Die besten Kochbücher der letzten 30 Jahre. Folge 7

René Redzepi: Noma. Time and Place in Nordic Cuisine. Phaidon, London und New York 2010. 368 S., geb., Ganzleinen. (Deutsche Ausgabe: Noma. Zeit und Ort in der nordischen Küche, Phaidon 2011)

Egal, ob man René Redzepi für genial hält oder mit seiner Arbeit wenig anfangen kann: mit seinem konsequent erarbeiteten Ansatz einer vertieft regional orientierten und gleichzeitig avantgardistischen Küche ist er zu einem der einflussreichsten Köche der letzten Jahrzehnte geworden. Sein erstes großes Buch ist eine Sammlung von kulinarischen Neuigkeiten, wie sie in dieser Massierung extrem selten ist. Es ist das Ergebnis einer Arbeit, die mit dem Willen begonnen hat, die kulinarischen Traditionen der nordischen Länder zu erforschen, vergessene Produkte und Kochtechniken wiederzubeleben und die Traditionen wieder mit der Gegenwart zusammenzubringen. Das ist Redzepi nicht nur für die nordische Küche perfekt gelungen: es hat sich gezeigt, dass sein Ansatz auf andere Länder übertragbar war und übertragbar ist, und es hat sich gezeigt, dass die Arbeit mit naheliegenden Ressourcen auch unter ökologischen Aspekten sehr viel Zukunft hat. Wie kein anderer Koch ist er mittlerweile in einer weltweiten kulinarisch-ökologischen Bewegung vernetzt, die freilich immer noch (und wohl noch auf längere Zeit) Avantgarde ist, also das Bild einer kulinarischen Zukunft entwirft, die noch weit von den Ernährungsgewohnheiten der „zivilisierten“ Ländern entfernt ist – deren Zivilisiertheit in kulinarischen Fragen aber auch immer in Frage stellt.

Man muss im Zusammenhang mit René Redzepi einen wichtigen Punkt diskutieren.

Das Verhältnis der „Noma“-Küche zu eher traditioneller Spitzenküche
Man sagt manchmal salopp, dass René Redzepi der einzige Drei-Sterne-Koch ohne drei Michelinsterne sei. Nach wie vor besitzt er nur deren zwei, obwohl er jahrelang die Nummer 1 diverser internationaler Rankings war und obwohl die ganze Welt seine Küche diskutiert. Wie bei vielen Kreativen, die deutlich anders arbeiten, als dies der Mainstream tut, ist der Küche des „Noma“ auch eine gewaltige Ablehnung entgegengeschlagen. Gerade für viele eher „normal“ orientierte Kollegen war dies einfach keine gute Küche, weil sie im landläufigen Sinne „nicht gut schmeckte“, also keinerlei traditionelle Erwartungen erfüllte. Auch die Tatsache, dass in den „Noma“ – Menüs oft nur Kleinigkeiten serviert wurden, bei denen irgendein Produkt oder irgendeine Art der Zubereitung eher demonstriert als zu einer großen kulinarischen Komposition zusammengefügt wurde, hat viele Kollegen und Gäste irritiert. Wenn man sonst oft sagt: ein Drei-Sterne-Restaurant muss man an jedem einzelnen Gericht erkennen können, schien hier alles ganz anders zu sein. Da gab es dann zum Beispiel einen Fischkopf und sonst nichts. Redzepi wollte mit solchen Zubereitungen an alte Traditionen erinnern und anknüpfen und zeigen, wie gut ein solcher Kopf inklusive Bäckchen und Augen usw. schmecken kann. Er verfolgte sein Programm, nicht das Ziel, dafür eine bestimmte Bewertung zu bekommen.

Viele Kritiker sind an dieser Küche gescheitert, weil sie keinen Schlüssel gefunden haben, der diese Qualitäten aufschließt und so bewerten kann, wie es nötig wäre. Ja, man kann viele Gerichtem im „Noma“ nicht mit einer getrüffelten Bresse-Poularde o.ä. vergleichen und man findet auch eher selten ein Geschmacksbild, das Ähnlichkeit mit anderen, hoch bewerteten Geschmacksbildern in hoch bewerteten Restaurants hätte. Um diese Küche zu würdigen, muss man sich auf Kriterien einlassen, die grundsätzlicher Art sind – nicht auf modische Geschmacksbilder aller Art. Man muss die Vorstellung von Finesse erweitern – auch wenn man keine Vergleiche hat – man muss Kreativität als einen entscheidenden Faktor sehen und überhaupt die Performance des „Noma“ ganzheitlicher und nicht so isoliert betrachten, wie das sonst üblich ist. Man muss einfach erst einmal mehr verstehen und nicht so schnell urteilen. Und je weiter man da kommt, um so mehr wird man finden – mittlerweile auch bei genuin kulinarischen Faktoren, weil sich längst gezeigt hat, welche hervorragenden Resultate diese Art der Küche weltweit bringt.

