei einem durchschnittlichen Bon von 90 Euro in 2011 und 130 Euro in 2017. Die Rezeptliste beginnt mit dem Jahr 2014, wo es etwa „Geröstetes Brot mit marinierter Anchovis, Hühnerhaut und Tarama“ oder die „Gegrillten Austern mit Tee von Totentrompeten“. Man erkennt früh den Kampf um die neue Art der Gerichte zwischen Tapas, kleinen Spezialitäten mit viel Adrià-Gedankengut und einer eigenen Handschrift, die viel mit einem eher puristischen Zugang zu den Produkten zu tun hat. Die „Kirschtomaten mit hausgemachter Burrata“ sind bei weitem nicht nur das, was man meint, sondern eine trickreiche Arbeit, die letztlich aber – und das ist hier immer wichtig – Tomaten wie Burrata einfach ganz exzellent schmecken lässt.

Im Laufe der Jahre nehmen sowohl die Klarheit der Zubereitung wie deren aromatische Wucht immer mehr zu. Beim „Porex with Kalix Caviar“ von 2015 sieht man nur einen eben an „Porex“ erinnernden Würfel mit Kaviar obenauf, bekommt aber tatsächlich einen trickreich entwickelten Marshmellow auf der Basis von geräuchertem Käse, Dashi, Zitrone und Meerrettich. Was unbedingt auffällt, ist die gute, entwickelte sensorische Struktur der Gerichte. Man erlebt ganz klar, wie mit gut strukturierten sensorischen Konzepten Essen im kulinarisch besten Sinne inszeniert wird. Wenn Texturen und Temperaturen im Mund zusätzlich zu den Aromen eine präzise Wirkung entfalten, schmeckt das Essen einfach um Klassen interessanter und im übrigen meist auch produktnäher, weil ein guter Sensoriker alles dafür tun wird, jedes Element maximal zu präsentieren. Das Wirken eines Kochs, der die Sensorik wirklich verinnerlicht hat, ist in diesem Buch quasi bei jedem Gericht zu bemerken. Ein „Muffin von schwarzer Olive mit Joghurt“ kann eine Banalität sein. Wenn die Idee aber „sitzt“, ist es ein interessanter Akkord, der zeitliche Abläufe hat und bei perfekter Kontrolle einfach etwas erzeugt, das viele Esser fasziniert und dass sie mit Begeisterung essen.

Insofern bringt dieses Buch etwas, das man ansonsten so gut wie gar nicht findet. Man erkennt erst einmal die Bemühungen um ein populäres, für ein internationales Publikum wirksames Konzept und sieht Ergebnisse, die den Erfolg bestätigen. Dann aber schaut man sich die Rezepte näher an und entdeckt unter dieser populären Oberfläche eine äußerst trickreiche, hoch entwickelte Küche von Leuten, die wirklich State-of-the-Art kochen können. Diese Souveränität und diese Unmenge an hochinteressanten Details zeigen die ganze Stärke von Albert Adrià und dieses Konzeptes. Und – bei der Einschätzung seiner Qualitäten als Koch darf man nicht vergessen, dass er so etwas mit Augenmaß und Konzentration macht, dass er für das „Tickets“ eine bestimmte Form will, so wie er für andere Restaurants eine andere Form realisiert und für sein „Enigma“ eben seine Idee einer Spitzenküche à la Albert Adrià. Da arbeitet also ein enormes Talent.


Fazit
Das Buch ist vordergründig ein vor allem gastronomisch interessantes Buch, das aber schnell zeigt, dass zwischen dem großen gastronomischen Erfolg und einer enormen kulinarischen Qualität ein sehr enger Zusammenhang besteht. All das wird hier kurz und klar und ohne Pomp vorgetragen und so zu einem Maßstab für alle Köche, die sich – hoffentlich – in der Zukunft in eine solche oder ähnliche Richtung entwickeln. Leider haben wir in Deutschland keine Tradition, die auf den ersten Blick ähnliche Entwicklungen zulassen könnte. Aber – das täuscht. Ähnliches ginge auch bei uns, braucht aber noch eine stramme Zeit an Entwicklung.

Das Buch bekommt drei grüne BBB weil es einen wichtigen Beitrag für die Entwicklung des Zusammenhangs von Kochkunst und spezifischen gastronomischen Konzepten leistet.

Die Bilder sind aus dem Buch fotografiert. Credits für die Fotos: Moisés Torné Bianya

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