Die Neue Mitte zeichnet sich ab

Am gestrigen Sonntag habe ich im Zusammenhang mit der neuen Wirkungsstätte von Ex-Louis C. Jacob-Direktor Jost Deitmar, dem Hotel „Das Lindner“ in Bad Aibling, in meiner Kolumne „Hier spricht der Gast“ in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung den Begriff „Neue Mitte“ für den Küchenstil des Hauses benutzt. Ich habe in der letzten Zeit eine größere Zahl von Restaurants besucht, die alle mehr oder weniger intensiv in eine ähnliche Richtung arbeiten. Sie tun dies von unterschiedlichen kulinarischen Seiten her, aber mit dem gleichen Ansatz und ganz ähnlichen Zielen. Im Moment werden für diese und ähnliche Konzepte noch verschiedene Begriffe benutzt, die aber oft Schwächen haben oder Modenamen sind, deren Inhalt oft eher schwammig gefüllt wird.

Der aktuell am meisten verwendete Begriff für viele Konzepte ist wohl Casual Fine Dining. Seine Schwäche ist ganz offensichtlich: So lange von Fine Dining geredet wird, sitzt man begrifflich weitgehend im falschen Zug. Es klingt immer noch elitär und ist eher eine Variante von Fine Dining, die einem Teil des klassischen Fine-Dining-Publikums die Sache etwas zugänglicher macht. In der Mitte der Gesellschaft, also da, wo die wesentlichsten kulinarischen Veränderungen erzielt werden sollten, kommt man damit nicht an. – Auch viele andere Formate, wie etwa neue „jünger“ gemachte Regionalküchen, Fleischrestaurants, diverse Länderküchen, vegetarische oder vegane Formate haben oft noch zu stark partikuläre Interessen im Sinn und werden damit soziologisch gesehen schnell zu einer Art von Variante der Gourmetküche, weil sie eben oft nur ein ganz spezielles Publikum ansprechen. Das klappt oder klappt nicht, eine große Breitenwirkung ist kaum zu erwarten, und schon gar nicht Konkurrenz für eine überkommene bürgerliche Küche, wie sie nach wie und noch viel zu oft in unseren Landen zu finden ist.

Dabei ist allen Beteiligten seit vielen Jahren klar, dass der kulinarische Aufschwung in unserem Land aus der Mitte kommen muss. Woher die Inspirationen dafür kommen, ist eine andere Frage (siehe unten). Wichtig ist, wo dieser Aufschwung passiert, wie viele Leute er erreicht und ob er in der Lage ist, das gastronomische Niveau und damit die kulinarischen Qualitätsmaßstäbe grundsätzlich zu verbessern. Um es einmal von einer anderen Seite zu benennen: So lange man sich z.B. mit produktferner, überwürzter Brauereiküche, mit Massen von handwerklich schwachen Wirtshäusern, mit unausgewogenen Hotelküchen oder einer Regionalküche herumschlagen muss, die diese Zuordnung kaum verdient (von der Unzahl von fast ausschließlich Convenience-Produkte nutzenden Gastronomien ganz zu schweigen), ist es noch nicht weit her mit einer grundlegenden qualitativen Verbesserung der deutschen Küche.

Aber es deuten sich klare Linien an, die in der Lage sind, qualitative Verbesserungen von Rang zu schaffen, weil sie sich sozusagen mitten in der Gesellschaft, mitten bei den „ganz normalen“, interessierten Gästen ereignen. Und da haben scheinbar unterschiedliche Ansätze ganz ähnliche Grundsätze und ganz ähnliche Ziele. Wenn sie zusammenkommen und aus der Erkenntnis heraus, dass man an gleichen Zielen arbeitet, noch mehr Kraft bekommen, sieht es für die Zukunft plötzlich und durchaus etwas überraschend besser aus denn je.

Im übrigen verzeichnen viele Restaurants, die die „Neue Mitte“ am besten repräsentieren, ganz erstaunliche Erfolge, mit denen sie bisweilen nie gerechnet hätten. Ihre Konzepte treffen, und sie treffen vielleicht noch besser, wenn die Profile hier und da noch etwas optimaler geschärft werden.

