Jan Hartwig. Analyse aktueller Gerichte im „JAN“, Frühjahr 2024, Teil III

Die Analysen von „Oeuf en gélée“ oder der „Pâté en croûte“ in den Folgen I und II konnten auf eine lange Geschichte dieser Gerichte verweisen, und – damit verbunden – auch auf eine zumindest beträchtliche Geschichte von Bearbeitungen im Gourmetbereich. Außerdem sind sie auch insofern typisch französische Gerichte, als sie die Veredelung mit Foie Gras und Trüffel bestens vertragen. Das hat Tradition, und zwar schon seit Jahrhunderten und nicht erst bis zu den Spitzenköchinnen aus dem Lyonnaiser Raum und zum Beispiel ihren Poulets „en demi-deuil“ – also mit Trüffelscheiben unter der Haut.

Mit den beiden Gerichten dieser Folge geht es in sehr viel unbekanntere Gefilde. Natürlich hat man in Deutschland schon vor Jahrzehnten deutsche Traditionsgerichte „veredelt“, dies aber oft mehr durch eine konsequente Bearbeitung im Stil der Spitzenküche der Zeit. Mit etwas Schäumchen hier und Schäumchen da und wenig von dem rustikalen Ausgangsprodukt bekommt man alles irgendwie „hin“. Cremige Champagnerkutteln zum Beispiel können sehr gut schmecken, entfernen sich aber oft sehr weit von der Ausgangsidee – sowohl im schwäbischen wie im badischen Fach. Man umgeht mit solchen Fassungen dann allerdings einen beträchtlichen Teil des assoziativen Kontextes: „nach Kutteln“ schmeckt so etwas kaum. Es ist eben eher eine Möglichkeit, mit Kutteln auch in der feinen Küche zu arbeiten – wie zum Beispiel auch die Kombination von Rührei und Hirn, bei der in der Regel kein Mensch das Hirn herausschmeckt.

Jan Hartwig will Beides: den authentischen Touch und die Finesse, wobei er mit seinem riesigen Fundus von Techniken und Zutaten die Wahl zwischen ganz unterschiedlichen Ansätzen hat und unterschiedlichen Punkten, an denen Finesse ansetzt und sichtbar wird. Es geht eben nicht nur um die Produktqualität und ihre Zubereitung/Garung, sondern auch um die Aromatisierung, die Kombinatorik und mit ihr verbunden die sensorische Struktur. „Das Produkt ist der Star“, sagte man früher (und oft auch noch heute). Das ist richtig, ohne exzellente Produktqualität geht gar nichts. Aber heute, nach allem, was man über die Struktur hervorragender Gerichte weiß, ist man weiter und weiß, dass man viele Dinge aus der Geschichte der Kochkunst auch noch weiter verbessern kann, oder – um es ganz genau zu bezeichnen – noch weiter entwickeln kann. Hartwig zum Beispiel schafft immer wieder Geschmacksbilder, die sich aus einer Vielzahl von Details zusammensetzen. Das im „alten“ Sinne überragende Produkt wird natürlich immer noch und ohne einen Millimeter Abstrich angestrebt. Aber – dann geht es noch eben noch weiter. Und genau das ist es, was seine Arbeit an deutschen Klassikern und/oder traditionellen Geschmacksbildern auszeichnet.

