Die Bücher kann uns niemand nehmen! Empfehlung für ein wunderbares Wimmelbuch.

Wenn man wenigstens regelmäßig neue Bücher findet und ins Haus bekommt, ist das in diesen Zeiten zumindest ein kleiner Trost. Ich möchte heute dringend ein kulinarisches Buch (eigentlich sind es zwei Bücher…) empfehlen, das beim Lesen richtig Spaß macht, weil es eine Art von Wissensanarchie betreibt, die man heute leider viel zu selten findet. Wer dieses Buch liest, wird sich irgendwann einmal fragen müssen, was denn in den meisten anderen kulinarischen Büchern überhaupt außer ein paar Rezepten zu finden ist – speziell in jenen Büchern, die wie eine einzige Entschuldigung geschrieben sind und ständig darauf hinweisen müssen, dass die Rezepte hier wirklich ganz einfach seien. Der Markt für Küchen-Legastheniker wird immer größer. Leider spielen populäre Köche dabei eine ganz schlechte Rolle und auch unsere besten Köche meist keine besonders rühmliche. Vielleicht liegt der schwarze Peter aber auch nur bei den Verlagen, die in ihrem Discounter-Denken alles sofort ablehnen, was nicht garantiert gut verkauft. Man kennt diese Zwickmühle (oder sollte man besser „Zweckmühle“ sagen?).

Es geht heute um:

Francois-Regis Gaudry & ses Amis: On va deguster L’Italie. Du Panettone aux Spaghetti al Ragù des Scorcese. Tutta la cucina italiana. Hachette Livre/Marabout 2020. 464 S., geb., Großformat, 42 Euro (in französischer Sprache, online problemlos zu bekommen)

Erst einmal eine Anmerkung zur Sprache. Dass das Buch bisher nur in französischer Sprache erschienen ist, sollte nicht weiter stören. Man kann es notfalls auch ohne größere Sprachkenntnisse lesen, weil die Bebilderungen einfach trägt. Außerdem darf zu recht gehofft werden, dass dieses im November 2020 in Frankreich erschienene Buch auch bei uns in deutscher Übersetzung erscheint. Mein Lob für die Qualität dieses Buches gilt nämlich auch für einen identisch aufgemachten Band über die französische Küche, der im letzten Herbst in deutscher Übersetzung erschienen ist. Der französische Band ist dem über die italienische Küche ganz ähnlich. In der Übersetzung hat man den Titel allerdings leicht verändert:

Francois-Regis Gaudry & Freunde: Die Gourmet-Bibel Frankreich. Absolut alles über die französische Küche. Christian Verlag, München 2020, 70 Euro

Weil ich hier aber nach Möglichkeit die neuesten Ausgaben bespreche, nehme ich heute das italienische Buch. Der Band über Frankreich stammt im Original aus dem Jahr 2017. Hoffen wir, dass es mit der italienischen Ausgabe für das italophile Deutschland nicht so lange dauert.

Das Buch
Dass ich das Buch in der Überschrift als „Wimmelbuch“ analog zu den berühmten „Wimmelbildern“ bezeichne, hat ganz klare Gründe. Es ist – ganz im Gegensatz zu quasi allen Kochbüchern – irgendwie komplett unstrukturiert. Es gibt kein Inhaltsverzeichnis und keine Kapitel, keine Reihenfolge mit irgendeinem Sinn, nichts. Es ist ein wenig so, als ob man in Italien in ein Viertel mit einer schönen Markthalle geht. Man nimmt dauernd irgendwelche spektakulären kulinarischen Qualitäten wahr und – man verknüpft sie dabei gerne auch noch mit vielerlei Erinnerungen, die ebenfalls etwas mit Essen zu tun haben.