Hier ein paar Punkte dazu:

Der Gast soll glücklich werden und mehr Freiheit bekommen
Im Mittelpunkt der „Neuen Mitte“ steht der Gast, der durchaus in seinen Vorlieben abgeholt werden, darüber hinaus aber etwas erleben soll, was ihn wirklich glücklich macht. Das klingt vielleicht erst einmal wie eine oft genutzte Standardformulierung, ist es aber nicht. Die Vorlieben der Gäste sind da, aber gesucht wird auf dieser Grundlage nicht nach der simplen Bedienung dieser Vorlieben, sondern nach einem Erlebnis, dass diese Vorlieben sozusagen übererfüllt. „Das ist mein Ding. Es ist mein Lieblingsessen, aber ich habe es noch nie so gut bekommen wie hier!“ – wäre ein Satz, der das kulinarische Ziel gut beschreibt. Der gastronomische Weg dazu ist der einer größeren Freiheit des Gastes, eines veränderten Angebotes, das von einfachen bis zu aufwendigeren Gerichten reicht und sich nicht nur der Standards normaler Karten bedient. Manche Gäste mögen vor allem das große Hauptgericht, andere lieber Kleinigkeiten, dritte vielleicht Sharing-Konzepte und wieder andere Tapas-Folgen.

Freiheit der Wahl: à la Carte statt Einheitsmenü
Natürlich gilt das Marktmenü mit seiner Reaktion auf das aktuelle und frischeste Angebot als kulinarisch und gastronomisch überaus vernünftig. Die Gäste bekommen – zumindest in der Theorie – das bestmögliche Angebot, und der Gastronom verrennt sich nicht im Vorrätighalten größerer Warenbestände. Aber – das Einheitsmenü ist auch dann eine Form der geringen Freiheit der Wahl, wenn man die Gänge einzeln bestellen kann. Die erfolgreichsten Restaurants der „Neuen Mitte“ (die es übrigens teilweise schon längere Zeit gibt, und die insofern die aktuelle Entwicklung mit einer gewissen Genugtuung betrachten: Sansibar, Jörg Müller und Co. zum Beispiel) haben diese Offenheit, und das selbst dann, wenn die Preise teilweise deutlich unterschiedlich sind. Die Freiheit der Wahl ist nicht nur eine rein kulinarische, sondern hat oft auch etwas mit der Menge zu tun, die ein Gast verzehren will, mit dem Geld, das er investieren will oder der Art seiner Vorlieben. Die Gäste haben da oft klare Vorstellungen, die sie bisher aber kaum jemals realisieren konnten. Einmal im Restaurant, kam und kommt ihnen da allzu oft eine passive Rolle zu: Sie müssen essen, was es gibt, auch wenn das angebotene Spektrum zu eng ist, um sie wirklich zu erfreuen.

Die Mischung macht’s: einfache plus anspruchsvollere Gerichte
Die erstaunlichsten Erfolge erzielen Restaurant mit Karten, die in lange vergessener Art (früher gab es das ja häufiger) einfache und durchaus anspruchsvolle Gerichte mischen und dies auch preislich. Da gibt es kleine Salate als Vorspeisen und vielleicht einen elaborierten Hauptgang mit Spitzenprodukten – ganz wie der Gast es möchte, um sich wohl zu fühlen. Man hat festgestellt, dass es einen bestimmten Gast-Typus in sehr viel größerer Zahl gibt, als man es je angenommen hat. Dieser Typus ist durchaus bereit, einiges an Geld auszugeben, möchte es aber nur so tun, wie er das möchte, oft in mengenmäßig begrenzter Form und mit vergrößertem Angebot (das gilt übrigens auch und explizit für das Angebot an offenen Weinen). Die Mischung aus simplen Degustationen (etwa ein Aufschnittteller) mit einem eher anspruchsvollen Hauptgericht mag manchen Köchen wider die Natur gehen. Die Gäste haben mit so etwas keinerlei Probleme.

