Tim Raue: Rezepte aus der Brasserie. Einzigartiger Genuss aus der Brasserie Colette. Callwey-Verlag, München 2020. 208 S., geb., Hardcover, 39,95 Euro

Tim Raue ist nach wie vor auf vielen Kanälen vertreten – auch wenn er sicherlich lange darüber nachgedacht haben dürfte, warum Marco Müller vom „Rutz“ nun der erste Berliner Koch mit drei Michelinsternen ist und nicht er. Aber – es ist eben immer noch ein Unterschied, ob ein paar seiner „Buddies“ aus dem eher rustikal-kulinarischen Bereich kräftig ins Horn blasen oder es ausschließlich um die Qualitäten (und vielleicht auch die Stilistik) seines Gourmetrestaurants geht. – Wie dem auch sei: nun hat er abermals ein neues Buch, dieses Mal rund um die Küche seiner Brasserie Colette (Berlin, München, Konstanz). Auch hier gibt es eine auffällige Konzentration auf die Person „Tim Raue“, die natürlich längst die „Marke Tim Raue“ ist. Das Cover erinnert mit seinen plastischen Blumenstrukturen zwar ein wenig an die Brasserie-Bistro-Ästhetik, lässt aber erst einmal nicht erkennen, dass es sich um die „Brasserie Colette“ handelt. Groß gedruckt ist eben nur der Name des Autors. Auch im Innern – um das Vorwegzunehmen – spielt die Person des Autors bei den Bildern eine beträchtliche Rolle. Dabei fällt allerdings auf, dass große, wilde Porträts wie zu Beginn des Buches mittlerweile doch eher wie „Tim Raue Antiques“ wirken. Die Briten haben diesen „Antiques“-Begriff schon vor vielen Jahren gerne benutzt, um typische Rock’n’Roll-Posen bei vielen Hard-Rockern zu charakterisieren, die sich – auch ohne jede musikalische Notwendigkeit – gerne in solche Intensität suggerierenden Posen werfen…

Nun denn – so ist das eben mit Tim Raue.

Das Buch
Und so beginnt das Buch auch erst einmal mit einem Ausflug nach Paris unter der Überschrift „Neulich in Paris“. Dabei wirken Raue und sein Mitarbeiter nicht unbedingt wie Eingeborene, sondern eher wie Berliner in Paris – wenn Sie wissen, was ich meine… Danach gibt es Texte zum Entstehen der Colette-Idee, zu den Einflüssen und zur Liebe für die traditionelle französische Brasserie-Küche. Je näher man ans Essen kommt, desto besser und entspannter wirkt Raue dabei. Auf Seite 36 beginnt dann der Rezeptteil, der dann auch nicht mehr unterbrochen wird. Dabei wird schnell klar, dass sich Raue zwar an der französischen Brasserie-Küche orientiert, aber keineswegs versucht, den Franzosen sozusagen ihre eigene Küche zu erklären – wie das gerade in letzter Zeit bei diversen Paris-Büchern diverser AutorInnen der Fall ist. Formell geht es also um Klassiker wie die ganze Artischocke, gratinierte Austern, Frittierte Tintenfischringe, Foie Gras natürlich, die Pâté en croûte, Vichyssoise, Bouillabaisse, Moules Frites, Kalbskopf oder Tarte Tatin. Das ganze Programm ist da, wird aber einer Behandlung durch Raue unterworfen, der eher interpretiert als kopiert.

In solchen Fällen geht es immer darum, ob ein Koch überhaupt in der Lage ist, wirklich eigene Fassungen zu kreieren. Voraussetzung für das Gelingen solcher eigentlich recht anspruchsvollen Vorhaben ist immer ein wirklich gutes Verständnis dessen, was man bearbeiten will. Voraussetzung ist natürlich auch, dass man der Meinung ist, die Originale könnten eine solche Interpretation tatsächlich vertragen und das eigene, interpretierte Ergebnis wäre eines, das sinnvoll ist. Genau an dieser Stelle kommt eine große Stärke von Tim Raue zum Tragen. Wie kaum jemals ein anderer Koch in Deutschland ist er in der Lage, zwischen den verschiedenen Registern guter Küche zu wechseln. Ob klassische Haute Cuisine, ob asiatisches Fach, ob Regionalküche oder eben Brasserie-Küche nach französischem Vorbild: ich habe in allen Abteilungen exzellente Gerichte von Raue gegessen – und das eben auch im „Colette“. Raue hat also Geschmack, und kann ihn in ganz unterschiedlichen Bereichen anwenden.

Da gibt es dann eben die Makrele in Form einer „Gelbschwanzmakrele mit Buttermilch, Weizengras und Zucchini“, die „Jakobsmuschel mit Miso und Senf“, eine „Kräutersuppe mit Schneckenbrioche“, eine sehr schön mit diversen aromatischen Details optimierte Vichyssoise, den Coq au Vin als expressives Gebilde mit fortgeschrittener Kochtechnik, die Bresse-Poularde wie eine Mischung aus Petits Pois à la francaise und Birne-Bohne-Speck oder die „Île Flottante“ mit Lemon Curd und Eierliköreis. Manchmal ist es näher am Original, manchmal nur ein wenig variiert. Man merkt jedenfalls sehr genau, wo die Analyse (oder das Bauchgefühl) gewisse Lücken entdeckt und gefüllt hat und wann das Gefühl bestand, dass man das Original vielleicht von den Produkten und der Technik her noch etwas optimieren kann, aber nicht wirklich verändern muss.

Fazit
Wenn der Leser sich entspannt über die nicht unbedingt Überhand nehmenden Inszenierungen des Meisters hinweggesetzt hat, erwartet ihn ein schönes Buch (sehr gute Fotos von Joerg Lehmann) mit viel Liebe und Gefühl für die französische Brasserie-Küche. Es wird völlig klar, dass es – wie hier – ein guter Ansatz ist, wenn man sich durch eine Küche zu Interpretationen gedrängt fühlt und ein schlechter, wenn mal wieder irgendeine AutorIn meint, ihre begrenzte Sicht auf ein Thema abzusondern. Raue hat kulinarisches Format und eine gute Steuerung, die ihn zu sehr guten Arbeiten wie in diesem Buch bringt. Die Frage, ob er sich denn nicht lieber einer Art deutschen Brasserie-Küche widmen sollte, wird er vermutlich in absehbarer Zeit mit Rezepten aus der „Villa Kellermann“ beantworten.

Für dieses inspirierende, Lust auf Kochen und Essen machende, nützliche und empfehlenswerte Buch gibt es 2 grüne BB

Fotos © Joerg Lehmann / Callwey-Verlag

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