„Disfrutar“: Ferran Adriàs Erben mit ihrem ersten Großwerk

Es konnte nicht verwundern, dass das „Disfrutar“ in Barcelona in den aktuellen „50Best“ auf Platz 5 vorgerückt ist. Und weil der Modus dieses Rankings ja immer vorsieht, dass die Nummer 1 nicht mehr antritt, stehen die Chancen nicht schlecht, dass Oriol Castro, Eduard Xatruch und Mateu Casanas in absehbarer Zeit ebenfalls zur Nummer 1 gekürt werden. Hier erst einmal der Anlass für diesen Text. Es ist das erste Großwerk des Trios, das gerade eben erschienen ist:

Oriol Castro, Eduard Xatruch, Mateu Casanas: Disfrutar, Vol. I. Abalon Books, Barcelona 2021. Zwei großformatige Bände im Schuber. Band 1: Disfrutar, ganzleinen, 200 S. Band 2: Disfrutar. Catalogue 2014 – 2017, Ordner, ganzleinen, 350 S. 175 Euro (in englischer Sprache)

Vorgeschichte:
Die drei Köche gehörten zu der mittlerweile berühmten Kernmannschaft von Ferran Adrià in der Hochzeit seiner Kreativität, also zu einer Zeit, wo die kulinarische Welt (und nicht nur die…) jedes Jahr darauf wartete, was ihm für die neue Saison wieder eingefallen war. Die Organisationsform war damals so, dass eine Kernmannschaft von etwa 6 – 8 Köchen (die Souschefs im „El Bulli“) nach Schließung des Restaurants im Herbst nach Barcelona umzog um dort im „El Bulli Taller“, dem berühmten Kreativlabor, weiter zu arbeiten. Ich war u.a. einmal dort, um für ZDF-Aspekte zusammen mit Wolfgang Herles einen Film über die Arbeit dort zu machen. Man muss sich das ungefähr so vorstellen: die grundsätzliche Vorgabe, die Idee stammte meist von Ferran oder Albert Adrià. Sie wurde dann mit den Sous-Chefs diskutiert, die dann gemeinsam an Vorschlägen zu Umsetzung arbeiteten. Die Lösungen wurden wieder mit Ferran diskutiert usw. usf., es wurde probiert, degustiert und vor allem immer dokumentiert. Jeder der Gruppe hatte einen Platz mit einem Laptop und notierte Alles und Jedes. Wer am Ende des Tages der eigentliche Urheber war, blieb ein wenig verschwommen. Es war Teamwork mit einem (oder zwei) Masterminds. Ferran war meist ebenfalls in den Räumen, aber eben auch immer mit anderen Dingen beschäftigt.

Nach Ende des „El Bulli“ am 30.7.2011 haben Castro, Xatruch und Casanas erst einmal im nahen Cadaqués das „Compartir“ eröffnet, das mehr regional und traditionell orientiert war und ist. Im Dezember 2014 wurde dann in Barcelona das hochmoderne „Disfrutar“ eröffnet, und zwar explizit als ein Restaurant, in dem die drei das auf ihre Art fortsetzen wollten, was sie im „El Bulli“ erfahren haben. Das Restaurant wurde schnell bekannt und steigt seit Jahren in den „50 Best“ immer weiter auf.

Für das Buch hat man etwas übernommen, das bei der Arbeit von Ferran Adrià immer eine sehr große Rolle gespielt hat, nämlich minutiöse Planung und Dokumentation der Arbeit, eine präzise Organisation von Kreativität, die alles andere als „schlampig“ ist und mit den weit verbreiteten Klischees von chaotischen Genies überhaupt nichts zu tun hat. Ein Vergleich, der eher greift, wäre der mit Kreativbüros aller Art. Dass man zu dritt ist, ist natürlich eine ganz besondere Stärke und vielleicht eine Anregung für die Zukunft. Noch – und das sollte man ganz dick betonen – arbeiten viele Spitzenköche zwar in gewisser Weise im Team, haben aber gerade die kreative Abteilung bei weitem nicht so organisiert, dass sich wirklich zuverlässig Neuartiges ergibt. Das wird sich ändern und muss sich für einen ganz bestimmten Typus von Küche auch ändern. Man braucht ein Kreativteam – und das möglicherweise ganz anders zusammengesetzt, als das heute der Fall ist.

Das Buch
Der schmalere Band beschreibt in alle Details die Entstehung von „Disfrutar“. Dabei wird deutlich, dass das Trio – wiederum ganz ähnlich wie Ferran Adrià – Nichts dem Zufall überlässt. Man erfährt etwas über die Gründung des „Compartir“ in Cadaques und die ersten Ideen zum „Disfrutar“. Alles ist bebildert und insofern keine trockene Geschichte, sondern ein anschaulicher Prozess. Es geht weiter mit den Räumen und dem innenarchitektonischen Konzept. Es folgt das Team, darunter auch Listen absolut aller Mitarbeiter, die in dem Zeitraum 2014 – 2017 im „Disfrutar“ gearbeitet haben – auch das eine ein typische Aktion in der spanischen Avantgarde. Es folgt der Service und das, was man an speziellen Aktionen am Tisch geplant und gemacht hat, dann der Wein und andere Getränke und im längsten Kapitel, das „gastronomische Angebot“, unterteilt in Entwicklung, Produkte, Techniken und Konzepte, Reihen von Gerichten, Einflüsse und schließlich Geschirr und andere Utensilien im Service. Den Abschluß bildet das Kapitel „Learning, Sharing, Enjoying“, in dem es u.a. auch um Kongresse, Reisen und die Rezeption der „Disfrutar“ – Küche geht, also um die Entwicklung der Bewertungen in den wichtigsten Medien weltweit. Das Alles ist nicht zu weitläufig beschrieben, verdichtet sich aber auch immer wieder in kleingedruckten Übersichten zu den Aktivitäten. Wie gesagt: das hat man von Ferran Adrià übernommen.