Input von der Spitzenküche – aber nur der mehrheitsfähige Teil
Ein hochinteressanter Punkt ist die Antwort auf die Frage, wo denn die qualitativen Verbesserungen herkommen sollen. Und da muss die Antwort radikal ausfallen: Was am besten funktioniert, ist ein handwerklicher Input aus der Spitzenküche, der sich aber auf das konzentriert, was nachvollziehbar, was evident ist. Das sind in erster Linie die Produktqualität und die Produktbehandlung, also vor allem Garungen aller Art und darüber hinaus gemischte Zutaten wie Saucen, Pürees, Chutneys, Ragouts usw., bei denen die Gäste am besten merken, zu welchen Glanzpunkten eine handwerkliche gute Küche und ein guter Koch in der Lage sind. Dieser mehrheitsfähige Teil des Inputs aus der Spitzenküche führt zu den oben genannten, typischen Reaktionen. Man liebt bestimmte Gerichte, findet dann aber diese Optimierungen mit Augenmaß einfach wunderbar. Ich erlebe es immer wieder – sowohl unterwegs wie zu Hause, wenn ich für Nicht-Gourmets koche – dass viele Optimierungen spontan und ohne Probleme von sehr vielen Leuten nachvollzogen werden können. Die Gäste merken einfach, wenn etwas ganz besonders gut ist. Input von der Gourmetküche der „zu weit weg“ ist, also etwa ungewöhnliche Produkte, Zubereitungen und Kombinationen, mögen kulinarisch noch so spannend sein: Sie werden die Wirkung der evidenten Optimierungen kaum je erreichen.

Die Rückkehr traditioneller Gourmetküche
So ganz nebenbei hat sich in diesem Zusammenhang gezeigt, dass die „Neue Mitte“ ein idealer Spielplatz für Zubereitungen ist, die in früheren Zeiten noch als Gourmetküche galten. Für viele auch nur ein wenig ältere Gäste sind die Entwicklungen der kreativen Küche in den letzten Jahren zu schnell gewesen, sie leben geradezu auf, wenn Gerichte angeboten werden, die eindeutig die Spuren der 1980er oder 1990er Jahre tragen. Und weil man bei diesen Gerichten oft ein klares Bild von Qualitäten hat, werden sie – selbst in reduzierter Form – als echte Bereicherung, als eine Erinnerung an prägende kulinarische Erlebnisse, als eine intensive Aktivierung des assoziativen Kontextes erlebt. In der Praxis sind das manchmal bestimmte Geschmacksbilder (wie etwa ein pochiertes und in Kräutern gewälztes Kalbsfilet), manchmal Saucen (wie eine gute Beurre blanc und ihre Ableger), manchmal Produkte (wie etwa ein Suprême von einem erstklassigen Huhn) und allgemein viel Cremiges oder traditionell-verfeinert Schmeckendes.

Ein Fall für Spezialisten, die es bisher kaum gibt
Es hat sich in diesem Zusammenhang allerdings ein merkwürdiges Problem ergeben. Die Köche, die so etwas kochen können, sind nicht so ohne weiteres zu finden. Ich kennen eine ganze Reihe von Gastronomen, die mit ihren Vorstellungen ganz klar auf Kurs „Neue Mitte“ sind, aber Schwierigkeiten haben, das geeignete Personal zu finden. Ältere Köche kommen of aus einer zu traditionell-bürgerlichen Küche, und jüngere sind kaum in der Lage, traditionelle Rezepturen so zu optimieren, dass sich der genannte Effekt bei den Gästen einstellt. „Gourmetköche gibt es wie Sand am Meer“, sage mir dazu einmal ein Hotelier, „aber Köche, die alles beherrschen, um ein solches Konzept zu realisieren, sind mittlerweile gesuchte Spezialisten.“

Ich werde in der nächsten Zeit das Thema „Neue Mitte“ in seinen vielen Schattierungen weiter diskutieren – auch immer an praktischen Beispielen.