Schliersee Saibling, Wurzelgemüse, Sauerkraut, Dill und Meerrettich

Der Titel dieses Gerichtes signalisiert – ich bitte darauf zu achten, weil so etwas selten ist – keinerlei Spitzenküche, sondern listet ganz normal Produkte auf, die man in dieser Zusammenstellung von vielen traditionellen Gerichten her kennt – vielleicht mit Ausnahme des Sauerkrauts, das aber im Grunde noch ein Stück weiter in Richtung Tradition geht. Der Kopf assoziiert Fisch aus einem Gemüsesud mit den klassischen Fisch-Akkorden Dill und Meerrettich, Dill-Sahne-Sauce und Meerrettichcreme zu Räucherfischen. Aber auch vom Sauerkraut gibt es längst z.B. eine Sauerkraut-Beurre blanc, die entweder über eine Sauerkraut-Infusion geht oder Sauerkrautsaft benutzt. Für mich hat das ähnlich viel Perspektive wie zum Beispiel eine Chateau Chalon-Sauce, bei der Säure und oxydative Komponenten ebenfalls einen faszinierenden Beitrag leisten können. Da gibt es jedenfalls eine Menge an Assoziationen, und nicht nur bei Profis und Gourmets, sondern auch bei „ganz normalen“ Essern. Jan Hartwig hat in seinen sehr offenen Gesprächen in unserer gemeinsamen Dokumentation für das Geschmacksarchiv im Deutschen Archiv der Kulinarik immer wieder darauf hingewiesen, dass er die guten Seiten der bürgerlichen und/oder Traditionsküche sehr zu schätzen weiß, sie auch regelmäßig probiert, aber dann genau so regelmäßig darüber nachzudenken beginnt, dass diese Gerichte und Akkorde noch ein erhebliches Potential haben. Was kann man tun, damit das Spektrum und seine assoziative Ladung erhalten bleibt, aber gleichzeitig eine enorme Optimierung und Verfeinerung erkennbar wird, die den Esser spontan fasziniert?

Ein wichtiges Element ist sicher das Spiel mit mehreren aromatischen Aspekten, ein leicht schillerndes Geschmacksbild, das nicht zu „Entscheidungen“ zwingt, ob denn dieses eine Element nun zu rustikal ist oder nicht, sondern elegant umspielt und den Eindruck von Finesse erzeugt. Hartwig arbeitet – siehe oben – fast immer mit einer ganzen Palette von Aromen, die er in ein Geschmacksbild im wahrsten Sinne des Wortes verwandelt. Die traditionellen Aromen werden nicht wirklich gebrochen, aber eben Teil eines neuen Ganzen, weil der Koch erkannt hat, dass sie Schnittmengen entwickeln, die hochinteressant sind. Hartwig entwickelt ununterbrochen neue Versionen seiner Gerichte und ändert die Karte selbst dann, wenn eine neue schon in der Mache ist.

Mit dieser Fassung hat er seine Prinzipien gleichzeitig zu einer maximalen Finesse wie Süffigkeit gebracht, was genau das Ziel ist: Neues machen, aber von den guten Dingen nichts verlieren. In diesem Falle reicht das Spektrum von einer natürlich makellosen Garung bis zu präzisen Proportionen beim Wurzelgemüse und der Säurebalance der beiden Saucen, die sowohl klassischen Hintergrund wie bodenständig-vegetabile Aspekte bringen. Eine Besonderheit ist beim Sauerkraut zu finden, das weder als Infusion noch cremig-gentrifiziert eingesetzt wird, sondern in einem krossen Schälchen als Sauerkrautcreme, tatsächlich ein Mix aus Creme und noch einigen Sauerkrautfäden, das in jeder Kombination „sitzt“, also zum Teil des Spektrums/der Palette wird ohne irgendwie aus dem Rahmen zu fallen und ohne nicht trotzdem eindeutig Sauerkraut zu bleiben. Das ist ein Kunststück.

Schweinebauch gefüllt mit Weißwurst, Spitzkraut, Galgant, Senfsaat, Steinpetersilie, Sauerkraut und Verjus-Rosinen

„Mit dem Sauerkraut gibt es gar keine Probleme“, sagt Jan Hartwig, „Das kennen selbst die chinesischen Gäste. Und wenn wir das einsetzen, dann ist es etwas, was sie gespannt erwarten, weil es eben so etwas wie ihre Deutschland-Assoziation ist.“ Aber – das ist nicht bei allen traditionellen Produkten aus deutschen Landen so, und insofern muß man auf dem Niveau eines Drei Sterne-Restaurants, das eine beträchtliche Anzahl von ausländischen Gästen hat, sehr sensibel vorgehen – wenn man denn die heimische Küche ins Programm aufnehmen will. Man könnte auch sagen, dass man zur Lösung dieser Anforderung schon einiges an Genialität braucht und seinen eigenen Weg gehen muss. Die Vorbilder für Gerichte, die unsere eigenen Traditionen aufnehmen, weil sie genau so viel Perspektiven wie in anderen Ländern haben und im übrigen auch genau so zahlreich vorhanden sind, sind immer noch wenige. Man bewegt sich in Neuland, man kann auffällig kreativ sein, braucht aber zum Erfolg mehr als normale Anstrengungen.