Der große Ringhefter ist den Rezepten gewidmet, unterteilt in Katalog 2014 – 2015, 2016 und 2017. Auch hier gibt es immer wieder diverse Übersichten und Listen. Im Prinzip ist der Ordner von der Aufmachung her aber ein konventionelles Rezeptbuch. Was sich kulinarisch dort ausbreitet, ist so etwas wie ein massives Statement für die Avantgarde. Anders als im „El Bulli“ stehen aber nicht Forschung und Experiment im Voradergrund, sondern ein „kompletteres“ Essen. Die Wirksamkeit der Küche im „Disfrutar“ (im traditionellen Sinne) erhöht sich deutlich, weil das Trio einerseits über den ganzen Fundus an avantgardistischen Kochtechniken verfügt, andererseits aber auch immer wieder Elemente hat, die eine gewisse Nähe zum Esser herstellen. Der assoziative Kontext wird also auf verschiedenen Ebenen bemüht. Vielleicht hat man deshalb auch das Bild von „Unsere Macaroni Carbonara“ doppelseitig abgedruckt. Das Gericht sieht – sagen wir: vergleichsweise konventionell aus, besteht aber aus einem Fond von Schinken vom Iberico-Schwein. Sodann – durchsichtige – Macaroni aus einem Gelee von diesem Fond. Dazu ein heißer Carbonara-Schaum, geräucherte Schinkenwürfel, Schinkenbutter, Parmesan-Würfel und eingedicktes Eigelb.

Die Bandbreite der Rezepte ist sehr groß. Es gibt Gemüse-Sashimi, Laksa vom Hasen oder eine Art Beef-Carpaccio mit Royale vom Rindermark und Trüffeln. Natürlich kann man die Kombination von eher klassischen Aromen und avantgardistischer Technik auch in Extreme treiben – etwa beim in Lehm gebackenen Ei mit Lachsrogen und Seeigel. Es gibt trinkbare Kokos- und Sake-Spaghetti oder minimalistische Kompositionen wie den French Toast von der Wachtel oder „Warm-kalter Caprese-Salat“ in eine ganz schmalen, länglichen Schale, dekonstruiert und quasi zum Trinken. Man geht kreuz und quer und wird also nie eingeengt-dogmatisch, sondern – das ein wenig wie bei Roca – immer wieder neu inspiriert, um dann die Ideen ohne lange stilistische Überlegungen umzusetzen. Diese Freiheit spürt man in dem ganzen Buch, und es ist ja erst das Werkverzeichnis bis 2017 und nicht bis 2021. Für den mitteleuropäischen Betrachter dürfte das Alles weitgehend sehr modern wirken, was wiederum seine Gründe hat. Die spanische Avantgarde hat nicht bei Adrià halt gemacht, sondern ist weitergegangen. Während der Meister selber immer die Novitäten suchte, haben die Köche im Lande erkannt, dass diese Forschung eine Unmenge von Material liefert, das man erst einmal in einer gewissen Breite anwenden muss. Man hat Adrià oft vorgeworfen, er mache kein „richtiges Essen“. Dieses Trio und eine ganze Anzahl der besten spanischen Köche machen „richtiges“ Essen, das gleichwohl um etliche Jahre vor der Konkurrenz zu liegen scheint. Bei uns gibt es von dieser modernen Art der Auseinandersetzung mit den Traditionen fast nichts, vielleicht auch deshalb, weil man in andere Richtungen geschielt und die Spanier ein wenig aus den Augen verloren hat.

Fazit
Das Buch ist trotz seines Preises ein „Must Have“ für die Höchstinteressierten. Es gibt auf jeder Seite Hochinteressantes oder völlig Neuartiges (vor allem in der Aromen-Kombinatorik), das aber wirklich etwas für Spezialisten ist, die schon seit vielen Jahren die Kochkunst immer präzise verfolgen. Man sollte als Leser schon ein gerütteltes Maß an Kenntnissen der vielen neuen Kochtechniken haben, und als Esser einen Kopf, der nicht durch Einschränkungen hier und Einschränkungen da blockiert ist. Für Köche gilt zusätzlich die Inspiration, wie man ein Restaurant und seine Arbeit strukturiert und durchdenkt und vor allem mit welcher Passion. Als Team von mehreren Köchen zu arbeiten (ein wenig wie eine Band), habe ich immer wieder als eine wichtige Option für die Zukunft bezeichnet.

Das Buch bekommt natürlich 3 grüne BBB

Fotos © Francesc Guillamet / Abalon Books

Schreibe einen Kommentar