7 Gedanken zu „Die Neue Mitte zeichnet sich ab“

  1. Sehr geehrter Herr Dollase,

    vor ca. 10 Jahren wurde ich als Küchenchef von einem Mitarbeiter als Koch der 80er beschimpft.
    Auf die Frage; was den schlecht daran sei ?? Alles Veraltet !!??
    Was ich von meinen Meistern ( Heinz Winkler und Gerhard Gartner) gelernt habe soll nichts wert sein??
    Jeder gut ausgebildete Koch weiß, ohne fundierte Basis wird´s nix
    Darum Bitte ich Sie; dieses Thema weiter zu verfolgen. und die Köche der Mitte suchen
    Vielen DANK

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  2. Es ist ausgesprochen wichtig, auf Restaurants wie Lindners Schwemme hinzuweisen und diese zu besprechen. Sie sind in der Tat leider rar und in Großstädten überhaupt nicht anzutreffen. Ein Konzept für die Zukunft- dies soll durch die Bezeichnung „Neue Mitte“ wohl angedeutet werden- zeichnet sich hier indes, zumindest in der Weise wie sie weiter unten beschrieben wurde, nicht ab. Die junge kulinarisch interessierte Generation legt aufgrund ethischer aber auch ernährungsphysiologischer Erwägungen mehrheitlich einen deutlich stärkeren Akzent auf eine leichtere, fleischreduzierte Küche wie sie beispielsweise im Manfreds, dem Zweitrestaurant vom Relae, angeboten wird. Dass dies in keinerlei Widerspruch zu einem sinnlichen kulinarischen Erlebnis stehen muss, ist längst klar. Wenn allerdings wie hier die 80er und 90er Jahre Gerichte mit ihren cremigen Saucen ins Spiel gebracht werden, wird mein assoziativer Kontext dann doch eher in Richtung „Küche des alten weißen Mannes“ als Richtung „neue Mitte“ aktiviert…

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  3. ob mit dem begriff der kulinarischen „neuen mitte“ tatsächlich plausibel definiert wird, mag dahingestellt sein. aber die thesen, die dollase aufmacht, sind sehr wohl plausibel, wenn auch manchmal sehr anspruchsvoll (um nicht zu sagen: sprachlich hochtrabend), formuliert und einer diskussion wert. für mich, und viele spitzenköche, die ich kenne, ist sowohl „gourmet“ als auch „fine dining“ mittlerweile mit einem gedanklichen mangel (sprich: hemmschwelle) behaftet, so dass ein nachvollziehbarer begriff für alle beteiligten (gäste, gastronomen und köche) schon ein segen wäre, um gutes essen wieder salonfähig für alle zu machen bzw. mehr gäste an solches heranzuführen. ich kenne einen spitzenkoch, der lässt „gourmet“ längst links liegen und spricht von „cuisine leger“. das ist auch die richtung, in die ich denke. und so etwas findet man oft auch dort, wo man es nicht vermuten würde. die sogenannte „zweite kulinarische reihe“, abseits von kulinarischen meriten, hat in dieser beziehung im detail schon beachtliches potenzial. und nicht zu vergessen ist der übergeordnete begriff an sich auch überflüssig, wenn man den geschmack des gastes trifft und mit vermeintlich einfach mitteln, aber auf der grundlage soliden handwerks, wie dollase sagt, eine mischung verschiedenster genusserlebnisse schafft. in diesem sinn: mut zur „neuen mitte“.

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    • Die „Kulinarische Neue Mitte“! Ich liebe diesen Begriff. Es ist nicht wichtig ob er sich im Augenblick „plausibel“ definiert. Wichtig ist, dass die Diskussion angeschoben wird, dass man nicht immer zum Italiener oder Griechen zum Essen muss, wenn man mal „bodenständiges“ essen will. Franz Klaus Josef Keller führt in seiner Adlerwirtschaft in Hattenheim in seiner Küche und das fort, was sein Vater Franz schon Jahrzehnte zuvor praktiziert hat: „Vom Einfachen das Beste“ sowohl vom Produkt wie auch von der Zubereitung. Lasst uns die kulinarische Mitte suchen und finden!

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    • Lieber Rudolf, es gibt solche und solche Brauhausküchen. Ich kenne Brauhäuser in ganz Deutschland. Sie sind sehr unterschiedlich – selbst bei ganz ähnlichen Gerichten. Gruß JD

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