Und wieder hilft das System, mit dem sich Hartwig den Dingen nähert, das oben erwähnte System der „emanzipierten“ Umspielungen, bei dem die Elemente nicht nur Mittel zum Zweck sind, sondern den wesentlichen Teil ihrer Authentizität behalten, bei dem sie sozusagen kommunikationsfähig bleiben. Der Schweinebauch hat bei Hartwig von seiner China-Version her (der Schweinebauch à la chinoise war im „Atelier“ eines seiner berühmtesten Gerichte) schon viel Tradition. Mit diesem Gericht nähert er sich einem Bereich an, den viele für nicht-spitzenküchenfähig halten, also dem Bereich Schweinshaxe, i.e. Schweinefleisch mit Kruste und als schieres Fleisch, mit Fett und allem, was dazugehört. Die Kruste ist hier noch ein wenig vorsichtig ausgelagert, dafür kommt mit der Weißwurst ein Emblemprodukt der bayerischen Küche dazu, das nun wirklich in der ziselierten Mainstream-Gourmetküche nicht zu finden ist. Die Proportionen signalisieren durchaus „Schweinebauch“, er hat eine Hauptproduktfunktion mit der zusätzlichen Würze einer Weißwurst-Zubereitung. Was dann kommt, ist keine Begleitung des gefüllten Schweinebauches, sondern eine Inszenierung. Die diversen Aromen und Texturen, die quasi ausschließlich ebenfalls aus dem bodenständigen Bereich stammen, sind nicht Begleitung, sondern wie Scheinwerfer in einer Bühnen-Inszenierung, die ja im Endeffekt auch nicht monochrom sind, sondern zusammen eine Kolorierung ergeben, die exzellent aussieht. Man hat hier da ganz klare Möglichkeiten, weil man vom Hauptprodukt mehrere Bissen nehmen kann und über zeitliche unterschiedliche Verläufe zu vielen unterschiedlichen aromatischen Räumlichkeiten kommt. Und – die Farben sind präzise proportioniert und sie müssen präzise proportioniert sein, weil es nie darum gehen soll, Proportionen zu schaffen, die irgendwie banal interpretiert werden könnten. Hier geht es feinstens zu und im Grunde so innovativ und komplex, dass sich wirklich neue Welten rund um unsere traditionelle Küche auftun.

Im Vergleich zu den durchaus genialen Bearbeitungen französischer Klassiker (siehe die Folgen I und II) muss man diesen Bearbeitungen noch zusätzliche Pluspunkte geben, weil sie Neuland betreten, und das in vielerlei Hinsicht. Man kann heute davon ausgehen, dass Jan Hartwig der erste deutsche Koch sein wird, der eine größere Ansammlungen traditioneller Geschmacksbilder auf Drei Sterne-Niveau bringt. Und – auch wenn es extrem schwierig ist – es zeichnet sich ab, dass sein Ansatz auch Fassungen schafft, die international kommunikationsfähig sind. Und dann…dann haben wir sogar eine hochbeachtliche kulturelle Leistung.

 

P.S. Noch eine persönliche Anmerkung. Man kann Hartwig ruhig so loben oder einordnen. Er ist da glücklicherweise so gebaut, dass er so etwas gerne hört, aber nie falsche Schlüsse daraus zieht. Er hat eben diese intrinsische Motivation, die forschen lässt, weil man forschen will und Möglichkeiten sieht. Lob ist dabei Unterstützung, nicht das Ziel.

1 Gedanke zu „Jan Hartwig. Analyse aktueller Gerichte im „JAN“, Frühjahr 2024, Teil III“

  1. Mit traditionellen Geschmacksbildern ist Jan Hartwig aufgewachsen. Als gute Freunde seiner Eltern Kathrin und Michael Hartwig konnten meine Frau und ich seine Entwicklung verfolgen und begleiten, von Kindsbeinen an. Von seinen Eltern hat er diese Eigenschaften, in denen sich Forscherdrang, Liebe fürs Detail und Mut zu Neuem paaren mit Bescheidenheit und Bodenständigkeit. Schon als Heran-wachsender hat er uns in unserem kleinen Kochkreis an die Wand gekocht. Mit großer Freude lese ich daher diese Zeilen und weiß eben auch, dass solche Fähigkeiten eben besonderer Wurzeln bedürfen.

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