In diesem Buch gibt es für jeden der einzelnen Themen eine oder zwei Seiten, selten weniger. Und dann kommen eben die italienischen Bohnensorten auf zwei Seiten. Zitrusfrüchte auf einer, Zabaione nebst Rezepten, Variationen, Geschichte und diversen Tipps auf einer Seite. Massimo Bottura und andere Köche haben jeweils eine Seite. Es geht zum Beispiel um süße Gnocchi, Ricotta (Sorten, Herstellung, seltene Spezialitäten usw.), Tafeltrauben, Nougats, die Geschichte des Hauses Barilla, die Pizza Napolitana (deren Fotos sofort zeigen, was Qualität ist), Essen in der Kunst, 10 Signature Dishes von berühmten Köchen, Pasta im Film, ein Porträt des berühmten italienischen Sommeliers Enrico Bernardo, bittere Salatsorten, Schokoladensalami usw. usf. Dabei stellt man schnell fest, dass hier ein erhebliches Wissen zusammengetragen wurde, dass „Essen“ in seiner ganzen kulturellen Breite verstanden wird und nicht etwa nur die populärsten Themen aufgenommen wurden. Auch Spezialisten werden hier sofort fündig werden und – wie oft im Zusammenhang mit komplex beschriebenen Länderküchen – auch viele Anregungen bekommen.

Ein wesentlicher Beitrag wird durch die grafische Gestaltung des Buches erzielt. Man findet quasi keinerlei längere Texte, sondern immer eine ganze Reihe kleiner Texte mit Überschriften, neben den vielen Fotos auch viele Illustrationen und Grafiken und damit insgesamt ein Bild, das einfach neugierig macht und kurzweilig wirkt. Zuviel Bilder suggerieren schnell Oberflächlichkeit, zuviel Text ermüdet viele Leser. Hier geht es bestens ausgewogen zu.

Auch die Tendenz des Buches gefällt. Während die Franzosen ansonsten dazu neigen, alles andere außerhalb ihres Landes eher mit mehr oder weniger spitzen Fingern anzugehen, hat man sich Italien mit deutlich größerer Offenheit genähert. Es gibt natürlich auch eine Seite über italophile französische Köche – angeführt von Alain Ducasse, dessen Nähe zu Italien schon seine frühe Arbeit in Monaco deutlich beeinflusst hat. Der Autor Francois-Regis Gaudry schreibt übrigens für „L’Express“ und hat eine wöchentliche TV-Sendung, in der er alles mögliche in allen möglichen Ländern und Regionen probiert. So etwas gibt es natürlich auch bei uns – allerdings mit dem Unterschied, dass bei uns meist die Offenheit und das echte Interesse zu fehlen scheinen und man den Eindruck bekommt, man habe sich im TV-Kinderfernsehen verirrt. Da ist die Wissensvermittlung in anderen Ländern oft doch viel unterhaltsamer und gleichzeitig um Klassen informativer.

Fazit
Das Konzept trägt ungeheuer gut, und das mit Sicherheit auch bei Lesern, die von sich meinen, sehr viel über Italien zu wissen. Wer also nicht das ewig gleiche, halbwisserische Geschwätz der Toskana-Fraktion hören will, engstirnigen Schickimicki-Kram nicht mag sondern wirklich nahe an die Sache herangehen will, sollte das Buch unbedingt lesen. Durch die vielen Rezepte ist es außerdem auch noch sehr nützlich.

Das Buch bekommt drei grüne BBB als ein Höhepunkt der allgemeinen publizistischen Abteilung, die man in dieser Qualität auf einer Höhe mit den besten kreativen Kochbüchern sehen muss.

Fotos © Hachette Livre/Marabout, abfotografiert von Jürgen Dollase

1 Gedanke zu „Die Bücher kann uns niemand nehmen! Empfehlung für ein wunderbares Wimmelbuch.“

  1. Neu im Bücherregal: Absolut alles über die französische Küche, stimmt nicht ganz. Habe zwei Fehler gefunden. Es fehlt die Beschreibung der „Andouille de Vire“. Die Andouille ist eine sehr alte Wurstsorte. Ist seit ca. 1820 in der Normandie bekannt. Nicht zu verwechseln mit der Andouillette.
    Auch die „Confrérie de la véritable andouille de Vire“ ist bei den Bruderschaften nicht aufgeführt. Ich bin seit 1995 Mitglied in der Bruderschaft.

    Antworten

Schreibe einen Kommentar zu Wilfried Albrecht Antworten abbrechen