Das Buch
Dieses rundum sehr schön gemachte Buch leitet die Küche des „Noma“ ganz präzise her. Gleich nach dem Vorwort gibt es die Story der Entwicklung des „Noma“ und das Tagebuch der für die Entwicklung der „Noma“ – Küche entscheidenden Reise Redzepis. Dann folgt der Bildteil, der quasi ohne jeden Text (bis auf jeweils ein Blatt mit dem Inhalt des nächsten Abschnittes) atmosphärische Bilder aus der nordischen Natur mit Bildern der Gerichte und vielen Detailfotos verbindet. Heute, zehn Jahre nach Veröffentlichung des Buches, überrascht man sich schon wieder dabei, dass man sagt: „so extrem sieht das aber gar nicht aus.“ Damals sah das extrem aus, und zwar in allen Belangen. Erinnern wir uns, dass das „letzte große Ding“ vor Redzepi Ferran Adrià war, und dessen Bilder sahen vollkommen anders aus – vor allem nicht so naturnah. Man sieht dem Buch aber auch an, wie ernsthaft Redzepi um seinen Ansatz gerungen hat und wie konsequent er vorgegangen ist. Dass er später erkannt hat, dass man auch noch ein paar besonders spektakuläre Bilder und Geschichten braucht, um weltweit noch mehr Aufsehen zu erregen, spielt hier noch keine Rolle. Die Präsentation von lebenden Garnelen zum lebenden Verzehr oder Bilder mit Ameisen im Gesicht verraten ein wenig die Adrià-Schule, sind aber nicht das, was die Sache ausmacht. Das Buch wirkt von heute aus gesehen also genuin kulinarisch und überragend originell.

Der Rezeptteil folgt ab Seite 250 und zeigt sehr genau, das hier nicht nur mit anderen Produkten anders gearbeitet wird, sondern für diese Küche auch teilweise eine Art eigene Kochtechnik entstanden ist. Man musste sich eben überlegen, wie man alle möglichen Beeren und seltenen Muscheln und Kräuter und Wurzeln und Pflanzen in eine Küche integrieren kann, die eine eigene Ausstrahlung hat und den Zusammenhang mit der eigenen Kultur nie verlässt. Es gibt hier und da ein paar Bindemittel etc. aus der Molekularküche, ansonsten aber weder nennenswerte mediterrane noch asiatische Ausflüge, sondern das Bemühen, selbst bei den Fetten sozusagen im Lande zu bleiben. Dass dieses Buch eine Fundgrube für viele Nachahmer wurde, ist absolut verständlich.

Fazit
Dieses erste Noma-Buch ist ein Buch, das man sich so oder ähnlich von anderen Köchen auf der ganzen Welt wünschen würde (was teilweise ja schon zu beobachten ist). Es präsentiert ein Konzept, das einerseits neuartig ist, andererseits aber auch alte Konzepte – ohne dies weiter auszuführen – kritisiert, weil sie zu einseitig, zu willkürlich, zu international geworden sind. Es bringt kulinarisch zur Besinnung und versucht, Modelle zu schaffen, wie man mit lokalen und regionalen Ressourcen arbeiten kann. Es zeigt, dass unsere Küche einer Revision bedarf, oder – milder formuliert – dass eine regional orientierte Revision für unsere Küche gut ist und viel Zukunft hat. Bis auf den heutigen Tag ist es längst nicht in allen Ländern gelungen, dies wirklich zu leisten. Insofern ist das Buch auch heute noch extrem wichtig und eine massive Anregung.

Fotos © Ditte Isager, abfotografiert von Jürgen Dollase

2 Gedanken zu „Die besten Kochbücher der letzten 30 Jahre. Folge 7“

  1. Wäre man gezwungen sich auf ein Restaurant festzulegen, wäre das Noma sicherlich keine schlechte Wahl. Wohl kaum ein Restaurant inkl. El Bulli hat in den letzten 20 Jahren einen derart tiefgreifenden Einfluss auf die weltweite Entwicklung der Gastronomie ausgeübt wie das Noma. Redzepi hat gezeigt, dass man selbst in einem Land mit begrenzter kulinarischer Tradition und (scheinbar) begrenzten Ressourcen streng regional kochen kann. Und gerade darin steckt der Clou: dass schon vor Redzepi streng regional gekocht wurde (was ihm immer wieder gerne vorgehalten wird) spielt dabei keine Rolle; dass dies aber nun überall möglich ist um so mehr. Er hat damit entscheidend dazu beigetragen, aus dem internationalen Mainstream, der zunehmend nivellierend auf die Spitzenküche wirkt, zu entkommen. Und das ganze im übrigen entgegen dem landläufigen und auch hier angedeuteten Vorurteil, man könne hier nicht „lecker essen“. Bisher habe ich selbst sehr konservative Esser immer hochzufrieden das Restaurant verlassen sehen, wo ich diesbezüglich im El Bulli (bei dem der Guide Michelin im übrigen keinerlei Probleme mit dem 3. Stern hatte) im sensorischen Bereich schon durchaus extremere Erfahrungen gemacht hatte. Für mich war und ist das Noma das Tor zu einer neuen kulinarischen Welt, die niemanden mit wachen Sinnen und kulinarischer Offenheit kalt lassen kann. Wenn das keinen 3. Stern wert ist, dann weiß ich es auch nicht.

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  2. Ist das Noma in Kopenhagen nun das „beste Restaurant“ der Welt ist oder nicht? Ich kann es schlecht beantworten, da mir die Erfahrung aus Übersee fehlt. Nach dem Besuch 2013 darf ich für mich allerdings feststellen, dass es zu dem interessantesten und experimentierfreundlichsten Restaurant gehört, die ich in den letzten Jahren besucht habe.
    Ein Besuch bei René Redzepi und seinem Restaurant NOMA in Kopenhagen ist nichts für Anfänger. Eine Küche zwischen Avantgarde und Natur.
    https://alwisgenussreisen.com/2013/09/25/noma-kopenhagen-restaurantbesuch-teil-1/

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